von HANNES RATHKE
Das unabhängige Unionsorgan EZB auf der Anklagebank eines nationalen Verfassungsgericht. Eine auf den ersten Blick befremdliche Vorstellung – betonte doch gerade das Bundesverfassungsgericht seit den Anfängen der Wirtschafts- und Währungsunion die essentielle Bedeutung der Unabhängigkeit einer gemeinsamen Notenbank bei Ausübung ihres Mandates. Jedoch rückte die EZB mit ihrer Ankündigung, im Rahmen eines Outright Monetary Transactions-Programms (OMT) erneut und in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen zu wollen, in den Fokus des sogenannten „ESM-Verfahrens“ – und stellte das Bundesverfassungsgericht vor neue prozessuale und materielle Herausforderungen. Ist das Handeln der EZB überhaupt ein verfassungsprozessual angreifbares hoheitliches Handeln? Hat die EZB mit ihrer Ankündigung die Grenzen ihres Mandates überschritten? Oder würde die Aktivierung des OMT-Programms gar die demokratisch verantwortete Statik der Wirtschafts- und Währungsunion beeinträchtigen?
Hintergründe des Verfahrens
Ursprünglich zielten die Verfassungsbeschwerden und Organklagen auf die Verfassungsmäßigkeit der Ratifikation des Vertrages über den Europäischen Stabilitätsmechanismus und des sogenannten Fiskalpakts. In seiner Entscheidung vom 12.9.2012 hatte das BVerfG grundsätzlich deren Verfassungskonformität festgestellt und einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Diskussion um die Integrationsfähigkeit Deutschlands im Zuge des Umbaus der Wirtschafts- und Währungsunion gesetzt. Im Rahmen seiner legislativ abgesicherten Integrations- und Budgetverantwortung verfüge der Bundestag über einen weiten Beurteilungs- und Entscheidungsspielraum, der nur bei einer evidenten (Selbst)Beschränkung der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit die Grenze der Verfassungswidrigkeit überschreitet. Wesentlich sei jedenfalls, dass der Bundestag nicht nur in einer Integrations- und Budgetverantwortung stehe, sondern sich dieser auch bewusst sei und gerecht werde. Insgesamt konnten nach Ansicht des BVerfG mit Blick auf die haushaltspolitische Gesamtverantwortung die Verträge ratifiziert werden.
Einer Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten war im Wesentlichen der Nachbesserungsbedarf bei der parlamentarischen Beteiligung bei der Ausgabe von Anteilen am Stammkapital des ESM über dem Nennwert nach Art. 8 Abs. 2 S. 4 ESMV, die Sicherstellung, dass die Bundesrepublik sämtlichen, auch kurzfristigen Kapitalabrufen (Art. 9 Abs. 3 ESMV) dauerhaft nachkommen und so einen Stimmrechtsverlust im ESM (Art. 4 Abs. 8 ESMV) ausschließen kann sowie die verfassungskonforme Ausgestaltung der Aufgabenteilung zwischen Plenum und Haushaltsausschuss in den in § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 3 ESMFinG aufgeführten Entscheidungsbereichen.
Unmittelbar vor der Urteilsverkündung entschloss sich die EZB jedoch zu einem Schritt, der sie ins Zentrum der mündlichen Verhandlung in der Hauptsache machte und die Fragen zum ESM weitgehend beiseite schob. Sie kündigte an, im Rahmen eines Outright Monetary Transactions-Programms (OMT) erneut und in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen zu wollen, um ungerechtfertigte Risikoaufschläge auf die Rendite von Staatsanleihen zu beseitigen, die das Funktionieren des geldpolitischen Transmissionsmechanismus untergraben. Notwendige Bedingung für Käufe im Rahmen des bislang bloß angekündigten, aber nicht durch die notwendigen Rechtsakte konkretisierten Programms soll sein, dass der betreffende Mitgliedstaat den Konditionalitäten eines wirtschaftspolitischen ESM-/EFSF-Anpassungsprogramms unterliegt.
Die Geburt einer allgemeinen Antragsbefugnis gegen Unionshandeln?
