Etwas Erwartungsmanagement zum OMT-Verfahren
von DANIEL BENRATH
Im Rahmen des OMT-Verfahrens ist Ruhe in die Diskussion um das Verhältnis von BVerfG und EuGH eingekehrt. Angesichts mitunter geradezu apokalyptischer wie auch messianischer Erwartungen eines offenen Bruchs ist damit zu rechnen, dass diese Diskussion wieder Fahrt aufnehmen wird. Wesentlich für die Erwartungen zum weiteren Geschehen ist das Verständnis des Beschlusses, mit dem das BVerfG dem EuGH die Frage vorlegte, ob die EZB mit ihrem OMT-Beschluss ihr Mandat überschreite. Ausgehend von unionsprozessrechtlichen Vorgaben wird hier für eine „entspanntere“ Lesart plädiert.
Rechtsprechungsexegese ist stets heikel; gleichwohl ist eine verstehende Auseinandersetzung mit Rechtsprechungstexten gerade herausgehobener Gerichte geboten, um der Rolle der Rechtsprechung als Anker und Stabilisator des Diskurses gerecht zu werden. Immer wieder kommt es zu Verwirrungen in Praxis und Wissenschaft hinsichtlich bestimmter Rechtsprechungslinien, die dann zu Fehlern in Ausbildung, Theorienbildung und Rezeption durch Verwaltung und untere Gerichte führen. Im Rahmen des OMT-Verfahrens sind gerade praktische Folgen möglicher Verwirrungen zwar begrenzt, zumal das BVerfG selbst noch Stellung nehmen wird. Dennoch erscheint es sinnvoll, in einer ruhigen Phase dieser bisweilen hitzigen Debatte deren Rahmen rational abzustecken.
Zum OMT-Verfahren hat sich im Schrifttum und gerade auch außerhalb neben eher unaufgeregten Beiträgen eine in Teilen angespannte Diskussion mit starken Positionen entwickelt. Anstelle dieser werden hier nur zwei (durchaus plausible) Lesarten des Vorlagebeschlusses, die die Diskussion prägen, vor- und gegenübergestellt. Die erste Lesart versteht den Vorlagebeschluss als „Ultimatum“ des BVerfG an den EuGH, der eigenen Rechtsauslegung zu folgen oder einen Konflikt der Gerichte zu riskieren. Die zweite Lesart versteht den Vorlagebeschluss als im Wesentlichen unspektakuläre Anforderung einer Unionsrechtsauslegung durch den EuGH, die in bestimmten Punkten über eine einfache Vorlage hinausgeht, ohne dass dies ihr ein über eine „qualifizierte Vorlage“ hinausgehendes besonderes Gepräge geben würde.
Ultimatum
Nach der Lesart als Ultimatum hat der Zweite Senat die rechtlichen Fragen zur Auslegung des Unionsrechts dem EuGH nur vorgelegt, um diesem im Rahmen des oft beschworenen Kooperationsverhältnisses der Gerichte die Gelegenheit zu geben, die Unionsrechtswidrigkeit des Beschlusses der EZB selbst festzustellen. Demnach hat das BVerfG die rechtliche Würdigung des Beschlusses als offensichtliche Kompetenzüberschreitung bereits vorweggenommen und jede abweichende Würdigung des EuGH muss durch das BVerfG aus bundesverfassungsrechtlicher Perspektive als ihrerseits kompetenzüberschreitende Bestätigung (ultra vires) der Kompetenzüberschreitung durch die EZB gewertet werden. Nach der Entscheidung des EuGH droht nach dieser Lesart nun ein offener Konflikt der Gerichte.
