von AUGUSTO WIEGAND
Chile erlebt zurzeit einen vermutlich tiefgreifenden konstitutionellen Wandel. Der nachfolgende Beitrag erinnert in einem kurzen Rückblick an die historischen Wurzeln der geltenden Verfassung und zeichnet dann die aktuellen Entwicklungen seit vergangenem Oktober nach.
Der Ursprung der geltenden Verfassung
Um die aktuellen Verfassungsdiskussionen in Chile zu verstehen, ist es zunächst erforderlich, sich vor Augen zu führen, dass die geltende chilenische Verfassung [CV] einen undemokratischen Ursprung hat. Ein wichtiges Datum für ihre Entstehung ist der Sturz des damaligen sozialistischen Präsidenten Salvador Allende durch einen militärischen Staatsstreich am 11. September 1973. Direkt im Anschluss begann die Militärjunta durch gesetzesvertretende Verordnungen zu regieren, wodurch die damalige konstitutionelle Ordnung zumindest de facto unterbrochen wurde. Einige Wochen später berief die Diktatur eine Studienkommission ein, um einen Verfassungsentwurf vorzubereiten. Nach vierjähriger Ausarbeitungszeit legte die Studienkommission ihren Vorschlag der Militärjunta vor. Nach nochmaliger Überarbeitung durch ein anderes Komitee überprüfte die Junta den Entwurf. Über das Resultat wurde 1980 im Rahmen eines manipulierten Plebiszits abgestimmt. Die Übergangsregelungen [ÜGR] der neuen CV ordneten an, dass die Militärjunta die gesetzes- und verfassungsgebende Gewalt zwischen 1981 und 1989 übernehmen sollte. Ferner sollte der Armeechef, Augusto Pinochet, als Präsident der Exekutive vorstehen. Die ÜGR sahen auch vor, dass 1988 eine weitere Volksabstimmung stattfinden sollte, um das Volk zu befragen, ob eine von der Junta ernannte Person für weitere acht Jahre als Präsident amtieren könnte, diesmal aber unter Begleitung eines gewählten Parlaments. 1988 unterlag Pinochet im Plebiszit. Im darauffolgenden Jahr wurde der Kandidat der Oppositionsparteien in freien Wahlen als Präsident gewählt.
Oktober 2019
In den Jahren nach Pinochets Untergang entwickelten sich allmählich demokratische Verhältnisse. Zahlreiche Artikel der CV wurden geändert, aber dennoch steht sie häufig im Zentrum scharfer Kritik. Die CV enthält bis dato Bestimmungen, die an ihre autoritäre Herkunft erinnern. Selbstverständlich braucht man eine qualifizierte Mehrheit für eine Verfassungsänderung. Tatsächlich bedarf es dazu gemäß Art. 127 Abs. 2 CV in jeder entsprechenden Kammer der Zustimmung von entweder zwei Dritteln (bei Kapiteln I, III, VIII, XI, XII, XV) oder drei Fünfteln (bei den restlichen neun Kapiteln) der amtierenden Abgeordneten und Senatoren [AAS]. Zusätzlich sieht die CV vor, dass zahlreiche gesetzliche Materien qualifizierte Mehrheiten verlangen. So unterscheidet Art. 66 CV zwischen drei Varianten: Erstens, die „Gesetze zur Auslegung der Verfassung“ (drei Fünftel der AAS); zweitens, die „verfassungsmäßigen organischen Gesetze“ [VOG] (vier Siebtel der AAS); drittens, die „qualifizierten Beschlussfähigkeits-Gesetze“ (absolute Mehrheit der AAS). Für die Gestaltung des Staates sind die VOG besonders entscheidend, weil sie Bereiche wie die öffentliche Verwaltung (Art. 38 Abs. 1), das Wahlsystem (Art. 18 Abs. 1) oder das Schulwesen (Art. 19 n° 11 Abs. 5) betreffen. Die Militärjunta bemühte sich, all diese Materien vor 1989 per VOG zu regeln. Wie oben beschrieben kann bis heute eine Minderheit Reformen bezüglich dieser Bereiche blockieren.
Dennoch erzielte das Land während der letzten 30 Jahre beträchtliche Fortschritte. Im Vergleich zu anderen südamerikanischen Ländern weist Chile gute Indikatoren auf. Gerade deswegen wunderten sich viele über folgendes Geschehen: Am 11. Oktober 2019 protestierten dutzende Jugendliche in einigen U-Bahnstationen als Reaktion auf eine Preiserhöhung der U-Bahntickets in der Hauptstadt. Die Proteste eskalierten. Seitdem kommt es fast täglich im ganzen Land zu Massenprotesten. Die Forderungen nach Reformen sind vielfältig. Andererseits gibt es bei den Protesten auch viel Gewalt auf den Straßen (z.B. Sachbeschädigungen und Plünderungen). Die Regierung wird stark kritisiert, teils weil sie unfähig ist, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, teils weil die Polizei im Umgang mit der Situation gravierende Verstöße gegen die Menschenrechte begeht.
