von ELISABETH KATH
Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, den Schutz von Kinderrechten zu fördern. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) gelten als besonders schutzbedürftig. Mit seinem Urteil vom 12.04.2018 bestätigt der EuGH diese Zielsetzung im Hinblick auf umF. Er hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welcher Zeitpunkt für die Qualifizierung einer asylantragstellenden Person als umF zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidend ist.
Hintergrund der Entscheidung
Hintergrund des Vorabentscheidungsverfahrens ist folgender: die Tochter (T) von A und S, eine eritreische Staatsangehörige, war als Minderjährige in die Niederlande eingereist und stellte dort noch als Minderjährige einen Antrag auf Anerkennung des Flüchtlingsstatus. Bevor über ihren Antrag entschieden wurde, war sie allerdings volljährig geworden. Ts Asylantrag wurde rückwirkend zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags positiv entschieden und ihr der Status eines Flüchtlings zuerkannt. Nach Erhalt des Asylbescheides stellte sie innerhalb der einzuhaltenden Frist von drei Monaten einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern und minderjährigen Geschwistern gem. Art. 10 Abs. 3 lit. a) der Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG). Da T zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig war, wurde der Antrag von den niederländischen Behörden abgelehnt. A und S waren im Gegenzug der Auffassung, dass das Datum der Einreise für die Einordnung als umF entscheidend sei, an dem T unbestritten minderjährig war.
umF im EU-Recht
Im Allgemeinen behandelt das EU-Recht umF als besonders schutzbedürftig. Zu ihren speziellen Schutzrechten gehört unter anderem das in der RL 2003/86/EG verbürgte Recht auf Familienzusammenführung (häufig auch als Familiennachzug bezeichnet). Dieses besagt, dass die Mitgliedstaaten (MS) den Aufenthalt und die Einreise der Verwandten in gerade aufsteigender Linie von umF (Eltern) zu gestatten haben. Wird der Antrag innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Anerkennung der Minderjährigen als umF gestellt, müssen weder die umF noch deren Eltern weitere Bedingungen erfüllen. Diese Vorschrift überlässt den MS mithin keinerlei Beurteilungsspielraum.
Neuerungen durch die Entscheidung
Mit seinem Urteil vom 12.04.2018 legt der EuGH den maßgeblichen Zeitpunkt für die Einstufung einer Person als umF EU-weit auf den Zeitpunkt der Antragstellung auf Asyl fest. Das Datum der Einreise und vor allem das der Entscheidung über den Asylantrag werden somit in dieser Hinsicht unbedeutend. Das bedeutet, dass einer Person, die minderjährig in die EU einreist, aber im Laufe des Asylverfahrens, in dem ihr Flüchtlingsstatus zuerkannt wird, volljährig wird, der Anspruch einer umF auf Familienzusammenführung zusteht.
Der Gefahr der endlosen Geltendmachung des Rechts auf Familienzusammenführung tritt der EuGH entgegen: generell gilt die begünstigende Familienzusammenführung der RL 2003/86/EG nur für drei Monate. Nach dieser Zeit steht es den MS frei, Bedingungen für die Familienzusammenführung festzulegen. An dieser Dreimonatsfrist wird mit der aktuellen Entscheidung nicht gerüttelt.
Bewertung
Aus kinderrechtlicher Perspektive ist das Urteil zu begrüßen. Zwar lässt sich der EuGH weniger von Kindeswohlüberlegungen als vielmehr von der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts sowie den allgemein geltenden Grundsätzen der Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und der Gleichbehandlung leiten. Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass der EuGH umF als eine besonders schutzwürdige Personengruppe behandelt.
Mit dem Urteil stellt der EuGH sicher, dass umF in allen MS zum gleichen Zeitpunkt als umF eingestuft werden und gleichermaßen das Recht auf Familienzusammenführung geltend machen können. Damit wird das Gemeinsame Europäische Asylsystem, welches aufgrund unterschiedlicher Handhabungen in den MS häufig kritisiert wird, gestärkt und vereinheitlicht.
