von KUBILAY YALÇIN
Der Berliner Verfassungsgerichtshof hat die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen vom 26. September 2021, bei denen es zu außergewöhnlich schweren und vielen Unregelmäßigkeiten kam, vollständig für ungültig erklärt (Urteil vom 16. November 2022 – VerfGH 154/21). Ausgerechnet an der entscheidenden Stelle – der Abwägung zwischen dem Bestands- und Korrekturinteresse der Wahl – verzichtet er auf tiefgehende Argumentation. Damit wird das Gericht nicht nur seinem eigenen Anspruch nicht gerecht, sondern versäumt es, belastbare wahlprüfungsrechtliche Maßstäbe für etwaige zukünftige Fälle aufzustellen.
Von guten Absichten: Notgedrungener Pragmatismus trifft auf hohe Formalität des Wahlrechts
Die „schweren systemischen Mängel“, die der Verfassungsgerichtshof der Vorbereitung der Wahl attestiert, würden diese „zu einem wohl einmaligen Vorgang in der Geschichte der Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland“ machen (S. 33). Obwohl zahlreiche Vorbereitungsdefizite bekannt gewesen seien, sei wahlfehlerhaft weder die verantwortliche Landeswahlleitung ihrer Kontroll- und Koordinierungsfunktion aus § 6 LWO nachgekommen, noch die Senatsinnenverwaltung, der gemäß § 1 LWO die allgemeine Aufsicht zusteht, in einem ausreichenden Maß ergänzend eingeschritten (S. 34 ff.). In der Wahldurchführung, für die nach §§ 6, 7 Abs. 1 LWO auch die Bezirkswahlleitungen verantwortlich sind, sei es dann zu Wahlfehlern gekommen, infolge derer viele Menschen nicht, nicht wirksam, unter unzumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst gewählt hätten (S. 50 ff.).
Die Vorbereitungsdefizite sollten am Wahltag notgedrungen durch pragmatische Lösungen ausgeglichen werden, die aber an der hohen Formalität des Wahlrechts scheiterten. So hatten Bezirkswahlleitungen benötigte Stimmzettel während des Wahlvorgangs durch Ausschneiden, Kleben und Kopieren selbst hergestellt. Diesen bescheinigt das Gericht eine „gute Absicht“, die aber im Lichte hoch formaler Anforderungen – in dem Fall an denen des § 49 LWO an Form und Inhalt der Stimmzettel – keinen Bestand habe (S. 55).
Verfassungsgerichtshof verzichtet an der entscheidenden Stelle auf Argumentation
Wird von einer Mandatsrelevanz festgestellter Wahlfehler ausgegangen (ab S. 62; Verständnis des Grundsatzes der potenziellen Kausalität strittig, siehe das Sondervotum von Prof. Ulrike Lembke ab S. 152), hängt das Ergebnis des Wahlprüfungsverfahrens im entscheidenden Schritt von einer umfassenden Abwägung von Bestands- und Korrekturinteresse der Wahl zum Zwecke der wahlprüfungsrechtlich gebotenen Fehlerfolgenbegrenzung ab (S. 141 ff.). Obwohl das Gericht anerkennt, dass die vollständige Ungültigerklärung der Wahlen mit Erst- und Zweitstimme den „weitestgehenden Eingriff“ darstellt (S. 32), fällt bereits auf, dass die Abwägung mit ungefähr acht Seiten beträchtlich knapp gehalten wurde. Dabei war im Verfahren von Anfang an nicht nur die Tatsachengrundlage strittig, sondern in Anbetracht der Präzedenzlosigkeit gerade ihre Einordnung auf Rechtsfolgenseite.
