von FELIX BOOR
Die große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union hat am 06. Oktober 2020 (Rs. C-66/18) in einem Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV gegen Ungarn entschieden, dass das ungarische Hochschulgesetz, das faktisch die weitere Lehrtätigkeit der von George Soros nach New Yorker Recht gegründete Central European University (CEU) in Ungarn untersagte, nicht mit Europarecht vereinbar ist.*
Das Urteil ist zweigeteilt: Zum einen wurde die Regelung behandelt, nach der für alle ausländischen Hochschulen, die keine Lehrtätigkeit in ihrem Heimatstaat ausüben, die Lehrtätigkeit in Ungarn untersagt wurde. Hierin sahen die europäischen Richter richtigerweise einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV sowie gegen Art. 16 der Dienstleistungsrichtlinie und Art. 13 S. 2, 14 Abs. 3 und 16 Grundrechtecharta.
Dieser Beitrag will sich aber der zweiten behandelten Regelung des Hochschulgesetzes widmen, die für die Lehrtätigkeit für ausländische Hochschulen zwingend einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Heimatstaat und Ungarn erforderlich machte. Hochschulen aus der EWR waren jedoch ausdrücklich von dieser Regelung ausgenommen Der EuGH sah hierin, da ein Rückgriff auf die Grundfreiheiten damit ausgeschlossen war, einen Verstoß gegen den Inländergleichbehandlungsgrundsatz des Art. XVII GATS sowie gegen die durch Art. 13 S. 2, 14 Abs. 3 und 16 Grundrechtecharta geschützte akademische Freiheit.
Argumentation des EuGH
Auch wenn die Entscheidung im Ergebnis begrüßenswert ist, wirft die Argumentation des EuGH, zumindest was den Lösungsweg über das WTO-Recht betrifft, gerade im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit der Grundrechtecharta auf völkerrechtliche Verträge erneut rechtsdogmatische Fragen auf, die nur schwer auszuräumen sind.
Die von der Union im Rahmen ihrer Zuständigkeiten geschlossenen völkerrechtliche Übereinkommen wie das WTO-Recht binden gem. Art. 216 Abs. 2 AEUV die Organe und die Mitgliedstaaten als integrierende Bestandteile des Unionsrechts (siehe dazu C-181/73 – Haegemann, Rn. 2/6; C-12/86 – Demirel, Rn. 7; C-240/09 – Lesoochranáske zosskupenie, Rn. 30.) Die Kommission als Hüterin des EU-Rechts hat in der Vergangenheit auch immer wieder Verstöße gegen die von den Organen abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge gerügt und ist im Rahmen von Vertragsverletzungsverfahrens zumindest gegen Verletzungen durch EU-Mitgliedstaaten vorgegangen, wenn auch noch nicht wegen WTO-Rechtsverstößen (C-61/94 – Kommission gegen Deutschland; C-13/00 – Kommission gegen Irland; C-239/03 – Kommission gegen Frankreich; C-173/05 – Kommission gegen Italien). Diese Kompetenz der Kommission folgt aber letztlich zwingend aus der Tatsache, dass das Fehlverhalten eines Mitgliedstaates die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der gesamten Union auslösen könnte (Urteil, Rn. 81 ff.). Die Generalanwältin Kokott erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass beispielsweise als Reaktion auf die WTO-widrigen Airbus-Subventionen von Seiten Deutschlands, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs US-amerikanische Strafzölle für den italienischen Parmesankäse erhoben worden sind. Es sei Ausdruck der Pflicht der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV, dass jeder Mitgliedstaat verpflichtet sei, solche Schäden in anderen Mitgliedstaaten zu vermeiden (Schlussantrag, Rn. 54).
