von LUKAS ZÖLLNER
Es ist Wahlkampf in Bayern. Die Landtagswahl findet zwar erst am 14. Oktober statt, doch die bayerischen Parteien, insbesondere die bisher alleinregierende CSU, haben sich spätestens mit der Übergabe des Ministerpräsidentenamtes von Horst Seehofer an Markus Söder in Wahlkampfstimmung versetzt. Mittels eines strammen Law-and-order-Kurses sollen Wähler angesprochen werden, die mit der AfD sympathisieren. Das zeigt sich am „Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts“, das die bayerische Polizei mit umfassenden – und verfassungsrechtlich zweifelhaften – neuen Befugnissen ausstatten soll, oder an Verschärfungen des bayerischen Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetzes, die die Staatsregierung erst nach massiver Kritik abgeschwächt hat. Einen frühen Höhepunkt hat der bayerische Wahlkampf mit der Ankündigung der Staatsregierung erreicht, in jeder staatlichen Behörde im Eingangsbereich ein Kreuz aufzuhängen.
Dieser Kulturkampf „à la Bavière“ ist in der Öffentlichkeit auf scharfe Kritik gestoßen. Insbesondere wird die Erwartung formuliert, das Bundesverfassungsgericht werde dem sicherlich bald Einhalt gebieten. Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1995 sei in dieser Frage eindeutig.
Diese Kommentatoren machen es sich jedoch zu leicht. Ohne Weiteres wird eine Verfassungsbeschwerde gegen das Kreuz in bayerischen Amtsgebäuden nicht erfolgreich sein. In diesem Zusammenhang lohnt es, den Kruzifix-Beschluss tatsächlich (wieder) zu lesen. Für eine mögliche Verfassungsbeschwerde sind zwei Konstellationen zu unterscheiden:
Der unchristliche Beamte…
Klagen könnte einerseits ein Beamter (oder Angestellter) des Freistaats, der in einem Dienstgebäude mit Kreuz im Eingangsbereich arbeitet. Greift dieses Kreuz in seine (negative) Religionsfreiheit ein und wäre dieser Eingriff gerechtfertigt?
Die negative Religionsfreiheit umfasst das Recht, sich nicht zu einer Religionsgemeinschaft bekennen zu müssen, nicht nach ihren Regeln zu leben und nicht ihre Symbole zu verwenden. Sie beinhaltet aber nicht das Recht, nicht mit den nach außen hin sichtbaren Glaubensvorstellungen anderer konfrontiert zu werden. Die in diesem Zusammenhang vielfach beschworene „weltanschaulich-religiöse Neutralitätspflicht des Staates“, die auf Art. 3 Abs. 3 S. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 33 Abs. 3 GG sowie auf Art. 136 Abs. 1 und 137 Abs. 1 WRV (i.V.m. Art. 140 GG) gestützt wird, ist demgegenüber eindeutig kein subjektives Recht, sondern ein verfassungsrechtlicher Topos, der der Rechtfertigung eines Eingriffs entgegenstehen kann.
Im Kruzifix-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht einen Eingriff in die negative Religionsfreiheit der Schüler u.a. mit der erzwungenen Konfrontation mit dem Kreuz, dessen „appellativen Charakter“ und der besonderen Beeinflussbarkeit von Kindern und Jugendlichen begründet. Seitdem sehen die Gerichte, entgegen verschiedentlichen Einwänden aus der Literatur, sowohl das Lernen als auch das Lehren „unter dem Kreuz“ als Grundrechtseingriff an. Das Vorhaben der bayerischen Staatsregierung unterscheidet sich von diesen Fällen jedoch erheblich: Es sollen gerade keine Amtshandlungen „unter dem Kreuz“ vorgenommen werden. Ein Beamter sieht das Kreuz „nur“ in den wenigen Sekunden bei Betreten und Verlassen des Gebäudes. Interessanterweise grenzt das Bundesverfassungsgericht im Kruzifix-Beschluss bei der Prüfung des Eingriffs gerade das Lernen „unter dem Kreuz“ von der Konfrontation mit religiösen Symbolen „beim Betreten von Gebäuden“ ab. Bei letzterem sei der „Grad von Unausweichlichkeit“ viel geringer. Für die Eingriffsqualität kommt es also auf die Dauer und Intensität der Konfrontation an. Das Argument der bayerischen Staatsregierung, man müsse sich ja nicht dem Kreuz im Eingangsbereich aussetzen, ist durchaus aussichtsreich.
Erkennbar aussichtslos ist dagegen das Argument der Staatsregierung, bei den aufgehängten Kreuzen handele es sich nicht um religiöse Symbole, sondern um Symbole der „abendländischen Kultur“. Die Senatsmehrheit meinte hierzu schon im Kruzifix-Beschluss lapidar: „Das Kreuz ist Symbol einer bestimmten religiösen Überzeugung und nicht etwa nur Ausdruck der vom Christentum mitgeprägten abendländischen Kultur“. Ganz nebenbei: Die Säkularisierung des Kreuzes kann eigentlich auch nicht im Interesse einer (angeblich) christlichen Volkspartei liegen.
