von KENT WILKE
In Zeiten der viel beschriebenen und beschrieenen Krise liberaler Demokratien werden immer wieder Vorschläge vorgebracht, um den „politikverdrossenen“ Bürger in das sprichwörtliche Boot zu holen. Die Einführung von Bürgerentscheiden auf Bundesebene birgt dabei mehr Gefahren als Chancen. Das Konzept der Bürgerräte hingegen stellt eine ernstzunehmende Alternative dar, unsere parlamentarische Demokratie zu stärken.
Mit Neid wird von progressiven wie auch konservativen Befürwortern der direkten Demokratie in die Schweiz geblickt. Ob Bürgerentscheide auf Bundesebene wirklich die Politikverdrossenheit mindern, ist indes fraglich. Jedenfalls ist die Wahlbeteiligung der Schweizer auf Bundesebene geringer, als die der Deutschen. Auch scheint das politische Interesse der Schweizer nicht wesentlich größer zu sein, als das ihrer nördlichen Nachbarn. Das Gleiche gilt hinsichtlich des Institutionsvertrauens (vgl. hier, S. 46 Abb. 5). Insofern sind Bürgerentscheide als direkt-plebiszitäre Elemente nicht als Allheilmittel für eine diagnostizierte Politikverdrossenheit anzusehen. Vielmehr birgt ihre Einführung in eine Gesellschaft, die seit jeher auf institutionalisierte Entscheidungsfindung setzt, Gefahren für den Zusammenhalt. So befindet sich das Vereinigte Königreich seit dem Brexit-Referendum Mitte 2016 in einer tiefen politischen Krise, die im Hinblick auf die neu aufgeflammten Sezessionsbestrebungen des EU-freundlichen Schottlands sogar den Bestand der Union gefährdet. Drei Premierminister haben in den vergangenen sechs Jahren versucht, das Land auf Kurs zu bringen. Das für seinen Regierungsverschleiß bekannte Italien kam im selben Zeitraum immerhin auf vier Regierungschefs.
In der Debatte um die stärkere Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern hat wohl vielleicht auch deshalb ein neues Wort die „Arena“ betreten: Bürgerräte (vgl. Ampel-Koalitionsvertrag, S. 10). In einem wenig beachteten öffentlichen Fachgespräch am 19. Oktober 2022 im Unterausschuss für Bürgerschaftliches Engagement brachen die eingeladenen Sachverständigen, wie schon in einem Fachgespräch am 6. Oktober 2020, eine Lanze für das Konzept. Dem folgte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas im FAZ-Einspruch-Podcast vom 19.10.2022.
Hier, im JuWissBlog, hat unlängst Ines Reiling zutreffend darauf hingewiesen, dass Bürgerräte allgemein der Weitsichtigkeit einer politischen Entscheidung dienen können. Dieser Beitrag geht anhand eines konkreten regulatorischen Gestaltungsvorschlags vertieft auf die rechtspolitische Vorteilhaftigkeit und die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Bürgerräten ein.
Der Vorschlag
Die Einberufung eines Bürgerrates sollte als parlamentarisches Minderheitenrecht ausgestaltet sein. Demnach kann sich eine Fraktion oder ein entsprechendes Quorum an Abgeordneten, die sich bei einer bestimmten Frage in der Vertretung der schweigenden Mehrheit wähnt, an den Bürgerrat wenden. Dieser wird anschließend speziell für diese Frage einberufen. Die „Einberufenen“ werden zufällig anhand bestimmter Quoren (Alter, Einkommen, Bildungsgrad, Wohnort, etc.) aus einem dauerhaften „Bürgerpool“ ausgewählt. Für den Pool kann sich jeder passiv Wahlberechtigte melden. Der Pool kann durch aufsuchende Rekrutierung ergänzt werden, sofern keine annähernde Repräsentanz gewährleistet ist. Ziel ist die sozio-ökonomische Perspektivenvielfalt. Für die Sitzungszeit haben die „Einberufenen“ quasi-Abgeordnetenrechte und -pflichten, inklusive Entschädigungsanspruch.
Ist der Bürgerrat, dessen Sitzungsleitung dem Bundestagspräsidenten obliegt, zusammengetreten, beginnt eine Informationsphase. In der Informationsphase tragen Sachverständige ihre Expertise vor. Sie werden – nach Vorbild der öffentlichen Anhörungen in Ausschüssen – von den Parlamentsfraktionen bestimmt. An die Informationsphase schließt sich eine Deliberationsphase an, in der die verfahrensgegenständliche Frage intern beraten wird. In einer dritten Phase kommt es zur Abstimmung. Das Abstimmungsergebnis wird an das Plenum des Deutschen Bundestages zur unverbindlichen Kenntnisnahme weitergegeben.
