Nach den zwei aufsehenerregenden Entscheidungen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit in Thüringen und Brandenburg von 2020 ist zugegebenermaßen etwas Zeit ins Land gegangen und Paritéforderungen sind weitgehend aus dem Fokus der juristischen Debatte verschwunden. Jedoch hat kürzlich etwa die Bundestagspräsidentin ein mögliches Paritätsgesetz im Zuge der Wahlrechtsreform der Ampelkoalition wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Zurecht gehen allerdings die Rechtsprechung und eine deutliche Mehrheit im umfangreichen Schrifttum (a. A. nur etwa Klafki DÖV 2020, 856 und Meyer NVwZ 2019, 1245) davon aus, dass die gesetzliche Festlegung einer paritätischen Listenbesetzung de constitutione lata verfassungswidrig ist. Das Augenmerk richtet sich unter Berücksichtigung dieses Verdikts auch auf eine andere politische Möglichkeit: Die einer Verfassungsänderung, etwa im Wege einer Ergänzung des Art. 38 GG. Als rechtspolitisches Vorbild mag hier in verfassungsvergleichender Perspektive die in Frankreich im Jahr 1999 als Reaktion auf eine Entscheidung des Conseil constitutionnel von 1982 erfolgte Ergänzung des Art. 1 CF fungieren. Die Zulässigkeit einer Grundgesetzänderung wird bisher kaum diskutiert, dürfte aber in Zukunft die Debatte bestimmen, gehören Paritätsgesetze doch zum politischen Standardrepertoire linker Parteien. Eine solche Verfassungsänderung verstieße gleichwohl gegen den durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Identitätskern des Grundgesetzes.
Ständische „Demokratie“ statt Repräsentation
Zunächst ist die „Staatsfundamentalnorm“ (Sommermann/v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rn. 2) des Art. 20 GG in den Blick zu nehmen: Zwar enthält das Demokratieprinzip keinen bis ins letzte Detail fixierten oder gar versteinerten Gehalt, sondern ist Weiterentwicklungen durchaus zugänglich (Kirchhof, in: HStR II, § 21 Rn. 3 spricht von einer „gegenwartsgerechten Fortbildung“). Das Grundgesetz folgt dem Prinzip der Gesamtrepräsentation, sodass nur das Volk als einheitlich verstandene Größe Träger der Staatsgewalt ist (Paradigmatisch Böckenförde, in: Staat, Verfassung, Demokratie, S. 400; grundlegend ferner Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, S. 29; auch BVerfGE 83, 37 [50 f.] und BVerfGE 131, 316 [342] m. w. N.). Dies ist nicht nur Art. 20 Abs. 2 GG zu entnehmen, sondern bildete auch die ideengeschichtliche Grundlage für das Vorstellungsbild des Parlamentarischen Rates. Mit Paritätsgesetzen ist demgegenüber ein legitimationskonzeptioneller Spurwechsel verbunden, indem Repräsentation als Pflicht zur spiegelbildlichen Darstellung der sozialen Zusammensetzung der Gesellschaft missverstanden wird. Der Begriff meint allerdings die Vertretung der politischen Interessen des Demos im Parlament, nicht die statistische Replikation der Sozialstruktur der auf dem Staatsgebiet lebenden Bevölkerung.
Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 2 GG konstituiert das Staatsvolk als einheitliches Legitimationssubjekt der Staatsgewalt. Maßgeblich für die Zusammensetzung einer Volksvertretung ist also ausschließlich die politische Präferenz der Wähler, nicht deren Gruppenzugehörigkeit. Dies hat auch das BVerfG früh festgestellt, indem es der Wahl die Funktion zusprach, „eine Volksrepräsentation zu schaffen, die ein Spiegelbild der im Volk vorhandenen politischen Meinungen darstellt“ (BVerfGE 6, 84 [92]). Das in Art. 20 Abs. 2 GG fixierte Prinzip der Volkssouveränität darf nicht durch eine „geschlechtsbezogene Gruppensouveränität“ (Polzin AL 2021, 17 [22]) ersetzt werden. Führt man die idée directrice sog. Paritätsgesetze zu Ende, müssten auch weitere gesellschaftliche Gruppen „vertreten“ werden und nicht nur Frauen. Das Staatsvolk würde nicht mehr als abstrakt-einheitliche Größe begriffen, sondern die Ausübung der Staatsgewalt letztlich auf viele (Teil-)Souveräne zurückgeführt. Nicht zuletzt lässt sich den Anhängern der Spiegelbildlichkeitsthese bisweilen eine gewisse Inkonsequenz attestieren – erfreuen sich Paritätsgesetze hier großer Beliebtheit, lässt sich dies mitnichten für eine Listenquotierung zugunsten anderer Gruppen sagen. Dies entspricht nicht dem modernen Repräsentationsgedanken, sondern erinnert an die ständische Staatsstruktur des Konstitutionalismus (so etwa Di Fabio in einem SPIEGEL-Interview vom 28.12.2018). Die Fixierung einer paritätischen Listenbesetzung auf Ebene der Verfassung ist keine „gegenwartsgerechte Fortbildung“ (s. o.) des Demokratieprinzips, sondern ein Schritt zurück in eine vordemokratische Vergangenheit. Die Willensbildung von unten nach oben wird durch eine so tiefgreifende staatliche Intervention gewissermaßen „auf dem Kopf“ gestellt.
