Der Rechtsprechungsvorbehalt des Bundesverfassungsgerichts zur Autonomie der Länder in ihren Verfassungsräumen – tatsächlich Solange III?

von RICO NEIDINGER

Zugleich eine Besprechung von BVerfG B. v. 25.01.2023 – 2 BvR 2189/22 – Wiederholungswahl Berlin – eA

Nach langer Wartezeit hat das Bundesverfassungsgericht am 17. Mai 2023 die Begründung seines Beschlusses vom 25. Januar 2023 nachgereicht, mit dem der einstweilige Antrag auf Aussetzung der Berliner Wiederholungswahl abgelehnt wurde. Die Entscheidung enthält zentrale Weichenstellungen für das Verhältnis der Verfassungsgerichte zwischen Bund und Länder im staatsorganisatorischen Bereich, zeitigt aber auch Rückwirkungen auf die Grundrechtsdogmatik und das Verfassungsprozessrecht.

Die Entscheidung

Das Bundesverfassungsgericht lehnt den Antrag auf eine einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG wegen der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache ab. Zentraler Argumentationstopos des Gerichts für die Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist der autonome Verfassungsraum der Länder, in den Übergriffe durch die Bundesstaatsgewalt und damit auch des Bundesverfassungsgerichts wegen des Bundesstaatsprinzips auf das Nötigste zu beschränken seien (Rn. 112, 119 f.). Das Grundgesetz stelle mit Art. 28 I 2 GG zwar Anforderungen an das Wahlrecht in den Ländern, diese Norm sei allerdings nur objektiv-rechtlich ausgestaltet und vermittle gerade keine subjektiven und damit rügefähigen Rechtspositionen.

Das Bundesverfassungsgericht geht aber noch weiter: Dem Grundsatz, dass ein Land bei Wahlen in seinem Verfassungsraum den subjektiven Grundrechtsschutz grundsätzlich allein und abschließend gewähre, entnimmt es eine Sperrwirkung für die Rüge von Verletzungen weiterer Grundrechte und grundrechtsgleicher Rechte, insbesondere der Justizgrundrechte (Rn. 115 ff.). Das bedeutet insbesondere, dass ein Antragsteller sich grundsätzlich nicht auf den Entzug des gesetzlichen Richters (Art. 101 I 2 GG) wegen einer Missachtung der Vorlagepflicht gem. Art. 100 III GG berufen kann.

Sowohl den Ausschluss der Rügefähigkeit von Art. 28 I 2 GG als auch die Sperrwirkung stellt das Bundesverfassungsgericht unter den Vorbehalt der Einhaltung des Homogenitätsgebots aus Art. 28 I GG (Rn. 131 ff.). Deshalb wird die Entscheidung in der einschlägigen Fachöffentlichkeit schon als „Solange III“ betitelt bzw. zumindest in die Nähe der entsprechenden frühen europarechtlichen Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts (Solange I und II) gerückt (vgl. Sauer). Ob dieser Vergleich zutreffend ist, soll näher untersucht werden. Dabei ist zwischen dem Vorbehalt zu Art. 28 I 2 GG und jenem bei der Sperrwirkung zu differenzieren.

Vorbehalt zu 28 I 2 GG

Im Ergebnis zu Recht lehnt das Bundesverfassungsgericht zunächst die Rügefähigkeit von Art. 28 I 2 GG ab. Es argumentiert dabei mit dem Fehlen einer rügefähigen subjektiven Rechtsposition, da Art. 28 I 2 GG lediglich objektivrechtliche Gebote enthalte, die sich auch nicht unter Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit oder den Gleichheitssatz „versubjektivieren“ ließen. Der Weg der Begründung scheint umständlich, hätte das Bundesverfassungsgericht doch schlicht direkt auf das Fehlen von Art. 28 I 2 GG im Katalog der rügefähigen Rechte in Art. 93 I Nr. 4a GG abstellen können. Das Gericht geht demgegenüber implizit – wohl in Anlehnung an das nicht unumstrittene „Grundrecht auf Demokratie“ – davon aus, dass Art. 28 I 2 GG prinzipiell zu den verfassungsbeschwerdefähigen Rechten zählt, wenn es den „Ausschluss der Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG wegen einer Verletzung der Wahlgrundsätze des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG“ unter den „Vorbehalt einer Beachtung der Bindung der Länder an die Homogenitätsanforderungen des Art. 28 Abs. 1 GG“ stellt (Rn. 114).

