von DOMINIK WILLMER
Die mit dem ATAD-Umsetzungsgesetz ergangene Reform des § 6 AStG zum 01.01.2022 hat die Debatte um die kontrovers diskutierte Wegzugsbesteuerung neu entfacht. Unzutreffender Weise begründet der Gesetzgeber die Reform mit unionsrechtlichen Vorgaben und einer geänderten Rechtsprechung des EuGH. Da sich der Anwendungsbereich der ATAD-Richtlinie allerdings lediglich auf körperschaftsteuerpflichtige Rechtssubjekte beschränkt, die Änderungen des § 6 AStG jedoch für natürliche Personen gelten, sind die Änderungen nicht europäisch vorgegeben (Schiefer, ISR 2020, 84, 84; Böhmer/Schewe/Schlücke, FR 2021, 765, 765). Als Anlass für die Reform erscheint also eine fiskalpolitische Motivation wahrscheinlicher.
Regelungsgehalt von § 6 AStG
§ 6 AStG regelt die Rechtsfolgen der Wohnsitzverlagerung einer natürlichen Person ins Ausland, soweit diese an einer Kapitalgesellschaft im Inland zu mindestens einem Prozent beteiligt ist. Damit nach dem Wegzug ins Ausland das deutsche Besteuerungsrecht an den Gewinnen aus der Veräußerung der Anteile nicht ausgeschlossen wird, fingiert § 6 AStG einen sachlichen Anknüpfungspunkt für die Besteuerung. Dies geschieht indem § 6 AStG die Wohnsitzverlegung dem Tatbestandsmerkmal der „Veräußerung“ aus § 17 EStG gleichstellt. Somit bewirkt § 6 AStG die Besteuerung eines fiktiven Veräußerungsgewinns, ohne dass der Steuerpflichtige einen Liquiditätszufluss erhält.
Änderungen und Verschärfungen durch die Reform
Zu einer erstmaligen Neufassung des § 6 AStG kam es durch eine Neuregelung des SEStEG vom 07.12.2006. Der Auslöser waren die EuGH-Entscheidung de Lasteyrie du Saillant (EuGH Urt. v. 11.03.2004 – C-9/02) sowie die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland. Um EU-Rechtskonformität herzustellen führte der Gesetzgeber die zinslose Steuerstundung bis zur tatsächlichen Veräußerung ein (BFH Urt. v. 23.09.08 – I B 92/08). Diese – vom EuGH vorgegebene – Abmilderung der Schlussbesteuerung ist durch die jüngste Reform revidiert worden. Die dauerhafte und zinslosen Steuerstundung bis zur tatsächlichen Veräußerung wurde durch ein einheitliches Ratenkonzept (sog. One-fits-all-Lösung) ersetzt. Während Sicherheitsleistungen zuvor nur bei Wegzügen in Drittstaaten erbracht werden mussten, sind diese nun „in der Regel“ bei allen Wegzügen innerhalb der EU zu erbringen. Ferner werden nachträgliche Wertminderungen seit der Reform nicht mehr berücksichtigt.
Verletzung der Niederlassungsfreiheit
Nach Art. 49 Abs. 1 AEUV sind Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nach Maßgabe der Art. 50 bis 55 AEUV verboten (EuGH Urt. v. 13.04.2000 – C-251/98).
Durch die Wegzugbesteuerung nach § 6 AStG wird ein Steuerpflichtiger allein wegen der Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland (S. 1 Nr. 1) für einen noch nicht realisierten Veräußerungsgewinn steuerpflichtig, während bei Beibehaltung des Wohnsitzes im Inland oder einem Umzug im Inland eine Besteuerung der Wertzuwächse erst bei tatsächlicher Realisierung erfolgt (EuGH Urt. v. 21.12.2016 – C-503/14). Dieser Liquiditätsnachteil stellt nach EuGH-Rechtsprechung einen Eingriff in die Niederlassungsfreiheit dar. Damit der Eingriff gerechtfertigt wäre, müsste er „zwingenden Gründen des Allgemeininteresses“ dienen, in nichtdiskriminierender Weise umgesetzt und verhältnismäßig sein. Die Wegzugbesteuerung verfolgt das Ziel eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Aufnahmemitgliedstaat sicherzustellen, insofern können zwingende Gründe des Allgemeininteresses bejaht werden. Darüber hinaus müsste die Neufassung des § 6 AStG im Hinblick auf die veränderten Stundungsmodalitäten und die Sicherheitsleistung auch erforderlich sein.
Nach der Grundsatzentscheidung Lasteyrie du Saillant und dessen Nachfolgeentscheidung N, wurde zur unionsrechtskonformen Ausgestaltung des § 6 AStG die unbefristete Stundung bis zur tatsächlichen Realisierung der Veräußerungsgewinne eingeführt. In den späteren Entscheidungen Verder LabTec (EuGH Urt. v. 21.05.2015 – C-657/13) und DMC (EuGH Urt. v. 23.01.2014 – C-164/12) wurde eine ratierliche Steuerstundung über fünf bzw. zehn Jahre für verhältnismäßig gehalten, da das „Risiko der Nichteinbringung der festgesetzten Steuer mit Zeitablauf steige“. Obwohl sich der EuGH in den letztgenannten Entscheidungen ausschließlich mit der Entstrickung von Betriebsvermögen und nicht wie bei § 6 AStG mit Privatvermögen befasste, hält der deutsche Gesetzgeber die Rechtsprechung für übertragbar (BT-Drs. 19/ 28652, S. 47).