Eine konsequente Weiterführung der Spiegelbildlichkeitsidee, die in Wahrheit überhaupt kein Repräsentationskonzept ist, ermöglicht sogar die Abschaffung der Demokratie (ebenso drastisch bereits Polzin AL 2021, 17 [22 f.]). Freie Wahlen führen erfahrungsgemäß dazu, dass die Gesellschaft eben nicht proportional im Parlament abgebildet ist. Wer Spiegelbildlichkeit erreichen will, könnte auf Wahlen auch gänzlich verzichten und das Parlament auslosen oder vom Statistischen Bundesamt bevölkerungsäquivalent zusammensetzen lassen. Der Wahlvorgang als neuralgischer Punkt des demokratischen Prozesses würde zum bürokratischen Akklamationsakt einer „gelenkten Demokratie“ degradiert. Die Einführung der Pflicht zur paritätischen Listenbesetzung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ist somit keine zulässige Anpassung des Demokratieprinzips an die Wirklichkeit, sondern ebnet gerade den Weg zu seiner Beseitigung. Die pauschale Behauptung, es lasse sich wegen der begrifflichen Offenheit des Verfassungstextes schon gar keine Repräsentationsidee in das deutsche Verfassungsrecht integrieren (Meyer NVwZ 2019, 1245 [1250]) oder der Verweis auf die Natur der Verfassung als „Rahmenordnung“ (Klafki DÖV 2020, 856 [865]], gehen als rhetorische Nebelkerzen fehl. Das Grundgesetz folgt sehr wohl einem bestimmten Konzept von Repräsentation, das sich ihm auf Basis ideengeschichtlicher, historischer, grammatischer und logischer Argumentation entnehmen lässt. Letzteres vor allem, weil die Spiegelbildlichkeitslehre Demokratie im Grunde genommen ad absurdum führt.
Konfliktpotenzial mit dem grundgesetzlichen Menschenbild
Die Folgen eines an Ergebnisgleichheit orientierten gedanklichen Leitmotivs zeigen sich auch hier: Das Individuum würde zum Teil einer statistischen Größe degradiert und in das bloße Objekt einer scheinrepräsentativen Identitätslogik verwandelt. Die der Parité-Gesetzgebung zugrundeliegende Behauptung, nur eine Frau könne „Fraueninteressen“ (was genau soll das überhaupt sein?) vertreten, führt zu einer künstlichen Homogenisierung heterogener Bevölkerungsgruppen und widerspricht damit dem Menschenbild des Grundgesetzes, das von einem Individuum mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung ausgeht. Ausfluss dieser Autonomie ist auch die selbstständige Entscheidungsfindung auf politischer Ebene. Dem Wähler je nach Gruppenzugehörigkeit bestimmte, auf Basis einer aktivistisch-intersektionalen Logik formulierte „Interessen“ zuzuordnen, kommt einer politischen Entmündigung des Bürgers gleich. Ebenso wenig trifft letzteren im Rahmen des Wahlakts eine „Pflicht zur Rationalität“ aus der Perspektive dieser Gruppenzugehörigkeiten. Soziale Gruppen sind keine politischen Größen, die sich einer „Interessenvertretung“ durch Abgeordnete gleichen Geschlechts zu unterwerfen haben.