Ungarn hatte in seinen Zugeständnissen innerhalb des Inländergleichbehandlungsgrundsatz des Art. XVII GATS zwar die Tätigkeit von Bildungseinrichtungen von einer behördlichen Genehmigung abhängig gemacht, aber keine weiteren materiellen Beschränkungen für eine Genehmigungsverweigerung bei Vertragsschluss genannt. Die Verweigerung des Marktzugangs mit Verweis auf eine weitere Voraussetzung war damit ein offensichtlicher Verstoß gegen diese Regelung. Der EuGH geht nun noch weiter und wendet auf die Verpflichtungen des GATS als Bestandteil des Primärrechts auch die Grundrechtecharta gemäß deren Art. 51 an (Urteil, Rn. 208), sodass Ungarn auch aufgrund einer Verletzung der akademischen Freiheit gem. Art. 13 S. 2, 14 Abs. 2 und 16 verurteilt werden konnte (Urteil, Rn. 222 ff.).
Dogmatische Zweifel
Diese Entscheidung fügt sich sicherlich auf den ersten Blick in die oben genannte ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs nahtlos ein. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass gerade der Sprung in die Grundrechtecharta den Inländergleichbehandlungsgrundsatz des GATS in einem Maße überdehnt, den das WTO-Recht gerade nicht vorsieht. Vielmehr ist es ja gerade der beispielsweise durch Art. V GATS abgesicherte Vorteil einer Wirtschaftsunion, dass die Privilegien des EU-Rechts eben grundsätzlich nicht auf Angehörige von Drittstaaten übertragen werden müssen. Daher war eine Anwendung der Meistbegünstigungsklausel des Art. II Abs. 1 GATS mit diesem Ziel generell ausgeschlossen und der Inländergleichbehandlungsgrundsatz deshalb das Mittel der Wahl, weil nach den Grundsätzen der Inländerdiskriminierung eben nicht in das EU-Recht gesprungen werden kann.
Die Anwendung der EU-Grundrechtecharta ist daher ein zumindest nicht selbstverständliches Ergebnis, das ein erhebliches Konfliktpotential in sich birgt. Denn zu den von den EU-Organen abgeschlossenen Übereinkommen gehören eben nicht nur das WTO-Übereinkommen, sondern eine Vielzahl von handelspolitischen Verträgen, einschließlich der in den letzten Jahren oft sehr umfassend verhandelten Freihandels- und Assoziierungsabkommen. Wenn beispielsweise aufgrund eines solchen Abkommens ein Aufenthaltstitel beispielsweise eines Japaners gewährt wird, ist schon fraglich, inwieweit die EU-Grundrechtecharta auf ihn Anwendung findet und wann der Grundrechtekatalog des entsprechenden Mitgliedstaates dann an ihre Stelle rückt. Für Deutschland wäre sicherlich das Assoziierungsabkommen mit der Türkei ein potentiell genauso konfliktträchtiges Übereinkommen. Zwar werden sich die Grundrechtskataloge nur selten widersprechen, aber sie sind eben auch nicht deckungsgleich und werden eben auch vom EuGH und den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten teilweise unterschiedlich ausgelegt.
Das Problem wird auch nicht gerade durch den Ansatz des EuGH entschärft, die Grundrechtscharta auf den eigentlich zur mitgliedstaatlichen Binnenkompetenz gehörenden Bildungsbereich anzuwenden, der gemäß Art. 6 lit. e) AEUV nur ergänzend durch die Union einer teilweisen Harmonisierung unterzogen werden kann (vgl. Urteil, Rn. 74).
