Die Tübinger Verpackungssteuer ist rechtmäßig – wirklich?

von ROBERT PRACHT

Der – häufig in der Öffentlichkeit stehende – Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer freut sich und ist glücklich: Entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (im Folgenden: VGH) in erster Instanz entschied der 9. Senat des BVerwG am 24.5.2023, dass die in der Stadt Tübingen erhobene Verpackungssteuer im Wesentlichen verfassungs- und rechtmäßig ist. Eine schriftliche Urteilsbegründung zu dem Verfahren BVerwG 9 CN 1.22 liegt zwar noch nicht vor; jedoch lässt die gut einseitige Pressemitteilung schon teilweise wesentliche Begründungsansätze erkennen, deren Überzeugungskraft Zweifeln unterliegt.

Einführung einer Verpackungssteuer im Tübinger Stadtgebiet

Der Gemeinderat der Stadt Tübingen beschloss im Jahr 2020 die Einführung einer Verpackungssteuersatzung, in der eine Steuer auf Einwegverpackungen sowie Einweggeschirr und –besteck vorgesehen ist, sofern diese zum unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle oder als take-away-Gericht oder take-away-Getränk verkauft werden (§ 1). Die Steuer beträgt für jede Einwegverpackung 0,50€ und für jedes Einwegbesteck 0,20€; der Steuersatz ist jedoch insgesamt „pro Einmahlmahlzeit“ auf 1,50€ begrenzt (§ 4). Hiermit sollen sowohl Einnahmen für den städtischen Haushalt generiert als auch der Verunreinigung des Stadtbilds entgegengewirkt sowie ein Anreiz für die Verwendung von Mehrwegverpackungen geschaffen werden.

Eine als Endverkäuferin mit der Steuer belastete (§ 2) Restaurantinhaberin ging gegen die Satzung im Wege der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO vor. Der VGH judizierte im Wesentlichen überzeugend noch im Sinne der Antragstellerin und erklärte mit Urteil vom 29.3.2022, 2 S 3814/20 die gesamte Verpackungssteuersatzung für unwirksam. Es handle sich bei der Verpackungssteuer weder um eine örtliche Verbrauchsteuer noch bestehe wegen der abschließenden abfallrechtlichen Regelungen in Bundesgesetzen Gestaltungsspielraum für die Kommunen. Der VGH stützte sein Urteil also – obwohl nicht entscheidungserheblich – auf gleich zwei selbständig tragende Begründungen. Die Hoffnung, dass zumindest eine der beiden Argumentationsstränge auch das BVerwG überzeuge, bewahrheitete sich indes nicht.

Verpackungssteuer = örtliche Verbrauchsteuer i.S.d. Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG

Nach Ansicht des BVerwG erfülle die Verpackungssteuer alle Voraussetzungen für eine zulässige örtliche Verbrauchsteuer i.S.d. Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG. Hiernach haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich geregelten Steuern gleichartig sind. Diese Befugnis kommt nach § 9 Abs. 4 KAG auch baden-württembergischen Gemeinden zu.

Es könne bei typisierender Betrachtung davon ausgegangen werden, dass die zum unmittelbaren Verzehr erworbenen Speisen und Getränke – ob zum Verzehr an Ort und Stelle oder als „take away“ – auch innerhalb des Gemeindegebietes konsumiert würden, sodass der örtliche Charakter der Steuer gewahrt sei. Dies sah die Vorinstanz in Anlehnung an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 16, 306 ff., BVerfGE 98, 106 ff.) noch anders: Die Abgabe von take-away-Verpackungen sprenge den Kreis der örtlichen Radizierung – es könne nicht typisierend angenommen werden, dass die Speisen und Getränke auch noch im Stadtgebiet Tübingens und nicht bereits in Umlandgemeinden konsumiert würden (siehe insb. Rn. 108 f.). Eine andere Auslegung würde nach dem VGH das „Tor zur Einführung aller möglichen Verbrauch- und Verkehrsteuern durch die Gemeinden öffnen“, was dem Grundgesetz zuwiderliefe; derartige „Sonderumsatzsteuern“ könnten nämlich einheitliche Wettbewerbsbedingungen für die Wirtschaft teilweise aufheben (Rn. 114).

An dieser Stelle darf man also auf die nähere Urteilsbegründung des BVerwG gespannt sein. Zwar ist die Verteilung des Konsums mitgenommener Speisen und Getränke innerhalb und außerhalb des Gemeindegebiets schwerlich abzuschätzen. Diese konkrete Nachweisschwierigkeit außer Acht lassend, dürfte es aber zutreffend sein, dass take-away-Gerichte zumindest häufiger innerhalb als außerhalb des Gemeindegebiets verzehrt werden. Die Frage diesbezüglich ist, ob dieser Regelfall für die notwendige Typizität ausreicht oder vielmehr ein ganz überwiegender Verbrauch im Gemeindegebiet von etwa 90–95% aller Fälle notwendig ist, wobei das BVerwG wohl ersterer Auffassung zuneigen dürfte. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings sodann auch die wissenschaftlich anderenorts zu vertiefende Frage, ob dieses Abgrenzungskriterium für die Annahme einer örtlichen Verbrauchsteuer tatsächlich tauglich ist. In jedem Fall besteht die vom VGH beschriebene Gefahr einer Vielzahl zweifelhafter „Sonderumsatzsteuern“.

