Vor knapp einer Woche, am 02.03.2020, jährte sich das Urteil des BVerwG zum Anspruch auf Erlaubniserteilung durch des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung zum dritten Mal. In der Verwaltungspraxis hat sich dieses qua Order des Bundesgesundheitsministers jedoch bisher nicht ausgewirkt. Dies wird im Folgenden – in einem ersten Teil – insb. im Hinblick auf die Bindungswirkung des BVerwG-Urteils analysiert und – in einem zweiten Teil – mit dem lang erwarteten und vorletzte Woche ergangenen Suizidhilfe-Urteil des BVerfG in Verhältnis gesetzt.
„[…] Da geht es um mehr, da geht es um Grundsätzliches. Genau deshalb war es aus meiner Sicht wichtig, das Urteil des BVerfG abzuwarten, bevor sich Regierung und Parlament erneut mit dieser Frage beschäftigen. Dieser generelle Ausschluss ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, hat das Bundesverfassungsgericht heute entschieden. […] Gleichzeitig wäre es falsch, wenn Behörden über Leben und Tod entscheiden müssten. Das BVerfG hat in seinem Urteil heute festgestellt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf. Aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. Für mein Verständnis gilt das auch für Behörden. Das BVerfG hat nicht über die Auslegung des BtMG geurteilt, also auch nicht über die Frage, ob das BfArM den Erwerb eines tödlich wirkenden Betäubungsmittels erlauben muss. Dazu läuft ein weiteres separates Verfahren. […]“
Dies ließ Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als Reaktion auf das BVerfG-Urteil vom 26.02.2020 zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB auf seiner Pressekonferenz am selben Tag verlauten. Gleichzeitig kündigte er an, nach einer ausführlichen Prüfung von Urteil und Begründung entsprechende Schlüsse für Gesetzgebung und Regierungshandeln zu ziehen. Wie er mit seinen Ausführungen gegen Ende des Zitats aber schon andeutete, scheint die Hoffnung, dass ein die Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB feststellendes Urteil etwas an der – im Konflikt zum BVerwG-Urteil vom 02.03.2017 stehenden – Ablehnungspraxis des BfArM bzgl. der Erteilung einer Erwerbserlaubnis für Natrium-Pentobarbital ändern würde, zerschlagen: Spahn verwies auf das vom VG Köln eingeleitete Normenkontrollverfahren und gab an, dass die vorliegende Entscheidung nichts über diese Situation aussage.
Hintergrund
§ 3 I Nr. 1 Var. 9 BtMG statuiert die Erlaubnispflicht für den Erwerb von Betäubungsmitteln, § 4 I Nr. 3 lit. a eine Ausnahme hiervon bei ärztlicher Verschreibung. Dies gilt auch für das von Suizidwilligen begehrte Natrium-Pentobarbital. Abgesehen von der Problematik, einen Arzt zu finden, der gegen das föderal weit verbreitete berufsrechtliche Verbot der Suizidhilfe (vgl. auch § 16 S. 2 der MusterberufsO) verstößt, setzt eine Verschreibung gem. § 13 I 1 BtMG eine Indikation voraus, wobei umstritten ist, ob die Selbsttötung als Heilbehandlung qualifiziert werden kann. Verneint man dies und hält eine Erlaubnis daher für erforderlich (oder findet sich kein williger Arzt), stellt sich das entsprechende Problem bei der Auslegung des Begriffs der „Sicherstellung der medizinischen Versorgung“ des Versagungsgrundes des § 5 I Nr. 6. Hieraus ergibt sich, dass ein Suizid mit Betäubungsmitteln entweder aufgrund der Unmöglichkeit der Verschreibung oder wegen des Erlaubnisverbots in aller Regel nicht möglich ist.
Das BVerwG nahm 2017 eine verfassungskonforme Auslegung der Normen vor, woraus es einen Anspruch auf Erlaubniserteilung unter engen Voraussetzungen herleitete:
„Das Verbot dient […] dem Schutz von Menschen in vulnerabler Position und Verfassung vor Entscheidungen, die sie möglicherweise voreilig, in einem Zustand mangelnder Einsichtsfähigkeit oder nicht freiverantwortlich treffen, sowie der Verhinderung von Missbrauch. […] Diese Ziele können das Verbot, Betäubungsmittel zum Zweck der Selbsttötung zu erwerben, im Lichte von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG aber nicht mehr rechtfertigen, wenn sich der Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet. Das ist der Fall, wenn – erstens – die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können […] – zweitens – der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen und ihm – drittens – eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.“ (Rn. 30 f.).