Zweierlei Maß
Ein weiteres Problem wird erst deutlich, wenn man den Fall umdreht und den WTO-Rechtsverstoß hypothetisch durch die EU-Organe vollführen lässt. Während WTO-Rechtsverstöße der Mitgliedstaaten im vollen Umfang durch den EuGH überprüft werden können, sei die gerichtliche Kontrolle von Handlungen der EU-Organe über eine Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 AEUV nicht zulässig. Es drängt sich erneut die Frage auf, ob dieser zweigeteilte Maßstab auf Dauer Bestand haben kann. Bereits im Verfahren gegen die deutsche Milchquote hatte der Generalanwalt Tesauro für eine Aufgabe dieser Doktrin plädiert (Rn. 23). Hintergrund dieser Differenzierung ist die außenpolitische Handlungsfähigkeit der EU. Diese solle nicht faktisch durch eine vorgreifende gerichtliche Entscheidung unnötig belastet werden, denn Drittstaaten könnten ja bei Kenntnis eines Urteils im Rahmen einer Nichtigkeitsklage möglicherweise abgeneigt sein, ihrerseits dann aus ihrer Sicht unnötige wirtschaftspolitische Zugeständnisse an die EU zu machen. Auf der anderen Seite werde die Handlungsfähigkeit der EU sogar dadurch gestärkt, dass man durch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten den Drittstaaten signalisieren könne, dass die verhandelnde Kommission durchaus die Macht habe, einen internen WTO-Rechtsverstoß abzustellen. Eine potentielle Verletzung der EU-Grundrechtecharta wäre also bei einer potentiellen Verletzung durch die EU-Organe durch diese Form der richterlichen Zurückhaltung nicht zum Tragen gekommen, obwohl die Charta gemäß ihrem Art. 51 ja vornehmlich doch gerade auch für das Handeln der EU-Organe geschaffen worden ist.
Man muss sich fragen, ob nicht das über Jahrzehnte vor sich her getragene Dogma der außenpolitischen Handlungsfreiheit der Kommission angesichts der weitgehend durch WTO-Recht und anderen Handelsabkommen völkerrechtlich fest vereinbarten Regeln als geradezu anachronistisch und möglicherweise sogar aus Sicht der Handelspartner als unredlich erscheinen kann. In diesem Zusammenhang muss man sich stets vor Augen halten, dass es sich hier um verbindliche Vereinbarungen des Primärrechts handelt, zu denen sich die EU mit ihrem Vertragsbeitritt verpflichtet hat. Es drängt sich dann doch die Frage auf, ob es in solchen Fällen wirklich notwendig ist, bei Verhandlungen von diesem aktuellen Mindeststandard der außenwirtschaftlichen Handelsbeziehungen, wie sie das WTO-System darstellt, noch abgehen zu können.
Kompetenz des Dispute Settlement Body
Und schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Letztentscheidungskompetenz für GATS-Rechtsverstöße weiterhin bei dem Dispute Settlement Body der WTO liegt, wenn auch dieser gerade durch die Blockadepolitik der Trump-Administration an seinem Funktionieren gehindert wird. Der EuGH hat sich nicht dazu geäußert, inwiefern sich die Existenz des WTO-Streitbeilegungsmechanismus auf seine eigene Prüfungskompetenz auswirkt. Dies ist erstaunlich, da die Generalanwältin ausdrücklich darauf hingewiesen und für eine Beschränkung der Prüfungskompetenz auf offensichtliche WTO-Rechtsverletzungen plädiert hatte (Schlussantrag, Rn. 87 ff.). Sie hat sich in diesem Zusammenhang auch der Argumentation Ungarns angeschlossen, dass nämlich im vorliegenden Falle, bei der durch ein völkerrechtliches Abkommen sensible Binnenkompetenzbereiche der Mitgliedstaaten wie die Bildung betroffen seien, bei den Mitgliedstaaten eine ausreichend große Gestaltungsfreiheit verbleiben solle und daher auch der Prüfungsmaßstab des EuGH zurückgefahren werden müsse (Schlussantrag, Rn. 89). Es wird eine wesentliche Aufgabe der kommenden Rechtsprechung des Gerichtshofs sein, diese Widersprüche dogmatisch aufzubereiten.
* Der Autor dankt Kristina Hadzhieva für ihre sehr hilfreiche Unterstützung.
Zitiervorschlag: Boor, Felix, EU-Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn – Zur Anwendbarkeit der EU-Grundrechtecharta über das WTO-Recht, JuWissBlog Nr. 118/2020 v. 14.10.2020, https://www.juwiss.de/118-2020/
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