Seit Wochen schwelte der Streit um einen (temporären) Weiterbetrieb der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke. Die Regierungsparteien wurden sich nicht einig, ob der Weiterbetrieb angesichts der aktuellen Energiekrise einerseits und erheblicher Sicherheitsbedenken andererseits zu verantworten ist. Mit seinem „Machtwort“ mittels Aktivierung seiner Richtlinienkompetenz hat Bundeskanzler Olaf Scholz den Streit nun zwar regierungsintern entschieden. Sein politisches Gewicht setzt er damit allerdings erheblichen Risiken aus.
Wenige Sachmaterien berühren die politische Identität einer Partei so sehr wie bei den Grünen die Frage nach der Atomkraft. Aus der Anti-Atombewegung entstanden stellt der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie einen der wesentlichen Aspekte der bündnisgrünen DNA dar. Umso empfindlicher trifft es deswegen die Regierungskoalition, wenn der Bundeskanzler sich auf sein regierungsinternes Machtmittel, seine Richtlinienkompetenz beruft, um den Streit um eine befristete Verlängerung der Kernkraftnutzung vielleicht nicht zu lösen, wohl aber zu beenden. Mit einem ordentlichen Paukenschlag, mit einem auch medial lauten Wumms wollte der Kanzler den brisanten Regierungsstreit beilegen. Indem Bundeskanzler Olaf Scholz den Weiterbetrieb der drei verbleibenden deutschen Kernkraftwerke zur offiziellen und einheitlichen Regierungslinie gemacht hat, mag er zwar seinen beiden zerstrittenen Koalitionspartnern einen gesichtswahrenden Ausweg aus der Streitigkeit verschafft haben. Für die eigene Autorität ist die Aktivierung der Richtlinienkompetenz allerdings riskant gewesen.
Regierungsautorität oder parlamentarische Selbstbehauptung – was überwiegt?
Dem Bundeskanzler steht kein Durchsetzungsmittel seiner Richtlinienkompetenz zur Verfügung. Er muss darauf vertrauen, dass die übrigen Regierungsmitglieder die Entscheidung des Bundeskanzlers – wenn auch widerwillig – mittragen. Innerhalb der Regierung mag die Entscheidung des Kanzlers noch dadurch abgesichert werden, dass ein Minister, der sein Amt weiter ausüben möchte, nicht in einer derart zentralen – oder zentral gemachten – Frage mit dem Kanzler auf Konfrontationskurs gehen wird. Der Bundeskanzler könnte nämlich den Bundespräsidenten nach Art. 64 Abs. 1 GG ersuchen, einen sich widersetzenden Minister zu entlassen und einen Minister zu ernennen, der den Anweisungen des Kanzlers Folge leistet. Ob dies aber ein taugliches Instrument ist, einen Minister des Koalitionspartners zu entlassen, ist mehr als fraglich. Der schwelende Koalitionskonflikt würde jedenfalls zweifellos intensiviert werden, zumal Robert Habeck, der sich im akuten Fall gegen die Laufzeitverlängerung eingesetzt hat der Vizekanzler ist. Diesen zu entlassen wäre natürlich rechtlich zulässig. Aber nicht alles, was rechtlich zulässig ist, ist politisch klug.
Schwieriger noch wird die Durchsetzung der Richtlinienentscheidung aber gegenüber dem Bundestag. Denn auch wenn die Minister der Regierungsparteien sich nicht offen dem Kanzler entgegenstellen, bedeutet dies noch nicht, dass die regierungstragenden Fraktionen im Bundestag die Richtlinienentscheidung ohne weiteres in ein Gesetz umsetzen. Die „Basta-Politik“ des Kanzlers stößt dabei den entsprechenden Parlamentsmitgliedern übel auf. Die Folgebereitschaft der Parlamentarier ist nicht selbstverständlich, die Grünen-Chefin Ricarda Lang hat Scholz Entscheidung bereits kurz darauf öffentlich in Frage gestellt.