Die rechtspolitische Vorteilhaftigkeit
Der obige Vorschlag gibt durch das „Wie“ der Einberufung die Lösung für das „Ob“ der Verbindlichkeit der Entscheidung vor. Sollte die Regierungsmehrheit im Parlament einer Empfehlung des Bürgerrates nicht folgen, so droht ihr die Quittung an der Wahlurne. Insofern kann die Einberufung als Treibmittel der Opposition dienen. Allzu leichtfertig wird diese aber nicht Gebrauch von ihrem Recht machen können, will sie nicht riskieren zu offenbaren, dass sie vielleicht in der konkreten Frage nicht die Mehrheit vertritt. So kann die Regierungskoalition einer Oppositionsfraktion den sprichwörtlichen Wind aus den Segeln nehmen, indem sie darauf verweist, dass die Fraktion in der konkreten Frage einen Bürgerrat einberufen könne. Ferner kann die Regierungsmehrheit selbst durch Einberufung des Bürgerrates für Ruhe in einer Debatte sorgen.
Die vorgeschlagene Zusammensetzung des Bürgerrates aus einem semi-passiven Pool sorgt dafür, dass politisch interessierte – aber nicht notwendigerweise engagierte – Personen aktiv am politischen Entscheidungsprozess teilnehmen und als Multiplikatoren in ihre sozialen Milieus hineinwirken können.
Dadurch, dass der Bürgerrat ad-hoc von Parlamentariern einberufen wird und Einflussmöglichkeiten des Parlaments auf die Willensbildung des Bürgerrats bestehen, tritt dieser nicht in Konkurrenz zum Bundestag, sondern verstärkt die Legitimation seinen Entscheidungen, vgl. hier, S. 43.
Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit
Das „Ob“ und das „Wie“ des Bürgerrates muss sich selbstredend am Grundgesetz messen lassen. Da die Beschlussempfehlung des Bürgerrates lediglich politische Bindungswirkung entfalten kann, greift er ebenso wie Mitgliederbefragungen, Fraktionssolidarität und Meinungsumfragen, wenigstens nicht ungerechtfertigt in das freie Mandat der Abgeordneten ein, Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Volksbefragungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. In dem Fall hatten die Länder Bremen und Hamburg in ihrem Hoheitsgebiet jeweils rechtlich unverbindliche Volksbefragungen zu außen- und verteidigungspolitischen Fragestellungen durchführen wollen. Ziel war es, die weisungsunabhängigen Bundesratsmitglieder der Länder Bremen und Hamburg politisch zu binden. Das Bundesverfassungsgericht hat zu Recht festgestellt, dass damit die Länder Bremen und Hamburg unzulässig in den Willensbildungsprozess eines Bundesorgans – namentlich des Bundesrates – eingreifen (Rn. 37). Tragende Säule der Argumentation war das Land-Bund-Verhältnis, die sich auf die Einsetzung eines Bürgerrates auf Bundesebene durch den Bund nicht ohne weiteres übertragen lässt.
Fraglich ist noch, ob das Demokratiemodell des Grundgesetzes dem Bürgerrat entgegensteht, Art. 20 Abs. 1 GG. Hierzu wird häufig eine vorgeblich historisch bedingte plebiszitfeindliche Einstellung des Grundgesetzes bemüht und die Bundesrepublik zur ewigen streng-repräsentativen Demokratie erhoben. Dass sich im Wortlaut des Art. 20 Abs. 1 GG nichts dazu finden lässt und der historische Befund in der modernen Geschichtsforschung mindestens umstritten ist, zeigt die Schwächen dieser fundamentalen Ansicht auf. Vielmehr gibt Art. 20 Abs. 2 S. 2 Hs.1 GG durch „Wahlen und Abstimmungen“ vor, dass direkt- und repräsentativ-demokratische Elemente gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Gleichzeitig enumeriert das Grundgesetz die Fälle der unmittelbaren Einbindung des Wahlvolkes in den politischen Entscheidungsprozess, sodass eine Verfassungsänderung erforderlich wäre, um einen Bürgerrat dauerhaft zu etablieren. Dies ist auch rechtspolitisch wünschenswert, um dem Konzept starke gesellschaftliche Legitimation zu geben. Dabei sollten im Grundgesetz nur die grundlegenden Aspekte des „Ob“, der Zusammensetzung und der Bindungswirkung eines Entschlusses festgelegt werden. Die nähere Ausgestaltung kann einem Bundesgesetz überlassen bleiben.
Fazit
Bürgerräte sind allgemein als rechtspolitisch vorteilhaftes und verfassungsrechtlich zulässiges Modell zu begreifen. Die Einführung würde die lange Debatte um die verstärkte Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in die Entscheidungsfindung auf Bundesebene zu einem erfolgreichen Abschluss bringen.
Zitiervorschlag: Wilke, Kent, Kommt Zeit, Kommt Bürgerrat, JuWissBlog Nr. 63/2022 v. 10.11.2022, https://www.juwiss.de/63-2022/.
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