Unterstellt man dennoch einen Eingriff, so zeigt sich ein weiterer Unterschied zum Kruzifix-Beschluss. Dort wird vor allem der staatliche Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zur Rechtfertigung des Eingriffs herangezogen. Der Staat darf bei der Festlegung der Erziehungsziele in gewissen Grenzen auch religiöse Symbole in Bezug nehmen. Erziehungsauftrag und negative Religionsfreiheit sind in „praktische Konkordanz“ zu bringen. Im Falle eines Beamten außerhalb des Schuldienstes, der sich gegen das Kreuz in der Behörde wehrt, kommt eine solche Argumentation nicht in Betracht. Denkbar ist allenfalls, die überkommenen Grundsätze des Berufsbeamtentums zur Rechtfertigung heranzuziehen. Aus diesen folgt eine Pflicht zum Gehorsam und zur loyalen Unterstützung des Dienstherrn. Im Fall eines Lehrers, der sich dagegen wandte, „unter dem Kreuz“ zu unterrichten, hat der VGH München diese Grundsätze immerhin als grundsätzlich mögliche Rechtfertigung angesehen.
…und der unchristliche Besucher
Demgegenüber unterliegt ein Bürger, der das Dienstgebäude betritt, glücklicherweise nicht der Pflicht zum Gehorsam und zur Loyalität gegenüber seiner (bayerischen) Staatsregierung. Bei diesem Publikumsverkehr ist der Grundrechtseingriff aber erst recht zweifelhaft: Schließlich kommen Besucher wirklich nur punktuell mit dem aufgehängten Kreuz in Kontakt. Der „Grad von Unausweichlichkeit“ dürfte – selbst bei dem erzwungenen Erscheinen etwa aufgrund einer Vorladung – deutlich geringer sein als bei einem Beamten, der täglich seine Dienststelle aufsucht. Nimmt man dennoch einen Eingriff an, dürfte dieser allerdings auch verfassungswidrig sein. Anders als bei einem Staatsbeamten ist nämlich kein Verfassungsgut ersichtlich, dass den Eingriff rechtfertigen könnte. Das Kreuz kann in normalen Dienstgebäuden lediglich auf die allgemeine Organisationsgewalt der bayerischen Staatsregierung aus Art. 43 der Bayerischen Verfassung (BV) gestützt werden. Dieses Recht kommt nicht als kollidierendes Verfassungsgut zur Einschränkung des vorbehaltslos gewährleisteten Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Betracht.
Problematisch ist freilich in jedem Fall, dass der Staat mit dem Aufhängen eines Kreuzes in Behördengebäuden den Anschein erweckt, er lege Grundsätze oder gar Glaubensinhalte des Christentums seiner Verwaltungstätigkeit zugrunde. Der Verdacht steht im Raum, Christen und Andersgläubige bzw. Atheisten würden unterschiedlich behandelt. Kurzum, das Kreuz könnte den Eindruck der Voreingenommenheit oder gar Ablehnung nichtchristlicher Bürger entstehen lassen. Diese Befürchtung ist wohl auch der Grund für die wütenden Angriffe auf die bayerische Staatsregierung.
Dem ist jedoch juristisch entgegenzuhalten, dass das Recht auf eine neutrale, unvoreingenommene Verwaltung nicht selbständig einklagbar ist. Das VwVfG kennt in § 21 nicht einmal ein förmliches Ablehnungsrecht. Angreifbar ist nur die Entscheidung, die durch einen voreingenommenen Amtswalter gefällt wird. Diese kann dann etwa aufgrund eines Verfahrensfehlers oder wegen Verletzung des Gleichheitssatzes aufgehoben werden. Die bloße „Stimmung“, die durch ein Kreuz im Behördengebäude gesetzt wird, kann dagegen nicht gerichtlich überprüft werden. Sie ist wohl eher vergleichbar mit dem „Motto“, das ein Minister, Beamter oder Richter bei seiner Vereidigung durch die Hinzufügung des religiösen Zusatzes „so wahr mir Gott helfe“ zur Eidesformel wählt. Individuellen Rechtsschutz hiergegen gibt es nicht.
Fazit
Abgesehen von der hier angerissenen Eingriffs- und Rechtfertigungsproblematik hat das verfassungsrechtliche Problem, das durch die wahlkampfmotivierte Aktion der Staatsregierung entstanden ist, noch zahlreiche weitere Facetten. Wie genau sieht die (hinkende?) Trennung von Staat und Kirche aus? Wie wirkt sich die Rechtsprechung des EGMR auf die Anordnung aus? Kann die Maßnahme möglicherweise mit einer bayerischen Popularklage nach Art. 98 S. 4 BV i.V.m. Art. 55 VfGHG angegriffen werden? Welcher Prüfungsmaßstab gilt dann?
Die Erfolgsaussichten vor dem Bundesverfassungsgericht sind jedoch höchst zweifelhaft. Dass die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates nicht im Wege der Individualverfassungsbeschwerde durchgesetzt werden kann, mag manchem bedauerlich erscheinen. Diese „Rechtsschutzlücke“ ist aber das Ergebnis des Systems des subjektiven Rechtsschutzes, das (kritikwürdige) politische Richtungsentscheidungen für sich genommen nicht zum Gegenstand der gerichtlichen Kontrolle macht.
Zitiervorschlag: Zöllner, Kulturkampf à la Bavière, JuWissBlog Nr. 39/2018 v. 3.5.2018, https://www.juwiss.de/39-2018/
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