Das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“
Bereits einen Monat nach Beginn der Proteste, am 15. November 2019, verkündete der Senatspräsident einen epochalen politischen Schritt: das „Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung“ [AFV]. Er erreichte dafür, was bis vor einiger Zeit undenkbar war: Alle parlamentarischen Kräfte gaben ihre Zustimmung. Um die Krise zu bewältigen, haben die rechtskonservativen Parteien die Möglichkeit eröffnet, eine neue Verfassung zu schreiben. Tatsächlich ist dies bereits seit langem eine Forderung der anderen Parteien gewesen. Im Mittelpunkt des AFV stehen vor allem die Abstimmungsmöglichkeiten des Volkes über zwei Fragen. Einerseits die Entscheidung, ob überhaupt eine neue Verfassung entworfen werden soll („Zustimmung“ oder „Ablehnung“); und andererseits die Wahl, ob die neue Verfassung entweder von einem „Verfassungskonvent“ (nur direkt gewählte MitgliederInnen) oder von einer „gemischten Verfassungskonvention“ (aktuelle MitgliederInnen des Parlaments und direkt gewählte KandidatInnen) entworfen werden soll. Wird für eine „Zustimmung“ gestimmt, wird das Volk zu einem späteren Zeitpunkt die Mitglieder des Konvents nach einem der genannten Modelle wählen. Der Konvent hat in diesem Fall eine einjährige Frist – verlängerbar um drei Monate -, um die neue Verfassung zu entwerfen. Jeder Artikel muss von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder des Konvents genehmigt werden. Anschließend muss der gesamte Verfassungsentwurf zur Volksabstimmung vorgelegt werden. Um die AFV-Anforderungen rechtlich zu erfüllen, wurde die CV im Dezember 2019 reformiert. Die Verfassungsänderung fügte in der CV unter dem Untertitel „Zum Verfahren der Ausarbeitung einer neuen Verfassung der Republik“ einen aus 14 neuen Artikeln bestehenden Teil im Kapitel XV ein. Nachträglich (im März 2020) verabschiedete das Parlament auch Wahlrechtsgrundsätze, um die Geschlechterparität der regierenden Mitglieder des Konvents zu sichern (ÜGR 31º).
Referendum trotz Pandemie
Die Viruserkrankung COVID-19 veränderte die politische Agenda. Der Großteil der Bevölkerung war seit März von strikten Quarantänemaßnahmen betroffen. Die Volksabstimmung, die gemäß des AFV im April 2020 stattfinden sollte, wurde deshalb durch eine zusätzliche Verfassungsreform auf den 25. Oktober 2020 verschoben (ÜGR 33º). Obwohl sich die Lage aktuell etwas gebessert hat, ist die Zahl der Infizierten immer noch hoch. Ob das Referendum daher wie geplant im Oktober durchgeführt werden kann, wird von vielen derzeit angezweifelt. Eine erneute Verschiebung schloss die Regierung allerdings aus. Daher wurden vor Kurzem die Wahlbehörden beauftragt die im Rahmen der Pandemie nötigen sanitären Bedingungen herzustellen, um die Wahlen durchführen zu können (ÜGR 41º). Auf diese Weise wird versucht eine möglichst hohe und sanitär sichere Wahlbeteiligung im Plebiszit zu erreichen.
Diese Entscheidung ist angemessen, da es in naher Zukunft keine perfekten Bedingungen geben wird, um die Volksabstimmung vorzunehmen. Gewiss ist auch, dass die aktuelle Lage ohne Veränderung Unsicherheiten in verschiedenen Bereichen mit sich bringt. Ferner ist es vernünftig zu glauben, dass, wie ähnliche historische Prozesse bereits gezeigt haben, Chile die aktuelle Krise überwinden könnte, wenn es eine neue konstitutionelle Einigung gibt. Die alternative Wahlmöglichkeit der „Ablehnung“ zeigt aber ebenfalls die Zweckdienlichkeit, die Abstimmung so bald wie möglich vorzunehmen. Denn selbst wenn die „Ablehnung“ Erfolg hat, würde das zumindest bedeuten, dass die lange Diskussion zu einer neuen Verfassung ein Ende finden kann.
Zitiervorschlag: Augusto Wiegand, Der aktuelle Prozess des Verfassungswandels in Chile, JuWissBlog Nr. 117/2020 v. 01.10.2020, https://www.juwiss.de/117-2020/
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