von TIM NAU
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 8.11.2022 (Rs. C-873/19) entschieden, dass es Umweltvereinigungen nicht verwehrt werden darf, Verwaltungsentscheidungen gerichtlich anzugreifen, die (potenziell) gegen Vorschriften des Unionsumweltrechts verstoßen. Die deutsche Umsetzung der Aarhus-Konvention im Umweltrechtsbehelfsgesetz (UmwRG) greift somit viel zu kurz und ist völkerrechts- und unionsrechtswidrig. Die erneute Klarstellung durch den EuGH ist zu begrüßen und war zu erwarten. Umweltverbände gehen gestärkt daraus hervor. Zu einer grenzenlosen Umweltpopularklage führt das Urteil nicht.
Hintergrund
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hatte gegen Typgenehmigungen für Kraftfahrzeuge i.S.d. Art. 5 Abs. 2 lit. a) der VO (EG) Nr. 715/2007 geklagt, die durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) erteilt worden waren. Die Software-Updates, mit denen die Abgasreinigung einiger Dieselmotoren bei niedrigen Außentemperaturen abgeschaltet wird, hielt die DUH für rechtswidrig – was der EuGH zuvor bereits erkannt hatte und jetzt erneut bestätigte. Spannend war vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht (VG) die Frage der Klagebefugnis, die das VG in einer früheren Entscheidung verneint hatte. Nach dem deutschen Verletztenklagesystem muss dafür grundsätzlich die Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts zumindest möglich erscheinen. Im jetzigen Verfahren legte das VG dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob eine solche Beschneidung des Rechtsschutzes mit dem Unionsrecht, das die Aarhus-Konvention inkorporiert, vereinbar ist. Gem. Art. 9 Abs. 3 der Aarhus-Konvention gewährleisten die Vertragsparteien Mitgliedern der Öffentlichkeit, die innerstaatliche Kriterien erfüllen, gerichtlichen Rechtsschutz gegen behördliche Maßnahmen, die gegen Umweltrecht verstoßen. Zweifel an der Vereinbarkeit mit dieser Vorschrift kamen dem Gericht angesichts der zwischenzeitlich ergangenen Protect-Entscheidung. Hier entschied der EuGH, dass nationales Verfahrensrecht, wenn es nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann und deshalb effektivem Rechtsschutz entgegensteht, unangewendet bleiben muss.
Klagebefugnis hängt im Umweltrechtsbehelfsgesetz vom Klagegegenstand ab
Die Klagebefugnis lehnte das VG nach geltendem deutschem Recht ab. Ein nach § 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO erforderliches subjektiv-öffentliches Recht der DUH enthält die Typgenehmigungs-VO nicht. Auch aus § 2 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Nr. 5 UmwRG, einer gesetzlichen Bestimmung i.S.d. § 42 Abs. 2 Alt. 1 VwGO, kann die DUH keine Klagebefugnis ableiten: Die Typgenehmigungsentscheidung des KBA ist keine Zulassung eines „Vorhabens“. Ein solches ist nach der Gesetzesbegründung im planungsrechtlichen Sinne zu verstehen und umfasst nur ortsfeste Anlagen oder unmittelbar in Natur und Landschaft eingreifende Maßnahmen. Eine analoge Anwendung des UmwRG scheitert an den Überlegungen im Gesetzgebungsverfahren zur UmwRG-Novelle 2017, nach denen Produktzulassungen bewusst nicht anfechtbar sein sollten.
Kann der nationale Gesetzgeber die Anfechtbarkeit einzelner Verwaltungsentscheidungen mit Umweltbezug so „einfach“ ausschließen? Das VG knüpft die Vorlagefrage konkret an die in Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention enthaltene Wendung „Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen“ und fragt sich, wozu genau der nationale Gesetzgeber hier eigentlich ermächtigt wurde. Der EuGH hatte vage entschieden, dass die Mitgliedstaaten innerhalb dieses Gestaltungsspielraums verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen der Einlegung solcher Rechtsbehelfe erlassen können. Die „Kriterien“, so das vorherrschende deutsche Verständnis, sind jedoch abschließend in § 3 UmwRG geregelt (und werden von der DUH erfüllt – sie ist ein behördlich anerkannter Umweltverband). Die Formulierung beziehe sich – so der EuGH nun in der Rs. C-873/19 – „schon nach dem Wortlaut“ ausschließlich auf den Anfechtungsberechtigten, erlaube jedoch keine Eingrenzung tauglicher Klagegegenstände. Doch bislang weigerte sich der deutsche Gesetzgeber, effektiven und umfassenden Rechtsschutz entsprechend der völkerrechtlichen Vorgaben zu gewährleisten, und hielt an der enumerativen, restriktiven Auflistung von Klagegegenständen in § 1 UmwRG fest. Die Klagebefugnis von Umweltverbänden wird dadurch erheblich eingeschränkt.