Der 18. Geburtstag ist für unbegleitete Minderjährige während des Asylverfahrens nicht notwendigerweise ein Grund zum Feiern. Welche rechtlichen Änderungen mit dem Erreichen der Volljährigkeit einhergehen, ist vom Aufenthaltsstaat abhängig. Die meisten minderjährigen Antragsteller gehören der Altersgruppe der 16- bis 17-Jährigen an, sodass der Eintritt der Volljährigkeit während des Verfahrens nicht ungewöhnlich ist. In Deutschland und Österreich beispielweise bestand bisher in solchen Fällen ähnlich wie im Ausgangsfall kein Recht auf Familienzusammenführung. Durch die Entscheidung des EuGH wird dies nun geändert. Die Praxis, den Elternnachzug bei Anerkennung als Flüchtling noch während der Minderjährigkeit ebenfalls nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit zu gewähren, muss somit gleichfalls geändert werden.
Mit der konkreten Festlegung des Zeitpunkts der Antragstellung auf internationalen Schutz wirkt der EuGH einer missbräuchlichen Handhabung der Asylanträge von umF im Asylverfahren entgegen. Durch die Festlegung auf das Datum des Asylantrags besteht nicht länger die Gefahr der Verzögerung oder Verschleppung ihrer Anträge, um sie um ihr Recht auf Familienzusammenführung als umF zu bringen.
Das Urteil gibt nur eine Antwort auf die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die Rechtsstellung als umF. Die MS sind im Rahmen der begünstigenden Familienzusammenführung nur verpflichtet, die Eltern der umF einreisen zu lassen. Die minderjährigen Geschwister der umF werden von der Familienzusammenführungsrichtlinie nur insoweit erfasst, als das es den MS überlassen wird, inwieweit sie die Familienzusammenführung auch auf die minderjährigen Geschwister der uMF erstrecken. Damit steht es den nationalen Behörden nach der RL 2003/86/EG frei, die Familienzusammenführung von Eltern und umF zu gestatten, den minderjährigen Geschwistern aber die Einreise zu verweigern. Wird den Geschwistern die Einreise nicht gestattet, dann wird eine Zusammenführung mit ihnen regelmäßig nur möglich sein, wenn die Eltern (oder ein Elternteil) die Familienzusammenführung für sich in Anspruch nehmen und anschließend selbst einen Asylantrag stellen (bzw. abgeleitet vom umF einen Status gewährt bekommen). Erst wenn die Eltern in einem eigenen Verfahren als Flüchtlinge anerkannt worden sind, können sie anschließend im Rahmen der Familienzusammenführung die minderjährigen Geschwister der umF legal nachholen. Folglich stehen die Eltern der umF vor einem Dilemma: reisen sie ihrem Kind, dem die Flucht geglückt ist und das nun allein einem fremden Land lebt, nach und lassen ihre anderen Kinder zurück oder bleiben sie bei den Geschwistern der umF? Einen solchen Konflikt für die Beteiligten zu schaffen und ihre Notlage zu steigern kann nicht im Interesse einer sich zu Menschen- und Kinderrechten bekennenden EU sein. Der Schutz der Familie und Kindeswohlüberlegungen haben die gesamte Familie und nicht nur den in der EU ansässigen Teil zu beachten. Im Interesse des Kindeswohls, des Rechts auf Familienleben sowie der vom EuGH geforderten Rechtssicherheit sollte meiner Meinung nach die Möglichkeit des Nachzugs der minderjährigen Geschwister der umF rechtlich in stärkerer Form, wie bspw. durch die Ausweitung des Familienbegriffs, zugestanden werden.
Erfreulich ist aber, den tausenden umF, die jährlich in der EU um Asyl ansuchen, zumindest im Hinblick auf die Familienzusammenführung mit ihren Eltern Mut machen zu können.
Zitiervorschlag: Kath, Wann ist ein Kind ein Kind? – EuGH und Familienzusammenführung von unbegleiteten Minderjährigen, JuWissBlog Nr. 38/2018 v. 2.5.2018, https://www.juwiss.de/38-2018/
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