Vorbereitungsdefizite verklammern Wahlkreise zu einer Schicksalsgemeinschaft
Positiv festgestellt hat das Gericht, dass 20.724 (potenzielle) Stimmabgaben in ganz Berlin von Verletzungen der Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit der Wahl betroffen waren (siehe die abschließende Tabelle auf S. 138). Werden die fehlerhaften Annahmen der Wahlleitung zur Berechnung der betroffenen (potenziellen) Stimmen zugrunde gelegt, erhöht sich diese Zahl auf 30.138. Zwischen den Wahlkreisverbänden (Bezirken) bestehen dabei große Unterschiede. Während in Pankow, Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf mehrere tausend (potenzielle) Stimmen betroffen sind, sind es in Treptow-Köpenick und Marzahn-Hellersdorf einige hundert. Der Verweis des Gerichts darauf, dass die Berechnung der Sitzverteilung des Abgeordnetenhauses (§§ 17 bis 19 LWahlG) es nötig mache, die Zweitstimmen im gesamten Stadtgebiet einheitlich zu betrachten (S. 145), geht offensichtlich fehl. § 42 Abs. 1 Nr. 7 VerfGHG sieht ausdrücklich vor, dass die Ungültigkeit einer Wahl für das gesamte Wahlgebiet (Berlin), einzelne Wahlkreisverbände oder Wahlkreise ausgesprochen werden kann. Diese Möglichkeit ist Ausfluss des wahlprüfungsrechtlichen Gebots des geringstmöglichen Eingriffs. Der Bundestag hat sich gerade mit diesem Gedanken für eine teilweise Wiederholung der Bundestagswahl in 431 Wahlbezirken (Wahllokalen) ausgesprochen.
Dass das Vorbereitungsdefizit in vielen Wahlbezirken und Wahlkreisen zu keinen mandatsrelevanten Wahlfehlern am Wahltag selbst führte, wird aber mit diesem Argument nicht mehr in die Abwägung einbezogen. Die Argumentation beginnt auf Ebene der Wahlkreisverbände. Im Ausgangspunkt kann das Vorbereitungsdefizit für sich, also ohne, dass der konkrete Wahlablauf am Wahltag gestört war, aber die Zusammensetzung des Parlaments nicht beeinträchtigt haben (vgl. auch abweichende Meinung Lembke, S. 157). Auf einer nur halben Seite erhebt das Gericht die Vorbereitungsdefizite ohne tragfähige Begründung auf den Rang eines solchen Wahlfehlers, der keines positiv festgestellten mandatsrelevanten Wahlfehlers am Wahltag selbst bedarf (S. 145). Die fehlerhafte Wahlvorbereitung verklammert von mandatsrelevanten Wahlfehlern am Wahltag betroffene und nicht betroffene Wahlkreise zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Die Wahl als einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens
Erst nachdem das Gericht alle abgegebenen Zweitstimmen auf diese Weise verklammert hat (derzeit 69 Sitze über die Landeslisten), bemüht es – für die Erststimmen in 59 von 78 Direktwahlkreisen, für die es keine mandatsrelevante Wahlfehler am Wahltag feststellte – das Bild der Wiederholungswahl als „einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zum ursprünglichen Wahlzeitpunkt“ (S. 147). Die Repräsentation des Volkswillens sei nur dann gesichert, wenn Wahlen „den Willen der Wählenden zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden“ (S. 146). Ab einem bestimmten Umfang schlage die punktuelle Wiederholungswahl in eine komplette um. Diesem Gedanken der Wahl als einheitlichen Integrationsvorgang ist grundsätzlich beizupflichten: Dass der Berliner Souverän in einigen Bezirken seine Wahlentscheidung in Kenntnis der Wahlergebnisse von 2021 und der gebildeten Senatskoalition sowie im Lichte beispielsweise der Energiekrise und des russischen Angriffskrieges revidieren kann, während er in anderen Bezirken an sein Votum von vor mehr als einem Jahr gebunden ist, ist gleichheitsrechtlich nicht unproblematisch. Die neue Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses basierte dann auf einem fraktionierten Volkswillen.