Die erste Hürde einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des EZB-Handelns besteht bereits darin, ob nicht das BVerfG seinerseits mit der Überprüfung der Handlung eines Unionsorgans ultra vires handelt. Ist das angegriffene, bislang lediglich durch eine Pressemitteilung angekündigte, aber noch nicht rechtsförmlich beschlossene OMT-Programm überhaupt ein verfassungsgerichtlich angreifbarer Rechtsakt der deutschen öffentlichen Gewalt? Zumal angesichts der bloßen Ankündigung derzeit weder ein konkreter Rechtsakt vorliegt, noch deutsche Hoheitsträger an dessen Vollzug beteiligt wären. Eine nicht nur für die Tauglichkeit des Antragsgegenstandes, sondern auch und insbesondere für eine aus dem grundrechtsgleichen Recht des Art. 38 Abs. 1 GG abgeleitete Antragsbefugnis relevante Frage. Dieses Recht soll durch die Offenhaltung demokratischer Räume die über Wahlen vermittelte Einflussnahme der Bürger auf die Selbstgestaltungsfähigkeit des Staates gewährleisten. In seiner bisherigen Rechtsprechung zur europäischen Integration ermöglicht das BVerfG vermittels dieser Befugnis Rechtsschutz in der „Übertragungssituation“ des Art. 23 Abs. 1 GG mit Blick auf die im Lissabon-Urteil aufgeführten besonderen Aufmerksamkeitsfelder. Eine Konstruktion, deren inhaltliche Weite durch ihre situative Beschränktheit ausbalanciert wird. Aktiviert nur im Falle einer Hoheitsrechtsübertragung ermöglicht sie gerade keine ultra-vires-Rüge jeglichen Handelns europäischer Hoheitsträger vergleichbar der Elfes-Rechtsprechung des BVerfG.
Angesichts dieser Grenzziehung drängt die Frage, wie den Antragsstellern Rechtsschutz mit Blick auf das unter der übertragenen Kompetenz Geldpolitik firmierende OMT-Programm. gewährt werden kann. Wie auch immer man die Kompetenzgemäßheit des EZB-Handelns bewerten mag: Eine erneute Hoheitsrechtsübertragung ist damit sicherlich nicht verbunden – womit an sich auch eine klassische Klagebefugnis ausgeschlossen wäre. Unterstellt, die Fälle weiterer Hoheitsrechtsübertragungen werden seltener, so verliert auch die europäische Rechtsschutzbefugnis des Art. 38 GG an Wirkung – und damit letztlich auch der europäische Einfluss des BVerfG. Eine Vorstellung, die nicht nur in Karlsruhe Unbehagen auslösen dürfte. Dementsprechend ließ der Zweite Senat Sympathien für ein echtes Abwehrrecht der Bürger aus Art. 38 GG gegenüber Unionshandeln jenseits von „Übertragungssituationen“ erkennen. Jedenfalls, so Präsident Voßkuhle, ließe sich über einen Anspruch des Bürgers darauf nachdenken, dass der Bundestag in den für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit des Verfassungsstaates essentiellen Bereichen selber entscheidet und sich der Bürger gegen eine Kompetenzanmaßung von Unionsorganen in diesen für das parlamentarische Wirken wesentlichen Bereichen zur Wehr setzten kann. Eine Antragsbefugnis, welche die Elemente der ultra-vires-Kontrolle und der Identitätskontrolle verkoppelt, damit die Hürden an einen Antrag wesentlich verschärft, zugleich aber von der Übertragunsgsituation entkoppelt. Ein geradezu revolutionäre Weiterentwicklung seiner bisherigen Rechtsprechung, welche nicht die Antragsbefugnis im gegenwärtigen Verfahren begründen, sondern insbesondere die Möglichkeiten des BVerfG zur Einflussnahme im europäischen „Verfassungsgerichtsverbund“ dauerhaft festigen könnte.
Das OMT-Programm: Ein ausbrechender Rechtsakt?
Materiell musste sich der Zweite Senat mit der Frage auseinandersetzen, ob die EZB durch den angekündigten unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen ihr durch das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung (Art. 123 AEUV) begrenztes Mandat überschritten hat.
Nach der „klassischer“ ultra-vires-Rechtsprechung des BVerfG gilt: Handhaben die europäischen Einrichtungen die Unionsverträge in einer Weise, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Das wiederum setzte einen hinreichend qualifizierten, das Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union in einer „erheblich ins Gewicht“ fallenden Art überschreitenden Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung voraus. Deutsche Staatsorgane wären dann aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese europäischen Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.
In seinem Bemühen, die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik und damit die aus Art. 123 AEUV folgenden Grenzen für das EZB-Mandat zu vermessen, sah sich der Zweite Senat mit der schwierigen Operabilität seiner ultra-vires-Maßstäbe konfrontiert. Beispielhaft machten die divergierenden Argumente von Jörg Assmussen und Jens Weidmann deutlich, dass die Grenze eher einer Grauzone gleicht, der nicht so recht beizukommen ist – erst recht nicht mit Blick auf die in der Honeywell-Entscheidung aufgestellte Voraussetzung der evidenten Kompetenzüberschreitung. So warf Weidmann die Frage auf, ob eine Zentralbank zu allem legitimiert sein könne, was noch mit einiger Plausibilität als der Geldpolitik und der Preisniveaustabilität dienlich angesehen werden könne. Geldpolitik dürfe nicht den Anschein erwecken, zu finanzpolitischen Zwecken vereinnahmt zu werden – insbesondere wenn vordergründige Sekundärmarktkäufe zeitlich an Primärmarktemissionen heranrücken und die Ankaufvolumina das Restrisiko der ursprünglichen Käufer der Primärmarktemissionen signifikant senken. Dementsprechend sei das Mandat der EZB strikt auszulegen. Umgekehrt, aus der Sicht der EZB, handele sie mit dem OMT-Programm – auch mit Blick auf die Unterstützungsfunktion in Art. 127 AEUV – primär zur Verfolgung geldpolitischer Ziele und damit innerhalb ihres Mandates. Verboten seien ihr nur unmittelbare Primärmarktkäufe und sonstige Maßnahmen der monetären Haushaltsfinanzierung, wie dies beispielsweise bei der Beteiligung an einem Schuldenschnitt der Fall sein könne.