Zwar steht das Verständnis als Ultimatum in einem Spannungsverhältnis zum wiederholten Verweis auf die Maßgeblichkeit der unionsrechtlichen Würdigung des EuGH (etwa Rn. 27, 39, 55, 58). Dieser Verweis lässt sich aber auch als kooperatives Angebot an den EuGH verstehen. Demnach gibt das BVerfG in seiner konzilianten Formulierung dem EuGH als gleichrangiges Gericht die Gelegenheit, in einem Dialog der Gerichte es von einer anderen rechtlichen Würdigung zu überzeugen. Das Ultimatum würde abgeschwächt. Eine andere, schärfere (und weniger überzeugende) Lesart sieht in dem wiederholten Verweis auf die Maßgeblichkeit des EuGH eine rhetorische Vorbereitung des eigenen Rückzugs. Demnach stellt das BVerfG dem EuGH zwar ein Ultimatum, will es aber im Ernstfall aus politischen Gründen nicht auf einen systemsprengenden Konflikt ankommen lassen. Diese verschärfte Lesart unterstellt dem BVerfG nicht weniger, als ein bloß brüllender Papiertiger zu sein (und mag darin politische Weisheit erkennen oder den vorweggenommenen Verrat am GG kritisieren).
Qualifizierte Vorlage
Liest man den Vorlagebeschluss im Licht der unionsrechtlichen Voraussetzungen eines Vorabentscheidungsverfahrens, eröffnet sich eine Lesart, die von einem grundsätzlichen Befolgungswillen des vorlegenden BVerfG ausgeht und überschießende Passagen mit dem Selbstverständnis des BVerfG erklärt.
Nach Art. 267 AEUV können (oder müssen) Fragen zur Auslegung und Gültigkeit von Unionsrecht dem EuGH vorgelegt werden, wenn das vorlegende Gericht die Beantwortung der Frage für erforderlich zur Entscheidung seines Falles hält. Das BVerfG muss (auch wenn der EuGH den nationalen Gerichten hierbei im Rahmen seiner Zulässigkeitsprüfung einen großen Spielraum lässt) begründen, warum es auf die Beantwortung der unionsrechtlichen Frage ankommt. Dies wiederum ist allein eine Frage des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechts. Das BVerfG argumentiert insofern konsequent in den Bahnen der eigenen Rechtsprechung (unabhängig von deren Überzeugungskraft). Demnach ist nicht jede Kompetenzüberschreitung durch die Organe der Union verfassungsrechtlich relevant; nur wenn sie qualifiziert ist, kann die Nichtanwendbarkeit der Unionsakte aus bundesverfassungsrechtlichen Gründen geboten sein.
Die qualifizierenden Voraussetzungen fasst der Zweite Senat für den Fall als Offensichtlichkeit und strukturelle Bedeutsamkeit zusammen (Rn. 22 ff.). Eine Kompetenzüberschreitung kann demnach nur dann im nationalen Verfahren relevant sein, wenn sie auch offensichtlich ist. Fehlt es an der Offensichtlichkeit, ist eine Entscheidung über das Bestehen der Kompetenzüberschreitung nicht erforderlich und eine Vorlage ausgeschlossen. Die Offensichtlichkeit aber, deren Verwendung in diesem Kontext vom natürlichen Sprachgebrauch abweicht, ist Kriterium allein des bundesdeutschen Verfassungsrechts. Das BVerfG muss diese Offensichtlichkeit also feststellen, wenn es eine mögliche Mandatsverletzung, die es selbst für gegeben hält, vom EuGH überprüfen lässt. Dass es dies tut, kann dann aber nicht (für sich) die Bereitschaft in Frage stellen, der Vorabentscheidung des EuGH auch zu folgen.
Es mag zwar alltagsweltlich unlogisch erscheinen, die Offensichtlichkeit einer Rechtsverletzung festzustellen und die Rechtsverletzung selbst offen zu lassen, erscheint doch das Bestehen einer Verletzung als Vorfrage ihrer Offensichtlichkeit, genau dies entspricht aber der Logik der Vorlage und widerspricht auch nicht dem Gehalt des Offensichtlichkeitskriteriums. Auch der Zweite Senat bemüht sich, Offensichtlichkeit und strukturelle Bedeutsamkeit der (potentiellen) Kompetenzüberschreitung durch den OMT-Beschluss der EZB (Rn. 38 ff.) abstrakt und unabhängig von der Kompetenzüberschreitung selbst, die er erst später anspricht (Rn. 55 ff.), zu diskutieren. Der Vorlagebeschluss lässt sich also ohne weiteres auch so lesen, dass das BVerfG lediglich die Voraussetzungen des Vorlageverfahrens beachten, nicht aber die Vorabentscheidung des EuGH vorwegnehmen will. Insofern ist der Vorlagebeschluss gerade in seinen als mit am aggressivsten wahrgenommenen Teilen eine einfache Vorlage.
