Der Koalitionsvertrag steht und das F-Wort steht drin: eine 30%-Frauenquote in Aufsichtsräten. Während dieser erneute Vorstoß noch Debatten auslöst, passiert die im selben Bereich von der EU-Kommission vorgeschlagene 40%-Frauenquote eine Gesetzgebungsetappe nach der nächsten: Nachdem am 14. Oktober die beiden zuständigen Ausschüsse den Richtlinienentwurf angenommen hatten, stimmte am 20. November auch das Europäische Parlament zu. Die Mehrheitsverhältnisse im Rat, in dem bisher eine Sperrminorität bestand, könnten sich mit dem Meinungsumschwung Deutschlands verändert haben.
Das Rechtsetzungsvorhaben, mit dem die EU erstmals selbst sogenannte Maßnahmen positiver Diskriminierung ergreift, geht mit Missverständnissen einher. Im Fokus der geplanten Richtlinie steht keine Ergebnisquote, sondern ein Verfahren mit einer Vorrangregelung und einer Zielvorgabe. Ihr Ziel ist nicht Ergebnisgleichheit, sondern die Herstellung und Verwirklichung von Chancengleichheit. Deswegen überschreitet die EU mit der Richtlinie weder die Grenzen, die die Kompetenzgrundlage des Art. 157 Abs. 3 AEUV vorgibt, noch diejenigen, die der EuGH Maßnahmen der positiven Diskriminierung in seiner Rechtsprechung gezogen hat.
Was sieht der Richtlinienentwurf vor?
Die Richtlinie dient laut ihrem Titel der „Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht-geschäftsführenden Direktoren / Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften“. Der Frauenanteil auf diesen Posten liegt 2013 im EU-Durchschnitt bei 17,6%. In Art. 4 Nr. 1 der Richtlinie werden die Mitgliedstaaten verpflichtet zu gewährleisten, dass in börsennotierten Gesellschaften mit weniger als 40% Frauen unter den nicht-geschäftsführenden Direktoren / Aufsichtsratsmitgliedern Auswahlverfahren mit eindeutigen Kriterien geschaffen werden, die einen Vergleich der Qualifikation der Bewerber überhaupt erst ermöglichen. Bei gleicher Qualifikation soll grundsätzlich dem unterrepräsentierten Geschlecht der Vorrang eingeräumt werden, wenn nicht spezifische Kriterien zugunsten des anderen Kandidaten überwiegen (Art. 4 Nr. 3). Mithilfe dieses Auswahlverfahrens und der Vorrangregelung soll ein Frauenanteil von 40% erreicht werden – für öffentliche Unternehmen bis 2018, für alle anderen (kleine und mittelständische Unternehmen ausgenommen) bis 2020. Die 40%-Zielvorgabe kann auch dann als erfüllt gelten, wenn eine 33%-Quote in allen Leitungspositionen erreicht ist (Art. 4 Nr. 7). Für Verstöße gegen die mitgliedstaatlichen Umsetzungsvorschriften müssen die Mitgliedstaaten Sanktionen vorsehen (Art. 6).
Die Richtlinie zielt also in erster Linie auf ein transparentes Verfahren, das Chancengleichheit sichern und so zu einer ausgewogeneren Vertretung der Geschlechter führen soll. Die Sanktionen sollen nur an Verfahrensdefizite, nicht an das Nichterreichen des Prozentsatzes anknüpfen. Diesen Schwerpunkt auf dem Verfahren hat die Justizkommissarin von Anfang hervorgehoben und er wurde auch von den zuständigen Ausschüssen, dem EU-Parlament sowie Expertinnen für Gender Equality betont.