Im Ausgangspunkt entspricht es aber dennoch der wahlprüfungsrechtlichen Wertung und dem Fehlerfolgen begrenzenden Gebot des geringstmöglichen Eingriffs, eine Uneinheitlichkeit des Wahlvorganges bis zu einem bestimmten Umfang auszuhalten. Gerade diesen Kipppunkt hätte der Verfassungsgerichtshof definieren müssen (vgl. abweichende Meinung Lembke, S. 164 f.). Stattdessen schneidet er seine ohnehin kurze Argumentation offenbar bewusst ab und bejaht vorschnell das Erreichen einer kritischen Masse an betroffenen Parlamentssitzen, indem es voraussetzt, dass berlinweit ohnehin alle Zweitstimmen (69 Sitze) für ungültig erklärt werden müssten (siehe vorherigen Abschnitt). Es addiert sie mit den am Wahltag von mandatsrelevanten Wahlfehlern betroffenen 19 Erststimmensitzen (für Lembke sind es sechs, S. 154 ff.) und kommt zum Ergebnis, dass bei den damit schon „infizierten“ rund 60 Prozent der Abgeordnetenhaussitzen die Wahl auch in allen weiteren Erststimmenwahlkreisen wiederholt werden muss. Das Gericht hätte die Unteilbarkeit der Wiederholungswahl aber bereits anhand der sehr unterschiedlich betroffenen Wahlbezirke oder jedenfalls Wahlkreise entwickeln müssen. Dann wäre ein viel größerer Argumentationsaufwand nötig geworden. In Anbetracht dessen, dass nur für einen Bruchteil der Wahlbezirke mandatsrelevante Fehler am Wahltag registriert wurden (auch erhöhte Wartezeiten in höchstens 13 Prozent der Wahllokale; siehe abweichende Meinung Lembke, S. 163) wäre sogar ein anderes Prüfungsergebnis denkbar gewesen.
Das Gericht bezeichnet sein Ergebnis, dass in Wahlkreisverbänden, in denen sich „die mangelhafte Vorbereitung der Wahl weniger, in Teilen sogar erheblich weniger ausgewirkt hat als in anderen Wahlkreisverbänden“, erneut gewählt werden müsse, als „schwerwiegende Nebenfolge der Entscheidung“ (S. 148). Dass die große Mehrheit der Wahlbezirke denjenigen folgen soll, für die mandatsrelevante Wahlfehler positiv festgestellt wurden, ist jedoch keine „Nebenfolge“, sondern Quintessenz des Urteils, welche dessen Schlagkraft begründet und einer viel tiefergehenden Argumentation bedurft hätte. Schließlich darf „die Entscheidung […] nur so weit gehen, wie es der festgestellte Wahlfehler verlangt“ (S. 143). So diente die Rechtsfolgenprüfung des Gerichts letzten Endes aber nicht einer Begrenzung, sondern Ausweitung von Fehlerfolgen.
Gute Absichten auch aufseiten des Gerichts
Die Berliner Wahlen vom 26. September 2021 wurden in einer Weise vorbereitet, welche dem in repräsentativen Demokratien zentralen Beteiligungsakt unwürdig sind. In vielen Wahlkreisen wirkte sich dies aus. Das Urteil des Berliner Verfassungsgerichtshofes ist aber jedenfalls unvollständig. Dass es seine Argumentation unter Nennung der – allenfalls so gehofften – Einmaligkeit des zu entscheidenden Falles offenbar bewusst abschnitt, hat zur Folge, dass es keine tauglichen Entscheidungskriterien für ähnlich gelagerte zukünftige Fälle hervorbringen konnte. Wann und warum genau eine punktuelle Wiederholungswahl zu einer kompletten umschlägt oder umschlagen muss, bleibt unklar. Eine Art Infizierung der gesamten Wahl durch Erreichen einer kritischen Masse von Wahlfehlern wohnt der Entscheidung inne, wird aber nicht ausreichend aufgegriffen; ihr Verhältnis zum Gebot des geringstmöglichen Eingriffs bleibt fraglich. Den Vorwurf, dass die vollständige Ungültigerklärung der Wahlen vom 26. September 2021 damit mehr Fragen als Antworten aufwirft, muss das Gericht aushalten. Es bleibt hinter seinem großen Anspruch, seiner guten Absicht, „die Vertrauensbasis des demokratischen Staates im Land Berlin“ wiederherzustellen (S. 147), zurück (vgl. abweichende Meinung Lembke, S. 163).
Disclaimer: Verf. ist am 26. September 2021 in die Bezirksverordnetenversammlung von Tempelhof-Schöneberg gewählt worden und war deshalb am Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof beteiligt.
Zitiervorschlag: Yalçın, Kubilay, Vollständige Ungültigerklärung der Berliner Wahlen – eine vertane Chance, JuWissBlog Nr. 72/2022 v. 14.12.2022, https://www.juwiss.de/72-2022/.
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