Diese Auffassung steht jedoch in klarem Wiederspruch zur neueren EuGH-Entscheidung Wächtler, worin ausgeführt wird, dass für Privatvermögen die dauerhafte Stundung gegenüber der ratierlichen Zahlung alternativlos sei. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber diese Entscheidung in seiner Gesetzesbegründung sogar zitiert (BT-Drs. 19/ 28652, S. 47), sich aber trotzdem darüber hinwegsetzt, erscheint bemerkenswert.
Gegen eine Gleichbehandlung von Betriebs- und Privatvermögen spricht zudem das höhere Nichteinbringungsrisiko beim Zugriff auf das Betriebsvermögen, welches durch die regelmäßig komplexeren Vermögensstrukturen bedingt ist. Zudem kann die Steuerlast beim Betriebsvermögen durch Abschreibungen reduziert und die harten Folgen der Wegzugbesteuerung damit abgemildert werden.
Die Sicherheitsleistungen sind jedenfalls im EU/EWR-Raum nicht erforderlich und insoweit auch unionsrechtswidrig, da hier die EU-Beitreibungs- und EU-Amtshilferichtlinie das wegzugsbedingte Nichteinziehungsrisiko praktisch ausschließen. Sofern der Steuerpflichtige keine liquiden Vermögenswerte besitzt, führen die Sicherheitsleistungen zu einer Veräußerungspflicht oder zu einer faktischen „Wegzugsperre“.
Nachträgliche Wertminderungen
Seit dem VZ 2022 werden nachträgliche Wertminderungen nicht mehr berücksichtigt. Dies kann dazu führen, dass der tatsächlich erzielte Veräußerungserlös nicht mehr ausreicht, um die deutsche Wegzugsteuer zu begleichen. Liegt der Wert der stillen Reserven im Zeitpunkt der tatsächlichen Realisation unter dem im Zeitpunkt des Wegzuges festgestellten Wert, so wird der Steuerpflichtige für einen tatsächlich niemals realisierten Wertzuwachs besteuert. Eine Saldierungsmöglichkeit von fiktiven Veräußerungsgewinnen mit Anteilsverlusten besteht nicht (BFH, Urt. v. 26.04.2017 – I R 27/15). Dies führt ebenfalls zu erheblichen unionsrechtlichen Bedenken. Für das Erfordernis der Berücksichtigung nachträglicher Wertminderungen, sprechen auch die neueren EuGH-Entscheidungen Jacob und Picart.
Im Zivilrecht gilt das schadensrechtliche Bereicherungsverbot, welches besagt, dass der Geschädigte durch den Schadensfall und die ihm zugewandte Schadenssumme nicht besser stehen darf als ohne das schädigende Ereignis (BGH, Urt. v. 03.12.2013 – VI ZR 24/13). In Anlehnung an diesen Rechtsgedanken ließe sich hier zudem argumentieren, dass der Wegzug nicht dazu führen darf, dass der Staat „besser“ steht als ohne den Wegzug ins Ausland. Dann würde nämlich auch nur der tatsächliche Gewinn zum Veräußerungszeitpunkt besteuert werden und nicht ein vor längerer Zeit festgesetzter Wert. Insofern gebietet auch das unionsrechtliche Beschränkungsverbot die Berücksichtigung nachträglicher Wertminderungen.
Fazit
Besonders bedauerlich ist, dass der deutsche Gesetzgeber „sehenden Auges das Risiko der Gemeinschaftswidrigkeit auf sich nimmt“. Insbesondere vor dem Hintergrund des Loyalitätsgebots aus Art. 4 Abs. 3 EUV, wonach die Beachtung der Judikatur des EuGH selbstverständlich sein sollte, ist die Reform des § 6 AStG nicht nachvollziehbar. Es wäre ratsam, das Ratenzahlungskonzept durch eine „Gegenbeweismöglichkeit“ zu ergänzen, um dem Steuerpflichtigen einen Besteuerungsaufschub bei Liquiditätsschwierigkeiten zu gewähren (Schönfeld/Erdem, IStR 2021, 527, 533). Andernfalls könnte auch der status quo ante hergestellt werden, wobei Missbrauchsgestaltungen („Devaluierungsmodelle“) mit minimal-invasiven Anpassungen ausgeschlossen werden könnten. Bei zukünftigen Reformen wäre es wünschenswert, dass der Gesetzgeber seine fiskalpolitischen Motivationen ausdrücklich benennt und diese nicht hinter dem Vorwand unionsrechtlicher Vorgaben – so wie der Notwendigkeit der Anpassung an die Mindeststandards der ATAD-Richtlinie – versteckt. Dieses Vorgehen ist rechtsstaatlich bedenklich.
Zitiervorschlag: Willmer, Dominik, Unionsrechtswidrige Verschärfung der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG – ein gesetzgeberisches Versehen oder schon Vorsatz?, JuWissBlog Nr. 31/2023 v. 02.06.2023, https://www.juwiss.de/31-2023/.
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