Jetzt muss das Internet ein bisschen vergessen lernen: Die Große Kammer des EuGH hat die Rechte von Bürgern im Internetzeitalter gestärkt. In einem Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung der Datenschutzrichtlinie (RL 95/64) wies der EuGH Google an, bestimmte Daten aus den Suchergebnissen zu löschen.
Die Politik ist froh, konservative Kommentatoren jubeln, aber auch kritische Stimmen werden laut. Doch was sind Tenor und Relevanz des Urteils in einer Zeit, in der die Angst vor Google europaweit zum Thema wird?
Zum Hintergrund: Mario Costeja González hatte Beschwerde dagegen erhoben, dass eine Google-Suche nach seinem Namen (‚Namenssuche‘) zu Links auf zwei Artikel aus der Zeitung La Vanguardia aus dem Jahr 1998 führt, in denen unter Nennung seines Namens auf die Zwangsversteigerung eines Grundstücks hingewiesen wird. Die Audiencia Nacional, vor der das Verfahren landete, ersuchte den EuGH um die Klärung der Tragweite des „Rechts auf Vergessen werden“.
Erhebliche Gefahr für Grundrechte
Zunächst bestätigte der EuGH, dass der Suchmaschinenbetreiber der „für die Verarbeitung [von Daten] Verantwortliche“ iSd Art. 2 (d) RL 95/64/EG sei (Abs. 33), zumal Suchmaschinen „maßgeblichen Anteil an der weltweiten Verbreitung personenbezogener Daten“ hätten. Dies gefährde Grundrechte „erheblich“; und deshalb hätten Suchmaschinenbetreiber in ihrem „Verantwortungsbereich im Rahmen [ihrer] Befugnisse und Möglichkeiten“ dafür zu sorgen, dass grundrechtliche Garantien ihre volle Wirksamkeit entfalten können (Abs. 38).
Hinsichtlich der räumlichen Anwendbarkeit der RL betonte der EuGH, dass der Unionsgesetzgeber aus Schutzgründen einen besonders „weiten räumlichen Anwendungsbereich“ vorgesehen habe (Abs. 54) und daher Verarbeitungen von personenbezogener Daten „im Rahmen der Tätigkeiten“ einer Niederlassung nicht dadurch ausgeschlossen werden können, dass die Verarbeitung selbst außerhalb des Territoriums (etwa in den USA) durchgeführt werde. Das ist eine wichtige Klarstellung.
Link-Löschpflicht für Google
Die zentrale Kontroverse lag allerdings im Umfang der Verantwortlichkeit des Suchmaschinenbetreibers, insbesondere in der Frage, ob Suchmaschinenbetreiber dazu verpflichtet werden können, Links zu Webseiten Dritter mit rechtmäßig veröffentlichten Informationen zu einer bestimmten Person zu entfernen. (Abs. 62).
Der EuGH betont, dass die RL 95/64/EG im Lichte der Grundrechte auszulegen sei und insbesondere Art. 7 (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art. 8 GRC (Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten) zu beachten seien (Abs. 68 f.).
Ein angemessener Ausgleich zwischen dem „berechtigte[n] Interesse von potenziell am Zugang zu der Information interessierten Internetnutzern“ und den Grundrechten der betroffenen Person aus den Art. 7 und 8 der Charta zu finden. „[I]m Allgemeinen“ würde dieser Ausgleich zugunsten der gesuchten Person ausgehen, in „besonders gelagerten Fällen“ könne er aber „u.a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt“ variieren (Abs. 81).
Das Fazit des EuGH daher: Suchmaschinenbetreiber könnten von Datenschutzbehörden angewiesen werden, aus der Ergebnisliste von Namenssuchen Links zu Seiten von Dritten mit Informationen über diese Person zu entfernen (Abs. 82, 88).
Ein Recht auf Vergessenwerden?
Hinsichtlich des Rechts auf Vergessen werden verweist der EuGH darauf, dass die rechtmäßige Verarbeitung sachlich richtiger Daten durch Zeitablauf unrechtmäßig werden könne, wenn der Zweck wegfalle oder in Anbetracht der verstrichenen Zeit die Erheblichkeit der Daten für den Ursprungszweck sinke (Abs. 93).
Hier sei auch eine Einzelfallprüfung vorzunehmen: Wenn die Informationen „in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls“ nicht mehr zweckerheblich verarbeitet wird, müssen „die betreffenden Informationen und Links der Ergebnisliste gelöscht werden“ (Abs. 94). Dies sei ein Recht der betroffenen Person, wobei ein Schadensnachweis nicht nötig sei (Abs. 96).