Kein Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes

Auch stehe die Verpackungssteuer nach Ansicht des BVerwG in keinem Widerspruch zum Abfallrecht des Bundes. Die Steuer verfolge wie das Bundes- und Europarecht das Ziel einer Vermeidung des Verpackungsabfalls und füge sich kohärent in das Regelungsregime ein. Es sei den Kommunen trotz der vielfältigen unions- und bundesrechtlichen Vorgaben gestattet, kommunale Steuern auf Einwegverpackungen zu erheben.

Der VGH hatte demgegenüber noch angenommen, dass die Verpackungssteuer unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 98, 106 ff.) einzelnen Vorgaben sowie der Gesamtkonzeption des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und des Verpackungsgesetzes widerspreche (Rn. 135 ff.). Insbesondere habe der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit abschließend Gebrauch gemacht; insofern seien sich nicht in das Gesamtsystem einfügende Lenkungssteuern in diesem Bereich nicht zulässig.

Dies dürfte insbesondere wegen der verfassungsgerichtlichen Vorgaben überzeugen, in der das Kooperationsprinzip aller an der Entstehung von Abfall Beteiligten betont wurde und keine einseitige Verschiebung der Verantwortung auf Letztverkäufer und Verbraucher zugelassen ist. Nach der veröffentlichten Pressemitteilung hält das BVerwG die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung aufgrund von Gesetzesänderungen aber nicht mehr für einschlägig. Auch hier sind für eine abschließende Beurteilung die schriftlichen Urteilsgründe abzuwarten.

Nur punktuelle Rechtswidrigkeit einzelner Satzungsbestimmungen

Das BVerwG ist aber der Ansicht, dass die Obergrenze der Besteuerung von 1,50€ „pro Einmahlmahlzeit“ zu unbestimmt sei. Schon der VGH hatte hieran Zweifel: Bei Schnellrestaurants, in denen nicht „wie in einem herkömmlichen Restaurant etwa sechs Portionen Rehbraten mit Spätzle und Salat bestellt werden“ und daher von sechs „Einmahlzeiten“ auszugehen sei, könne dort nicht zweifelsfrei bestimmt werden, welche Bestellungen einer oder mehreren Personen zuzuordnen sind (Rn. 171). Außerdem (dies thematisierte der VGH noch nicht) sei die Berechtigung der Stadtverwaltung zum jederzeitigen Betreten der Geschäftsräume des Steuerschuldners (§ 8 der Satzung) – wohl wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip – rechtswidrig. Diese zutreffend festgestellten punktuellen Verstöße ließen die Rechtmäßigkeit der Verpackungssteuersatzung im Übrigen jedoch unberührt.

Fazit

Nach dem Urteil des VGH schien zumindest für manche Beobachter die Messe bereits gesungen zu sein und wurden der zugelassenen Revision keine großen Erfolgsaussichten bescheinigt – umso überraschender mag dann nun das Urteil aus Leipzig sein. Erhöht werden damit im Ergebnis vor allem die Möglichkeiten für die kommunale Ebene durch Lenkungssteuern wie die hiesige einen Beitrag zur Abfallvermeidung und nachhaltigen Ressourcennutzung zu leisten. Nicht aus dem Blick sollte aber insbesondere geraten, dass seit 1.1.2023 durch § 33 Abs. 1 des Verpackungsgesetzes die Pflicht für Letztvertreiber besteht, eine im Vergleich zur Einwegverpackung nicht teurere Mehrwegverpackung anzubieten – was eigentlich ein zusätzliches Argument dafür wäre, mit dem VGH von einer abschließenden Bundesregelung in Bezug auf den Umgang mit Einwegverpackungen auszugehen, die kommunale Sonderwege ausschließt.

Zitiervorschlag: Pracht, Robert, Die Tübinger Verpackungssteuer ist rechtmäßig – wirklich?, JuWissBlog Nr. 29/2023 v. 30.05.2023, https://www.juwiss.de/29-2023/.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Abfallrecht, Bundesverwaltungsgericht, Einwegverpackung, örtliche Verbrauchsteuer, Verpackungsgesetz, Verpackungssteuer, VGH Baden-Württemberg
Nächster Beitrag
Unionsrechtswidrige Verschärfung der Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG – ein gesetzgeberisches Versehen oder schon Vorsatz?
Vorheriger Beitrag
Service am Montag

Ähnliche Beiträge

von LENNART KOKOTT Zwei Senate des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) streiten über die isolierte Anfechtbarkeit von Nebenbestimmungen. Was Examenskandidat:innen wie ein schlechter Scherz vorkommen wird, hat für den Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen greifbare Konsequenzen – und könnte ihn deutlich beschränken. (mehr …)
Weiterlesen
von MORITZ BARTH „Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem“: mit dieser Sentenz im April 2017 löste die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen eine breite Debatte über das Ausmaß von Rechtsextremismus in der Bundeswehr aus und brachte viele Soldatinnen und Soldaten gegen sich auf. Ein kurzer Blick auf die Skandale der…
Weiterlesen

Zur Anwesenheit verdammt?

von MARCO PENZ Der Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg hat am 21. November 2017 eine Regelung in der Prüfungsordnung für den Studiengang Bachelor of Arts (B.A.) Politikwissenschaft an der Universität Mannheim verworfen, nach der es Dozent*innen möglich sein sollte, für Lehrveranstaltungen Anwesenheitspflichten einzuführen und die hinreichende Teilnahme an Lehrveranstaltungen als Studienleistung…
Weiterlesen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.