Nimmt man die sowohl vom deutschen Integrationsgesetzgeber als auch vom BVerfG als Conditio der deutschen Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion geforderte, dem Vorbild Bundesbank entsprechende Unabhängigkeit der EZB ernst und gegenwärtigt man die Schwierigkeit, angesichts der divergierenden Meinungen den vom BVerfG geforderte „Evidenzbeweis“ zu führen, so erscheint die von Christoph Möllers dargelegte „Graubereichsdefinitionskompetenz“ der EZB überaus plausibel: Danach bestehe eine durch vollständig entgrenztes oder täuschendes Handeln widerlegliche Vermutung zugunsten eines kompetenzgerechten EZB-Handelns – so dass sich ein ausbrechender Rechtsakt (jedenfalls ohne ein von Präsident Voßkuhle angedeutetes Vorabentscheidungsverfahren) anhand der Honeywell-Maßstäbe schwerlich begründen ließe.
Die EZB und die Verfassungsidentität
Angesichts der Schwierigkeiten, den Nachweis eines Handelns ultra vires erfolgreich zu führen, nahmen die Antragssteller auch eine Verletzung der unabdingbaren Verfassungsidentität in den Blick. Hat die EZB politikersetzend den ESM aus eigener Kraft faktisch erweitert und die unions- wie verfassungsrechtlich begrenzte Notrettungsstatik von ESM/EFSF verschoben oder gar konterkariert? Bewirkt das OMT-Programm eine mittelbare Belastung des Bundeshaushalts ohne konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages – und ermöglicht gar eine Umverteilung der Risiken zwischen den Steuerzahlern verschiedener eigenverantwortlicher Mitgliedstaaten?
Den Ankündigungen der EZB entsprechend muss der Staat, dessen Anleihen auf dem Sekundärmarkt gekauft werden sollen, jedenfalls einem wirtschaftspoltitischem Anpassungsprogramm im Rahmen des ESM bzw. der EFSF unterliegen. Einem solchen Programm muss der Bundestag notwendig zustimmen. Aus dem Umstand, dass ein OMT-Programn erst nach parlamentarischer Beteiligung möglich wird, ließe sich folgern, dass der Bundestag mit seiner Entscheidung im Rahmen des ESM den Arm der EZB bewegt, wie es Ulrich Häde für die Bundesregierung formulierte. Doch sind damit auch die potenziellen budgetären Auswirkungen des OMT-Programms demokratisch legitimiert? Zumal die EZB – versteht man die Wirkungen des OMT-Programms als jedenfalls faktische Solvenzhilfe – in Bereichen agiert, die in der Primärverantwortung der nationalen Parlamente liegen. Zudem drängte sich die von Richter Müller formulierte Gegenfrage auf, ob nicht vielmehr die EZB durch die Risiken ihres OMT-Programms über Art. 88 GG den Bundestag bewege. Schließlich ist der Bundeshaushalt finanziell dergestalt mit dem Eurosystem verbunden, dass der Bund im Rahmen seiner Anstaltslast die Bundesbank bei übermäßigen Verlusten rekapitalisieren muss, um deren Glaubwürdigkeit zu bewahren und das verfassungsrechtliche Ziel der Preisstabilität (Art. 88 GG) zu sichern. Verluste infolge der Realisierung des erhöhten Ausfallrisikos von Staatsanleihen im Rahmen des OMT-Programms könnten sich so im Bundeshaushalt niederschlagen und den finanziellen Handlungsspielraum des Bundes niederschlagen. Hieraus lässt sich folgern, dass der Bundestag mit seiner Zustimmung zu ESM-Programmen, jedoch ohne Kenntnis des konkreten OMT-Programms – eine vorherige Information der nationalen Parlamente über Art und Umfang der Maßnahmen sei nach Ansicht Assmussen nur auf informellen Wegen möglich – die aus seiner Zustimmung resultierenden Verpflichtungen nicht vollständig erfassen kann. Ein Befund, der bei Überwindung der prozessualen Hürden ein Urteil mit integrationsverantwortungssichernden Maßstäben nicht unwahrscheinlich erscheinen lässt.