Dieses von den Betroffenen gefeierte Urteil schlug sich jedoch nie in der Entscheidungspraxis des zuständigen BfArM nieder, denn Bundesgesundheitsminister Spahn gab die Anweisung, das Urteil nicht anzuwenden. So wurden 93 von 123 Anträgen bis Anfang 2019 abgelehnt, 22 Antragsteller verstarben während der Wartezeit. Nach Informationen des Tagesspiegels wurden durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) vor der „Bitte“ des Gesundheitsministers (Nichtanwendungsanweisung) zudem das Folgeleisten, das Hinauszögern von Entscheidungen, ein Normbestätigungsverfahren gem. Art. 93 I Nr. 2 GG oder ein gesetzgeberisches entgegenlaufendes Tätigwerden erwogen. Die Entscheidung gegen eine Anwendung des Urteils wurde einerseits damit begründet, dass die ethische Brisanz nach dem Gesetzgeber rufe (so seinerzeit Minister Hermann Gröhe), andererseits unter Verweis auf § 217 StGB (Spahn).
Diese Praxis wurde gewissermaßen abgesichert durch ein Auftragsgutachten von Udo Di Fabio, in dem dieser einen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht und eine Schutzpflicht der Verschaffung von oder Zugangsgewährung zu notwendigen Mitteln verneinte und eine Kompetenzüberschreitung des BVerwG gegenüber dem Gesetzgeber annahm. Dieses wurde stark kritisiert.
Im Gegensatz zu den Leipziger Kollegen sieht das mit einer auf die BVerwG-Rechtsprechung gestützten Klage befasste VG Köln aufgrund des Wortlauts der BtMG keine Spielräume für eine verfassungskonforme Auslegung des BtMG, weshalb es das BVerfG gem. Art. 100 I GG angerufen hat. Auf die Anhängigkeit dieses Verfahrens zieht sich Spahn jetzt nach Ergehen des BVerfG-Urteils in Sachen § 217 StGB zurück.
Der „Nichtanwendungserlass“ und die Bindung an Gerichtsentscheidungen
Schon das BMG bezeichnete eine Anweisung zur Nichtbefolgung des Urteils als „rechtsstaatlich problematisch“. Doch woraus kann man dies ableiten; woraus folgt die Bindung der Exekutive an eine Entscheidung des BVerwG?
In der VwGO existiert keine die Bindung anordnende Norm entsprechend § 31 BVerfGG, auch handelt es sich bei Entscheidungen um kein Recht i.S.d. Vorrangs des Gesetzes des Art. 20 III GG (denn sonst wären auch die Richter selbst an vorherige Urteile gebunden).
Jedoch wird aus Art. 1 III, 20 III GG auch die Gewaltenteilung hergeleitet. Die beabsichtigte gegenseitige Kontrolle und Machtbegrenzung kann nur funktionieren, wenn die Gewalten die im jeweiligen alleinigen Zuständigkeitsbereich getroffenen Entscheidungen akzeptieren und befolgen. Die Nichtbefolgung von Urteilen durch die Regierungen scheint jedoch in jüngerer Zeit zu einer Tradition zu werden (Fälle Wetzlar, Sami A., Dieselfahrverbote in München), obwohl unser Rechtsstaat bei massiven Zweifeln an der Richtigkeit von gerichtlichen Entscheidungen Instrumente bereithält: neben Rechtsmitteln notfalls den Gang vor das BVerfG. Angesichts der Gefahr einer Niederlage erscheint letzteres natürlich oft politisch nicht opportun, weshalb auch das BMG ein Normenkontrollverfahren ablehnte.
Auch aus der einzelfall- und parteibeschränkten Wirkung der meisten Klagen vor den Verwaltungsgerichten (vgl. § 121 VwGO) ergibt sich insofern nichts anderes. Bei höchstrichterlichen Entscheidungen erscheint eine Nichtbeachtung von Entscheidungen auch noch problematischer angesichts der Aufgabe des Gerichts, für eine einheitliche Rechtsauslegung zu sorgen (vgl. hierzu § 132 VwGO und die Aufzählung der Gründe für die Zulassung der Revision).
Fazit
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die exekutive Nichtbeachtung der verbindlichen Feststellung der (komplizierten) Rechtslage durch das BVerwG rechtsstaatlich betrachtet schon formell äußerst bedenklich ist. Ob das neue Urteil des BVerfG zu § 217 StGB diese Einschätzung – entgegen der Äußerung Spahns – auch in materieller Sicht bestätigt, wird im zweiten Teil dieses Beitrags zu klären sein.
Zitiervorschlag: Lemmert, Drei Jahre nach dem Urteil des BVerwG – Die Erwerbserlaubnis für letal wirkende Medikamente und das Suizidhilfe-Urteil des BVerfG (Teil I), JuWissBlog Nr. 21/2020 v. 10.3.2020, https://www.juwiss.de/21-2020/.
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2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielleicht wäre es mal an der Zeit für eine Unterschriftenaktion wie damals gegen § 217 StGB. Wird der Rechtsstaat weiter zerstört können letztlich alle Juristen ihren Job an den Nagel hängen.
[…] der Zwischenzeit (vgl. zu diesem Komplex und den daraus folgenden rechtsstaatlichen Problematiken hier). Letztere zynische Folge trat im Übrigen auch im Vorlageverfahren 1 BvL 3/20 ein, welches durch […]