Kein rechtliches, sondern ein politisches Risiko
Dies wirft die Frage auf was passiert, wenn der Bundestag sich selbstbewusst gegen die Richtlinienentscheidung positioniert und dem Regierungsentwurf nicht zustimmt. Scholz Position als Kanzler wäre dann erheblich geschwächt, seine Richtlinienkompetenz würde sich als zahnloser Tiger erwiesen haben. Es wäre bewiesen, dass Scholz „seine“ Regierungsparteien im Ernstfall bei zentralen Fragen nicht „auf Linie“ bringen könnte, eine Qualität, die für einen Regierungschef nicht nur in Polykrisenzeiten politisch überlebenswichtig ist. Das Grundgesetz bietet als Ausweg die Vertrauensfrage gem. Art. 68 GG, die der Kanzler gem. Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG mit einer Gesetzesabstimmung verbinden kann. In diesem Fall darf nur einheitlich abgestimmt werden, also „Ja“ zum Kanzler und zum Gesetz oder „Nein“ zum Kanzler und zum Gesetz. Ist den Regierungsfraktionen in diesem Fall das Weiterregieren wichtiger als die Sachfrage und sprechen Scholz das Vertrauen aus, hätte er seine Entscheidung durchgesetzt. Zu den inhaltlichen Differenzen innerhalb der Koalition käme dann allerdings eine zusätzliche Belastung durch einen wenig partnerschaftlichen Umgang miteinander. Ob dieses Mittel einen wirklichen Gewinn für die Koalition darstellt, kann man somit ernstlich bezweifeln.
An alledem wird deutlich, dass die Frage der Richtlinienkompetenz nicht so sehr eine rechtliche, wie eine politische ist. Durfte sich der Bundeskanzler auf seine Richtlinienkompetenz berufen, um ein hochumstrittenes Thema durchzusetzen? Ja, sicherlich. Kann er seine Richtlinienentscheidung gegen Widerstände behaupten, sodass eine Sachfrage letztverbindlich durch ihn entschieden wird? Ja, auch das. Worüber er sich allerdings vorher im Klaren sein muss ist, wie stabil die Koalition zusammenhält. Kann die Regierung es politisch aushalten, wenn rote Linien eines Partners überschritten werden? Welche politischen Folgen bringt die rechtlich erlaubte Nutzung der Durchsetzungsinstrumente des Bundeskanzlers mit sich? Weil die Gubernative diese politische Entscheidung nur durch politischen Druck, nicht aber gleich einer Verwaltungsentscheidung durch rechtsförmige Vollzugsakte durchsetzen kann, sind die beiden zuletzt gestellten Frage solche, die der Bundeskanzler zu bedenken hat, wenn er entscheidet, ob er über die politische Autorität verfügt, seine Entscheidung auch gegen Widerstand aus den eigenen Reihen durchzusetzen. An dieser Frage hängt die weitere politische Handlungsfähigkeit des Kanzlers in politisch umstrittenen Bereichen.
Ausblick
Ob der Kanzler sich durchsetzt, entscheidet das Parlament. Können sich die regierungstragenden Fraktionen durchringen, die Linie der Bundesregierung mitzugehen, ist es Olaf Scholz gelungen, seine Autorität als Kanzler zu wahren. Insbesondere die Grünen müssten aber erhebliche Einschnitte in einem ihrer zentralsten politischen Anliegen um des gemeinsamen Regierens willen in Kauf nehmen. Ob sie dies vor ihrer Basis – auch nach einem Nachgeben in sensiblen Politikfeldern wie etwa den Rüstungsexporten – verantworten können ist mehr als fraglich. Verweigern die Regierungsparteien die Gefolgschaft, so muss der Koalitionsfriede, der schon lange bröckelt, erneut einen schweren Schlag einstecken. Dies könnte sich auch aus Sicht des Kanzlers negativ auf andere politisch umstrittene Projekte – man denke an den Teilverkauf des Hamburger Hafens an eine chinesische Reederei – auswirken. Die Macht des Kanzlers droht zu kippen. Dass allerdings die Autorität und das politische Fortkommen des Kanzlers derart vom Bundestag abhängt ist das Wesen der parlamentarischen Demokratie. Es wird hieran insbesondere deutlich, dass die rechtlich zulässigen Instrumente, die das Grundgesetz der Regierung zum Regieren an die Hand gibt, nur so effektiv sind, wie sie auch mit politischem Geschick genutzt werden können. Hierbei sind mehr Faktoren zu berücksichtigen als das Grundgesetz vorsieht. Aspekte wie der Koalitionsfriede oder Vertretbarkeit vor der Parteibasis kennen die Regelungen des VI. Abschnitts unserer Verfassung nicht. Relevant für das politisch Überleben der Regierung sind sie allerdings trotzdem.
Zitiervorschlag: Schröder, Christoph, Kanzlerwumms oder Basta-Politik?, JuWissBlog Nr. 60/2022 v. 26.10.2022, https://www.juwiss.de/60-2022/.
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