Art. 47 GRCh als Grenze des nationalstaatlichen Gestaltungsspielraums
Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention ist als Teil eines völkerrechtlichen Vertrags nicht unmittelbar anwendbar und kann die Klagebefugnis daher nicht direkt begründen. Der EuGH stützt sich deshalb auf Art. 47 der EU-Grundrechtecharta (GRCh), der aus sich heraus wirke und keiner Umsetzung bedürfe. Die Vorschrift gebiete die Gewährleistung eines wirksamen Rechtsbehelfs zum Schutz der durch Unionsrecht garantierten Rechte, auch der Vorschriften des Umweltrechts. Damit fungiere sie als „Grenze“ des Gestaltungsspielraums aus Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention. Die „Kriterien“, die der nationale Gesetzgeber für Anfechtungsberechtigte vorsehen kann, dürfen nicht so streng sein, dass der Rechtsschutz praktisch vereitelt wird. Das deutsche Recht darf also keine unüberwindbare Hürde aufstellen und die DUH muss gegen die Kfz-Typgenehmigungen klagen können. Wenn nationale Rechtsvorschriften nicht in diesem Sinne auszulegen sind, müssen sie unangewendet bleiben.
Die ungewisse Zukunft der Klagebefugnis
Die Verortung dieser Erwägungen im „Klagegegenstand“ offenbart die Unsicherheit des EuGH im Umgang mit der deutschen Klagebefugnis. Es wird nicht klar, ob das Gericht berücksichtigt, dass der Klagegegenstand in der deutschen Ausgestaltung über das UmwRG auch das (Nicht-)Bestehen der Klagebefugnis bedingt. Das „Kriterien“-Argument ließe sich sogar dahingehend deuten, dass der EuGH in Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention gar keinen Spielraum für eine Klagebefugnis sieht. Will man dies ablehnen, bleibt die Frage, wie eng die Klagebefugnis noch verstanden werden darf und wie es im Zusammenhang mit dem Unionsumweltrecht um das deutsche Verletztenklagemodell steht. (Kurz: Es ist durch ein Interessentenklagemodell ersetzt worden.)
Das KBA hatte deshalb die Sorge geäußert, dass die Umweltverbandsklage durch den faktischen Verzicht auf eine Klagebefugnis zu einer Popularklage ausufert, deren Zulässigkeit nicht mehr von einer individuellen Betroffenheit abhängt. Der EuGH erkennt hingegen in der innerstaatlichen Anerkennung als Umweltverband eine ausreichende Betroffenheit desjenigen klagenden Umweltverbands, der sich gegen einen möglichen Umweltrechtsverstoß wendet. Dadurch wird auch das erforderliche „Interesse“ an der Rechtsdurchsetzung nachgewiesen.
Überfälliger Handlungsauftrag für den Gesetzgeber
Nach zahlreichen Entscheidungen des EuGH stellt sich die Frage, was es noch braucht, um endlich völkerrechts- und unionsrechtskonforme Zustände herzustellen. Die Zögerlichkeit, mit der Überarbeitungen des UmwRG vorgenommen worden sind, ist vor dem Hintergrund des deutschen Verletztenklagesystems zwar nachvollziehbar, aber nicht länger haltbar. Frontal 21-Recherchen deckten sogar die vorsätzliche Vereitelung der Erweiterung der Klagebefugnis gegen Kfz-Zulassungen auf: Das CDU-geführte Bundesverkehrsministerium verhinderte kurz nach Bekanntwerden des Dieselskandals aktiv, dass Umweltverbänden eine Klagebefugnis für die Überprüfung von Kfz-Produktzulassungen eingeräumt wird. Dieses „rechtsstaatlich perfide“ Verhalten ist nicht hinnehmbar. Umweltverbänden muss für ihren Einsatz gedankt werden, über den Umweg nach Luxemburg den deutschen Gesetzgeber vor sich herzutreiben.
Hinsichtlich weiterer möglicher Klagegegenstände enthält Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention wie gezeigt keine weitere Einschränkung. Die Umweltverbandsklage ist weder auf Entscheidungen über planungsrechtliche Vorhaben beschränkt, noch hängt der taugliche Klagegegenstand von der Rechtsform ab: Auch Rechtsverordnungen, wie etwa Flugroutenfestlegungen oder Naturschutzgebietsverordnungen, werden als denkbarer Klagegegenstand gehandelt. Der Gesetzgeber sollte das UmwRG entsprechend anpassen und den Katalog in § 1 erweitern oder eine Generalklausel aufnehmen.
Fazit
Die Auswirkungen des Urteils auf das deutsche System des Verwaltungsrechtsschutzes werden längst kontrovers diskutiert. Eine uferlose Umweltpopularklage ist damit aber noch nicht geboren. An der strengen deutschen Klagebefugnis und am Klagegegenstand kann eine Umweltverbandsklage zwar kaum noch scheitern. Wie der EuGH betont, bleiben die Mitgliedstaaten jedoch in der Lage, den persönlichen Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 3 Aarhus-Konvention auszugestalten und die Voraussetzungen für Umweltverbände festzulegen. Dadurch lässt sich verhindern, dass Vereinigungen ohne echtes Allgemeinwohlinteresse am Umweltschutz grundlos klagen. Somit ist nicht „jedermann“ klageberechtigt, sondern weiterhin nur seriöse, an der Einhaltung von Umweltvorschriften interessierte Umweltverbände.
Zitiervorschlag: Nau, Tim, Geburt der Umweltpopularklage in Deutschland?, JuWissBlog Nr. 64/2022 v. 16.11.2022, https://www.juwiss.de/64-2022/.
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