EuGH: Ausgleich zwischen formaler Gleichbehandlung und materieller Gleichheit
Ab Mitte der 1990er Jahre hat der EuGH mehrfach Gelegenheit erhalten, zu nationalen Vorrangregelungen und Quoten für Frauen Stellung zu nehmen. Die Entscheidungen beziehen sich auf die Gleichbehandlungsrichtlinie von 1976, die mitgliedstaatliche Maßnahmen „zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten“ ausdrücklich erlaubte. Eine ähnlich lautende Bestimmung wurde mit dem Vertrag von Amsterdam ins Primärrecht aufgenommen und findet sich heute in Art. 157 Abs. 4 AEUV und in verkürzter Form in Art. 23 Abs. 2 GrCh. Dass solche positiven Maßnahmen auf materielle und nicht rein formale Gleichheit zielen, hat der Gerichtshof im Laufe seiner Rechtsprechungsreihe immer deutlicher gemacht. Er hat die Vorschriften zu positiven Maßnahmen aber stets als Ausnahmen vom Gleichheitsgrundsatz aufgefasst. Dabei hat der Gerichtshof – zunächst unausgesprochen, in späteren Entscheidungen ausdrücklich – einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen dem Recht des Einzelnen auf Gleichbehandlung (formale Gleichheit) und der Beseitigung der faktisch weiterhin bestehenden Ungleichheiten (materielle Gleichheit) gesucht.
Es sei vorausgeschickt, dass die Entscheidungen des EuGH allesamt den öffentlichen Dienst und größtenteils Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen betrafen. Sie können daher möglicherweise nicht vollständig auf private Unternehmen und die Bestellung von Leitungsorganen übertragen werden, geben aber die Grundsätze vor.
Von Kalanke zu Marschall: Keine absoluten Vorrangregelungen
In der Rechtssache Kalanke entschied der EuGH, dass ein absoluter und unbedingter Vorrang von Frauen – bei gleicher Qualifikation und Unterrepräsentation von Frauen – eine Diskriminierung der Männer aufgrund des Geschlechts darstelle. Regelungen, die eine paritätische Verteilung von Männern und Frauen abstrebten, würden zudem die in der Richtlinie vorgesehene Förderung der Chancengleichheit durch Ergebnisgleichheit ersetzen und seien daher nicht von der eng auszulegenden Ausnahme umfasst. Das Ergebnis der gleichen Geschlechteranteile könne nur durch die Herstellung von Chancengleichheit erreicht werden.
Dieses streng formale Gleichheitsverständnis hat der Gerichtshof kurz darauf abgemildert und in Marschall Vorrangregelungen für Frauen als zulässig erachtet, wenn sie Öffnungs-oder Abwägungsklauseln enthalten. Gleiche (nicht nur ausreichende) Qualifikation und Unterrepräsentation vorausgesetzt, dürfen Bewerberinnen bevorzugt werden, wenn den Bewerbern in jedem Einzelfall eine objektive Beurteilung garantiert ist, bei der alle die Person der Bewerber betreffenden Kriterien berücksichtigt werden. Von Ergebnisgleichheit ist in dieser Entscheidung keine Rede mehr, auch wenn ein an die Unterrepräsentanz geknüpfter Vorrang auf eine 50%-Quote hinausläuft.
Der EuGH erkannte Vorrangregelungen mit Öffnungsklauseln vielmehr als Maßnahmen der materiellen Chancengleichheit an. Er führte aus, dass bestimmte Vorurteile und stereotype Vorstellungen gegenüber Frauen im Erwerbsleben bestünden und deswegen selbst bei gleicher Qualifikation tendenziell Männer gegenüber Frauen bevorzugt würden. Daher sei gleiche Qualifikation nicht mit Chancengleichheit gleichzusetzen. Quoten könnten zu diesen Verhaltensmustern ein „Gegengewicht“ bilden und dazu beitragen, „in der sozialen Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten zu verringern“. Die gleiche qualifikatorische Ausgangsposition von Männern und Frauen (formale Chancengleichheit) reicht demnach für tatsächliche Gleichheit nicht aus. Vorrangregelungen mit Ausnahmeklauseln stellen Chancengleichheit her und verwirklichen sie im Einzelfall (materielle Chancengleichheit).