Der Zweite Senat geht in seinem Beschluss jedoch hierüber hinaus.
Zum einen diskutiert er selbst noch eingehend die eigene Position zur Kompetenzüberschreitung durch die EZB (Rn. 55 ff.). Dass Gerichte eine Vorlage mit einem eigenen Auslegungsvorschlag verbinden, ist jedoch nicht unüblich und entspricht, gerade auch in dieser Ausführlichkeit, dem Selbstverständnis Karlsruhes. Gleichwohl wird auch hier die Rolle des EuGH als letztlich maßgebliche Auslegungsinstanz betont. Dies gilt auch für die extensive Diskussion möglicher unionsrechtskonformer Auslegungen (die auch vom EuGH – dogmatisch überzeugender – aufgegriffen wird, wenn er seinen Überlegungen ein bestimmtes Verständnis des EZB-Beschlusses zu Grunde legt).
Zum anderen verweist der Zweite Senat auf die Möglichkeit einer weiteren Prüfung im Hinblick auf die Identitätskontrolle (Rn. 27, 102 f.). Auch dieser Verweis entspricht der bisherigen Linie der Rechtsprechung, in der auf die Möglichkeit und Bedeutung der Identitätskontrolle hingewiesen wird, ohne dass hierbei ein konkreter Konflikt mit der Unionsrechtsordnung oder dem EuGH nahegelegt würde. Diese „Reserve“ entspricht nach dem Verständnis des BVerfG auch durchaus der Logik des Vorabentscheidungsverfahrens, da eine mögliche Verletzung der Verfassungsidentität von der Auslegung durch den EuGH abhängen soll und nicht die Erforderlichkeit der Vorlage in Frage stellt. Bemerkenswert erscheint, dass das BVerfG auf eigenständige Ausführungen zu einer möglichen Kompetenzüberschreitung durch den EuGH, die ebenfalls mit der bisherigen Rechtsprechungslinie vereinbar wären, verzichtet; insofern ist gerade kein besonders konfrontativer Tonfall zu erkennen.
Einordnung
Die Lesart als „qualifizierte Vorlage“ erscheint insgesamt überzeugender, da sie mit den bisherigen Rechtsprechungslinien, der Struktur des Beschlusses und dem rechtlichen Kontext besser in Einklang zu bringen ist. Sie lässt sich zwanglos mit dem Vorlagebeschluss in Einklang bringen. In der Diskussion zum Vorlagebeschluss wird allerdings die unglückliche Wahl mancher Formulierungen deutlich; insbesondere der Verweis auf die Offensichtlichkeit der Kompetenzüberschreitung (im Kontext staatshaftungsrechtlicher Kategorien des EuGH) verdunkelt die normativen Grundlagen und die Prüfung des „qualifizierten Verstoßes“ und führt leicht zu Verwirrungen. Das BVerfG selbst hat im Beschluss klar zum Ausdruck gebracht, dass es der Vorabentscheidung grundsätzlich folgen will. Auch wenn es möglich ist, den Vorlagebeschluss als Ultimatum zu lesen, erscheint die weniger aufgeregte Lesart als qualifizierte Vorlage, in der das BVerfG versucht hat, ausgehend von der eigenen Rechtsauffassung eine zulässige Vorlage zu formulieren, deutlich konsequenter.
Welche Lesart die richtige ist, wird der zweite Senat selbst aufklären. Die sichere Erwartung eines offenen Bruchs geht aber am Vorlagebeschluss vorbei. Ein Verständnis der Logik des Vorabentscheidungsverfahrens erweist sich insofern als zielführender als ein Verständnis der Gerichte als strategische Akteure.