Verabsolutiert dürfe das Recht nicht werden: Es sei abzuwägen gegenüber den wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbetreibers und „dem Interesse der breiten Öffentlichkeit daran, die Information bei einer anhand des Namens der betroffenen Person durchgeführten Suche zu finden“. Solch eine Situation werde aber die Ausnahme sein, denn der EuGH verlangt „besondere[] Gründe[]“, wie die „Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben“, die den Schluss zulassen, dass ein Eingriff in die Grundrechte dieser Person durch ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit an derselben gerechtfertigt sei (Abs. 97).
Im Anlassfall sei die Information sensibel, die Veröffentlichung liege 16 Jahre zurück und es lägen keine besonderen Gründen vor, die ein überwiegendes Interesse der Öffentlichkeit rechtfertigten (Abs. 98). Daher müsse Google den Link löschen.
Überraschende Wende
Dieses Ergebnis überraschte, weil noch die Schlussanträge des Generanwalts Niilo Jääskinen vom 25.6.2013 zu einem gegenteiligen Ergebnis gekommen waren. Er wies ein allgemeines Recht auf Vergessenwerden mit starken Worten („käme einer Geschichtsverfälschung gleich“) zurück (Abs. 108 und 129). Vielmehr habe der Internetnutzer ein Recht auf Zugang zu dieser Information: Dieser „mache aktiv von seinem Recht auf Empfang von Informationen über die betroffene Person aus öffentlichen Quellen Gebrauch“ (Abs. 130).
In der Tat stellt die Kollision verschiedener Grundrechtspositionen hinsichtlich des Zugangs zu Informationen gerade im Internet eine Herausforderung dar. Die Konstruktion historischer Wahrheiten auf Grundlage einer gesellschaftlichen und privaten Selektion aus einem Speicher der Erinnerungen verlangt zumindest einmal einen einigermaßen unverfälschten Speicher. Wie kann man sich sonst individuell und kollektiv Positionieren in Zeit, Raum und Kultur? Allerdings übersehen GA Jääskinen und Kritiker des Urteils, dass ja nicht Geschichtsfälschung betrieben wird. Auch weiterhin kann jeder Interessierte im Archiv von La Vanguardia sämtliche Zeitungsseiten bis ins 19. Jahrhundert konsultieren. Die Löschung des Links bedeutet bloß, dass die Verknüpfung zum Namen nicht mehr so leicht fällt. Dies entspricht durchaus der sozialisierenden Funktion des Vergessens, die ja auch teils strafrechtlich bewehrt ist.
Die Entscheidung des EuGH, die im Ergebnis stimmig ist und der gerade in Hinblick auf die wachsende Bedeutung des Grundrechtsschutzes im Internet zuzustimmen ist, verbleibt teilweise kryptisch. Der Kriterienkatalog für Gegenausnahmen von der Löschpflicht ist sehr schemenhaft. Man vermisst auch klare Äußerungen zur grundrechtlichen Position der Internetdiensteanbieter, die zuletzt vom EGMR in Delfi unter Beschuss genommen wurden.
Doch nur die Zeit wird zeigen, ob das Urteil von Individuen missbraucht wird, um ihr ihr Auftreten in Google zu optimieren. Das wäre für Suchmaschinen problematisch. Indes hat auch das Autocomplete–Urteil des BGH zu keinem Ansturm von Anträgen geführt. Ein „Albtraum für Google“, wie Die Welt titelt, ist das Urteil also nicht.
Ganz so schnell arbeitet Google übrigens nicht. Noch am Tag nach dem Urteil um 12 Uhr lieferte eine Namenssuche nach „Mario Costeja Gonzalez“ über Google Search den Link auf die inkriminierte Seite im La Vanguardia Archiv als vierten Treffer.
Aber eines wird Herrn Costeja freuen: Der erste Treffer ist nunmehr das Urteil, das ihm Recht gibt. Doch leider – und das eine traurige Ironie – wird in diesem Urteil wieder erwähnt, dass gegen ihn eine Zwangsversteigerung durchgeführt wurde. Und diesmal wird auf ein aktuelles Dokument verlinkt, das sich auf eine Person bezieht, die im öffentlichen Interesse steht. Wie so oft im Internet, erwies sich im Ergebnis der Versuch, Informationen zu löschen, zumindest für den Antragsteller als Eigentor.