Ein solches Bild des Individuums widerspricht auch der Ausrichtung der Verfassungsordnung auf Individualrechte (Volk, Paritätisches Wahlrecht, S. 394). Nicht Gruppen, sondern der Einzelne steht im Fokus des grundgesetzlichen Menschenbildes. Ferner deckt sich diese rechtspolitische „Arbeitshypothese“ keineswegs mit der Realität politischer Willensbildung im Wahlvolk an sich, die nicht schlicht an den Grenzlinien persönlicher Identitäten verläuft, sondern weitaus komplexer ist. Die unterstellte politische Homogenität von Männern oder Frauen ist reine Fiktion. Mit guten Gründen ließe sich daher womöglich sogar eine Berührung der Menschenwürdegarantie konstatieren (so jedenfalls Burmeister/Greve ZG 2019, 154 [165 f.], die abstrakte Verbindung von Demokratieprinzip und Menschenwürde konstatiert ferner BVerfGE 123, 267 [341]). Der „Hauptkriegsschauplatz“ liegt angesichts des restriktiv zu handhabenden Verfassungskerns indes nach wie vor auf dem Terrain des Demokratieprinzips.
Keine Rechtfertigung mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG
Auch vermag Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG eine solche Grundgesetzänderung nicht rechtfertigen. Zum einen ist die Norm mit der Herleitung eines gesetzlichen Listenoktrois überdehnt, beinhaltet die ratio des Auftrages doch nach zutreffender Ansicht nicht die Herstellung von Ergebnis-, sondern von Chancengleichheit (statt vieler Langenfeld/Dürig/Herzog/Scholz, Art. 3 Abs. 2 Rn. 101). Daneben gilt dies ohnehin nur, wenn der Verfassungsauftrag im Wahlrecht überhaupt Anwendung findet, was bezweifelt werden darf (zurecht ablehnend etwa Pautsch JSE 2019, 1 [4] und Morlok/Hobusch NVwZ 2019, 1734 [1736 f.]; a. A. Fontana DVBl. 2019, 1153 [1157]). Zum anderen begegnet eine solche Rechtfertigungsstrategie normhierarchischen Bedenken: Die erst 1994 in das Grundgesetz integrierte Staatszielbestimmung ist kein originäres Verfassungsrecht, sondern das Ergebnis einer Verfassungsänderung lange nach seinem Inkrafttreten (ebenfalls unter Rekurs auf eine verfassungsinterne Normenhierarchie Polzin, a. a. O., 21) und auch nicht Teil des änderungsfesten Verfassungskerns. Ob überhaupt Handlungsbedarf zur Beseitigung von Nachteilen besteht, mag aus rechtspolitischer Sicht ebenfalls mit guten Gründen bezweifelt werden: Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden zumeist über die Parteien rekrutiert, und wirft man einen Blick auf den Frauenanteil in den zugehörigen Parteien der Bundestagsfraktionen, lässt sich mitnichten eine Unter-„Repräsentation“ konstatieren (illustrativ Morlok/Hobusch DÖV 2019, 14 [18 f.]). Der Verfassungsauftrag aus Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG ist folglich kein tauglicher Rettungsanker für eine etwaige Verfassungsänderung.
Fazit und Ausblick
Die Pflicht zur paritätischen Listenbesetzung ist insgesamt kein Ausdruck des wahlrechtlichen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers (dazu bereits BVerfGE 3, 19 [24]), sondern tangiert de constitutione ferenda zumindest das Demokratieprinzip in Gestalt der Volkssouveränität als Teil des Identitätskerns des Grundgesetzes (anders etwa v. Ungern-Sternberg JZ 2019, 525 [534]. Der dahinterstehende Gedanke ist – anders als man dem Framing seiner Befürworter entnehmen mag – nicht fortschrittlich, sondern das Warnsignal eines vormodernes Repräsentationsverständnisses. Um den politischen Betrieb für Frauen attraktiver zu machen, gibt es sicherlich effektivere und weniger einschneidende Mittel, als eine bestimmte Zusammensetzung des Parlamentes gesetzlich zu erzwingen. Hier ist besondere Vorsicht geboten: Ein zeitgeistgebundener Gerechtigkeitspathos darf nicht die gravierende Umgestaltung der Grundlagen unserer Verfassungsordnung legitimieren. Wer die Spiegelbildlichkeitsthese zu Ende denkt, tut der Demokratie keinen Gefallen.
Zitiervorschlag: von Zons, Jonas, Parität de constitutione ferenda?, JuWissBlog Nr. 33/2023 v. 06.06.2023, https://www.juwiss.de/33-2023/
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