Dieser Vorbehalt wirft außerdem dogmatische Fragen auf, hat er doch zur Folge, dass eine eigentlich objektivrechtliche Gewährleistung ausnahmsweise an ihren äußersten Grenzen doch einen subjektiven Kern bekommt und mittels Verfassungsbeschwerde rügefähig sein soll. Das dehnt nicht nur den Katalog von Art. 93 I Nr. 4a GG aus, sondern bricht erheblich in die Dogmatik der Unterscheidung zwischen subjektiven Rechten einerseits und bloß objektivrechtlichen Gewährleistungen andererseits ein. Das Bundesverfassungsgericht weitet damit im Ergebnis seine Prüfungskompetenz sogar aus, indem es die Einhaltung des Homogenitätsgebots in Art. 28 I GG als rügefähig betrachtet. Da die Entscheidung jedenfalls keinen ausdrücklichen „Vorbehalt zum Vorbehalt“ etwa dergestalt enthält, dass im Hintergrund zumindest der Bezug zu einem subjektiven Recht erkennbar sein muss, besteht die prinzipielle Möglichkeit, dass sämtliches Staatsorganisationsrecht der Länder auf die Einhaltung des Homogenitätsgebots individuell mittels Verfassungsbeschwerde überprüfbar wird. Begrenzend könnten allenfalls die weiteren Kriterien der Beschwerdebefugnis – insbesondere die gegenwärtige und eigene Betroffenheit – wirken. Der Vorbehalt zu Art. 28 I 2 GG ist damit dem europarechtlichen Identitätsvorbehalt wesentlich näher als der entsprechenden Grundrechtsjudikatur in Solange I und II.

Vorbehalt bei der Sperrwirkung

Anders sieht es bei der Sperrwirkung im Grundrechtsbereich aus. Hier erscheint die Figur der Sperrwirkung – wie zu zeigen sein wird – selbst dogmatisch zumindest fraglich, während sich der Vorbehalt innerhalb dessen relativ einfach einfügt. Dies hängt mit den unterschiedlichen Ausgangspunkten zusammen. Während im Vorbehalt zu Art. 28 I 2 GG eine Ausweitung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu sehen ist, beschränkt die Sperrwirkung zunächst eine eigentlich bestehende Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts, die der Vorbehalt hinsichtlich der Einhaltung des Homogenitätsgebots wieder aufleben lässt. Damit kommt die Gestaltung des Instruments tatsächlich an jene von „Solange II“ heran.

Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Sperrwirkung überzeugt nur mäßig (so auch Sauer). Insbesondere, soweit das Gericht der Auffassung ist, dass die Verfassung im Bereich der Länderautonomie ein „Mehr an Rechtsschutz“ nicht fordere (Rn. 120), verkennt es die Bedeutung der Vorlagepflicht der Landesverfassungsgerichte bei abweichenden Entscheidungen gem. Art. 100 III GG und die damit bezweckte Wahrung der Rechtseinheit. Das Bundesverfassungsgericht selbst hält eine Kontrolle der Wahlrechtsgrundsätze in Art. 28 I 2 GG mittels der objektiven Verfahren der Normenkontrolle oder der Richtervorlage für möglich und betont diesbezüglich auch die Vorlagepflicht gem. Art. 100 III GG (Rn. 113). Dass es auch in diesen Verfahren seinen – materiellen – Prüfungsumfang einschränkt, ist nicht ersichtlich. Andernfalls würde Art. 28 I 2 GG leerlaufen. Der Ausschluss der allgemein anerkannten mittelbaren Rügefähigkeit von Art. 100 III GG über das Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 I 2 GG scheint damit gänzlich von der Erwägung getragen, nur den subjektiven Rechtsschutz in Wahlprüfungsverfahren einzuschränken. Denn das Grundgesetz dringt mit Art. 28 I 2 GG eben doch in den Verfassungsraum der Länder ein, woran die objektivrechtliche Fassung der Norm wegen der objektiven Verfahrensarten gerade nichts ändert (so aber scheinbar Rn. 121; wie hier: BVerfGE 99 1/12). Die Gewährung von Länderautonomie läuft damit Gefahr, zu einem vorgeschobenen Argument zu werden.