Badeck: Keine absoluten Ergebnisquoten
In der Rechtssache Badeck entschied der EuGH über mehrere Regelungen des Hessischen Gleichberechtigungsgesetzes und zum ersten Mal nicht nur über Vorrangregelungen („Verfahrensquoten“), sondern auch über Ergebnisquoten. Er hat eine relative Mindestquote für befristete Stellen im wissenschaftlichen Bereich für zulässig gehalten, nach der der Anteil an Frauen mindestens dem Anteil entsprechen muss, den diese an den Absolventinnen und Absolventen, Promovierten und Studierenden des jeweiligen Fachbereichs stellen. Entscheidend war, dass sie keinen absoluten Höchstsatz festlegte, sondern sich an einer „tatsächlichen Größe“ – der Zahl der Frauen mit einer entsprechenden Ausbildung – orientierte.
Eine weitere Regelung betraf Verwaltungs- und Aufsichtsräte: diese sollten mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt werden. Der Generalanwalt hatte für die Unzulässigkeit dieser eignungsunabhängigen Quote plädiert. Der EuGH beanstandete die Ergebnisquote jedoch nicht, da es sich nur um eine Sollvorschrift handelte, die überdies die Einbeziehung anderer Kriterien ermöglichte. Auf Wahlen von Gremien sei sie nach bestehender Gesetzeslage sowieso nicht anwendbar. Und genau hier setzt der Richtlinienentwurf an: Er fordert von den Mitgliedstaaten, die Vorschriften zur Besetzung der Aufsichtsräte anzupassen, um im Wege des Verfahrens tatsächliche Chancengleichheit zu gewährleisten.
Richtlinienentwurf in doppelter Hinsicht nicht absolut
Die in der Richtlinie vorgesehene Vorrangregelung für das unterrepräsentierte Geschlecht kommt im Auswahlverfahren nur bei gleicher Qualifikation zum Tragen und ist nach den in Marschall entwickelten Kriterien ausgestaltet, lässt also die Erwägung besonderer Kriterien des jeweiligen Bewerbers zu. Dies hat der EuGH regelmäßig ausreichen lassen, um Vorrangregelungen als unionsrechtskonform zu beurteilen. Auf die Absolutheit der Quote selbst ist er nur eingegangen, wenn es sich um Ergebnisquoten handelte. Das Erreichen der 40% ist in der vorliegenden Ausgestaltung aber leistungsbezogen und kein Selbstzweck, das Nichterreichen ist auch nicht sanktionsbewehrt. Doch auch die 40%-Zielvorgabe dürfte für sich genommen den Anforderungen des EuGH genügen. Angeknüpft wird nicht an absolute Unterrepräsentanz und absolute Geschlechterparität (50%), vielmehr orientieren sich Anwendbarkeit und Ziel der Vorrangregelung an einer 40%-Marke. Die Zielvorgabe bleibt damit unter der von der Kommission genannten Bezugsgröße von einem 60%-Frauenanteil an den Hochschulabsolventinnen und soll einen Mittelweg zwischen „kritischer Masse“ (30%) und absoluter Geschlechtergleichheit darstellen. Weder die Vorrangregelung als „Verfahrensquote“ noch die Zielvorgabe als „Ergebnisquote“ gelten also absolut.
Fazit
Die im Richtlinienentwurf vorgesehenen Maßnahmen bezwecken materielle Chancengleichheit im Verfahren, nicht Ergebnisgleichheit. Damit fallen sie erstens unter den Begriff der Chancengleichheit in Art. 157 Abs. 3 AEUV und bewegen sich zweitens im Konzept materieller Chancengleichheit des EuGH. Die offene Frage lautet, ob der EuGH bei privaten Unternehmen in Anbetracht der Grundrechte aus Art. 16 und 17 GrCh einen anderen Maßstab für die Beurteilung von Quoten anlegen wird.
[styledbox type=“general shaded“ ]Literaturhinweis
Fritz Ossenbühl, Frauenquoten für Leitungsorgane von Privatunternehmen, NJW 2012, S. 417 ff.
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