Von CARSTEN BÄCKER
Endlich wieder eine Wahlrechtsreform. Wesentlicher Anlaß dieser 22. Änderung des Bundestagswahlrechts: Die vom Bundesverfassungsgericht – wiederholt – angemahnte Vermeidung des negativen Stimmgewichts. Wesentliches Ergebnis: Nach der nächsten Wahl wird der Bundestag größer sein. Das nützt wohl nur denen, die das Gesetz beschlossen haben – den im Bundestag, hier mehr Partei als Volksvertretung, repräsentierten Parteien. Mit Ausnahme der Linken.
Mit der Einsicht, daß nicht nur der Wähler, sondern auch das Wahlrecht über den Ausgang der Wahl entscheidet, wird man im Bundestag schon lange keinen verdienten Volksvertreter mehr beeindrucken können; nach der Wahl in Italien wohl auch sonst niemanden mehr.
Überraschen könnte aber die Idee, sich im Erkennen dieser Einsicht auf das Postulat zu besinnen, den Anteil des Wahlrechts am Wahlausgang im Verhältnis zu dem des Wählers möglichst gering zu halten – mit dem spiegelbildlichen Erfolg, den Anteil des Wählers im Verhältnis zu dem des Wahlrechts zu steigern. Dazu brauchte es keine Vergrößerung des Bundestages. Dazu braucht es eine Wahlrechtsreform, die sich nicht nur in Nachbesserungen erschöpft.
Umfassende Änderungen, unabsehbare Folgen?
Eine echte Wahlrechtsreform will allerdings wohlüberlegt sein – die Folgen jeder Änderung für die Parteienlandschaft sind schwer zu übersehen, noch schwerer die Folgen einer geänderten Parteienlandschaft für das Ganze. Es gilt, wie bei jeder Reform: Je umfassender die Änderungen, desto unabsehbarer die Folgen. Ein konservativer Pessimist könnte schließen: Umfassende Änderungen sind strikt zu vermeiden.
Positiv gedacht sollte das Korrelat jedoch allein als Anreiz begriffen werden, die Folgen gesetzgeberischen Handelns, wie es den Grundsätzen richtiger Gesetzgebungslehre entspricht, über den konkreten Regelungsgegenstand hinaus so genau wie möglich vor dem legislativen Akt abzuschätzen, die Folgenberücksichtigung also umfassend in die Planungen einzubeziehen.
Ein Graben als Alternative
An einem Mangel von Alternativen zur personalisierten Verhältniswahl des Bundestages, wie wir sie kennen, kann es jedenfalls nicht liegen. Nicht zu weit entfernt von unserem System ist etwa das sog. Grabenwahlrecht. Das Parlament, nehmen wir zunächst den Landtag des Bundeslandes S, wäre danach auf exakt die doppelte Anzahl der Wahlkreise im Bundesland S an Sitzen festgelegt. Die erste Hälfte des Parlaments in K, der lebenswerten Hauptstadt von S, speiste sich aus den Siegern der Direktwahlen anhand der Erststimmen, die zweite Hälfte errechnete sich anhand des Verhältnisses der Zweitstimmen im gesamten Bundesland.
Auf die Wahlen zum Bundestag übertragen käme das Parlament in der reizvollen Hauptstadt B auf exakt die doppelte Anzahl von Sitzen wie es Wahlkreise im gesamten Bundesgebiet gibt. Die zweite Hälfte bestimmte sich nach dem Zweitstimmenverhältnis, zur Vermeidung föderalistischer Komplikationen wiederum im gesamten Bundesgebiet.
Kein negatives Stimmgewicht
Verfassungsrechtlich wäre ein derartiges Wahlrecht wohl unbedenklich. Das Grundgesetz verlangt in Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen; die nähere Ausgestaltung des Wahlrechts behält es einfachem Recht vor, Art. 38 Abs. 3 GG. Zur Beachtung dieser Grundsätze dürfte ein Grabenwahlrecht, im Vergleich zum bestehenden, nicht minder geeignet sein. Es erscheint hinsichtlich der Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl sogar deutlich im Vorteil.
Überhangmandate könnten durch eine strikte anteilige Trennung der zu vergebenden Sitze nicht entstehen, Ausgleichsmandate wären damit überflüssig. Das vom Bundesverfassungsgericht bemängelte negative Stimmgewicht wäre ausgeschlossen. Die Größe des Bundestages wäre schon vor der Wahl bekannt, ein weiteres Aufblähen der Sitzzahl, anders als nach der nun ergangenen Reform, nicht zu befürchten. Die Feder hätte gewirkt, die spezialisierte Bibliotheken füllende Literatur zu den mannigfaltigen Problemen unseres Wahlrechts nur mehr historischen Wert.
Ein zweiter Federstrich?
Wem das zu radikal ist, der könnte immerhin erwägen, die Zweitstimme in der personalisierten Verhältniswahl allein bundesweit zu berücksichtigen. Die Zahl der Überhangmandate dürfte damit erheblich sinken. Wer, radikal oder nicht, noch weiter fantasieren will, könnte die ohnehin wackelnde 5%-Hürde, die kleineren Parteien den Einzug ins Parlament und größeren Parteien Stimmverluste durch taktisches Wahlverhalten kostet, noch im selben Schwung einem zweiten Federstrich zum Opfer fallen lassen.
Es ist nicht recht zu erkennen, daß die beschworene Funktionsfähigkeit des Parlaments in zur die Verletzung des Grundsatzes der Gleichheit qua 5%-Klausel hinreichendem, also aufwiegendem Maße unter einer inhomogeneren Zusammensetzung des Parlaments leiden sollte. Selbst wenn die angenommene Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit ihrem Gewicht nach den Verstößen gegen die Wahlrechtsgrundsätze gleichkommt, streitet die Sicherheit, mit dem der Eintritt der jeweiligen Nachteile angenommen werden kann, eindeutig zu Lasten der Klausel: Die Beeinträchtigung der Wahlrechtsgrundsätze ist gewiß, die der Funktionsfähigkeit des Parlaments darf unter den gegebenen Umständen unserer gefestigten Demokratie bezweifelt werden.
Wider die Politikverdrossenheit
Es bleiben Bedenken nichtverfassungsrechtlicher Art. Es ist tatsächlich kaum abzusehen, welche Änderungen gerade eine Hinwendung zum Grabenwahlrecht in der politischen Landschaft mit sich brächte. Die gebotene Folgenberücksichtigung ist aber nicht auf negative Effekte begrenzt. Um also anstelle von Bedenken etwas Wünschenswertes anzuführen: Die Erststimme würde im Verhältnis zur Zweitstimme erheblich aufgewertet – möglicherweise ein Anreiz, das Wahlvolk der Direktmandate stärker als bisher zu mobilisieren, was ohne bürgernahe Behandlung der Themen nicht gelingen kann.
Das wäre dem Potential nach ein Dienst wider die Politikverdrossenheit unserer Tage – und damit am Ende ein Beitrag zur Stabilisierung unserer durch abnehmende Wahlbeteiligung zunehmend in ihrer Legitimität bedrohten Demokratie.