Zielführender und dogmatisch überzeugender wäre es gewesen, die durchaus zutreffende Feststellung, dass das Grundgesetz im Bereich der subjektiven Wahlrechtsprüfung auf Länderebene keine direkte individuelle bundesverfassungsgerichtliche Überprüfung vorsieht, in der Begründetheit mittels eines eingeschränkten Prüfungsumfangs – etwa unter analoger Verwendung des Bilds der negierten Superrevisonsinstanz – zu berücksichtigen. Damit könnte der Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht bei subjektiven Wahlprüfungsbeschwerden zu einer zweiten Instanz würde (Rn. 122), wirksam begegnet werden. Freilich hätte so der Antrag auf einstweilige Anordnung nicht wegen Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache abgewiesen werden können.

Exkurs: Einbindung in den Prüfungsaufbau

Klärungsbedürftig ist auch, wie diese im Kern materiell-rechtliche Entwicklung verfassungsprozessual in den Gutachtenaufbau einzugliedern ist. Das Bundesverfassungsgericht verortet die Thematik in der Zulässigkeit und spricht zunächst allgemein von der „Statthaftigkeit“. Sauer schlägt deshalb einen eigenständigen Prüfungspunkt für die Sperrwirkung vor. Der Beschluss enthält aber durchaus einen Hinweis auf die zutreffende Verortung: In Rn. 116 stellt das Gericht zunächst fest, dass Judikate der Verfassungsgerichte grundsätzlich als Akte der öffentlichen Gewalt tauglicher Gegenstand von Verfassungsbeschwerden sein können, und schränkt dies dann („anderes gilt aber dann …“) für Streitigkeiten im Verfassungsraum der Länder ein, verneint mithin einen tauglichen Beschwerdegegenstand. Es scheint deshalb konsequent, bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt das Thema im Rahmen des Beschwerdegegenstands zu prüfen. Auch dies wird aber zu einer sehr „kopflastigen“ Prüfung führen. Erwägenswert wäre es deshalb, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde die Rügefähigkeit von Art. 28 I 2 GG bei der Beschwerdebefugnis auszuschließen, ein landesverfassungsgerichtliches Urteil als tauglichen Beschwerdegegenstand anzusehen, damit hinsichtlich der Grundrechte bzw. grundrechtsgleichen Rechte im Übrigen von der Zulässigkeit auszugehen und die Einschränkungen durch den autonomen Verfassungsraum der Länder im Rahmen der Begründetheit zu diskutieren. Damit könnte in der Zulässigkeit das bekannte Schema verwendet werden und die eigentlich materiellrechtliche Entwicklung würde am Ort ihres Entstehens geprüft werden können.

Fazit

Der Beschluss reiht sich in die in jüngerer Zeit zunehmende Bedeutung der Beschlüsse im einstweiligen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz ein. Er macht offensichtlich, dass es darin – zulässigerweise – zu erheblichen Rechtsentwicklungen kommen kann, deren Weichenstellungen sogar über das anhängige Hauptsacheverfahren hinausreichen. Dass die gewählte Vorgehensart des Verfassungsgerichts Rückwirkungen auf die Art und Weise sowie den Inhalt der Begründung haben kann, scheint zumindest auf. Hier ist es Aufgabe von Forschung und Lehre bei auftretenden dogmatischen Unebenheiten ggf. nachzujustieren und auf eine saubere Einbettung hinzuwirken.

Zitiervorschlag: Rico Neidinger, Der Rechtsprechungsvorbehalt des Bundesverfassungsgerichts zur Autonomie der Länder in ihren Verfassungsräumen – tatsächlich Solange III?, JuWissBlog Nr. 32/2022 v. 07.06.2023, https://www.juwiss.de/32-2023/

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Autonomie, Sperrwirkung, Verfassungsraum der Länder, Wahlprüfung, Wahlrecht
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