„Kopftuchverbote“ aus europarechtlicher Sicht: Diskriminierungen (nur) aufgrund der Religion?

von ANNA ILLMER

Ob beziehungsweise inwiefern das Tragen religiöser oder weltanschaulicher Kleidungs- und Schmuckstücke reglementiert werden darf, wird seit mehreren Jahren diskutiert. Häufig stehen im Hintergrund Fälle, in denen muslimischen Frauen untersagt wird, das islamische Kopftuch zu tragen. Aktuelles Beispiel ist etwa das von der französischen Regierung an seine eigenen Athlet*innen gerichtete Verbot, bei den olympischen Sommerspielen in Paris religiöse Zeichen zu tragen. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die einschlägige bisher ergangene EuGH-Rechtsprechung geben und ferner fragen, ob auch andere, bislang unbeachtet gebliebene Aspekte in die Beurteilung einbezogen werden könnten oder ggf. sogar müssten, und was die Konsequenzen hiervon wären.

Was bisher geschah

Der EuGH hat sich in bislang sechs Fällen mit religiösen oder weltanschaulichen Zeichen auseinandergesetzt (Rs C-157/15, Rs C-188/15, verb Rs C-804/18 & C-341/19, Rs C-344/20, Rs C-148/22). Sie alle betrafen das Tragen des islamischen Kopftuchs am Arbeitsplatz und wurden vom EuGH (ausschließlich) hinsichtlich einer Diskriminierung aufgrund der Religion gemäß der sog. „Rahmenrichtlinie Beschäftigung“ RL 2000/78/EG geprüft. Diese RL ist im Bereich Beschäftigung und Beruf anwendbar und verbietet unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen (Art. 2 Abs. 2 lit. a und b RL) aufgrund verschiedener Gründe, unter anderem aufgrund der Religion oder Weltanschauung (Art. 1 RL).

Eine unternehmensinterne Regelung, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugung verbietet, gelte unterschiedslos für alle Bekundungen solcher Überzeugungen, behandle alle Arbeitnehmer*innen des Unternehmens gleich, und begründe daher – sofern sie allgemein und unterschiedslos angewendet werde – keine unmittelbare Diskriminierung aufgrund der Religion oder Weltanschauung, so der EuGH (erstmals C-157/15, Rn 30ff). Sie könne hingegen eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wenn durch sie Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung „in besonderer Weise benachteiligt“ würden. Diesfalls wäre die Regelung dennoch gerechtfertigt, wenn sie ein rechtmäßiges Ziel verfolge und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels geeignet, erforderlich und angemessen, d.h. verhältnismäßig, seien. Der Wille eines privaten oder öffentlichen Arbeitgebers, eine Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität zu verfolgen, könne grds. ein solches legitimes Ziel sein. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit fordert der EuGH insbesondere, dass die Neutralitätspolitik tatsächlich kohärent und systematisch verfolgt wird und sich das Verbot auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt (erstmals C-157/15, Rn 34ff).

Die Beurteilung, ob die interne Regelung im konkreten Fall eine mittelbare Ungleichbehandlung begründet und ob diese ggf. gerechtfertigt ist, überlässt der EuGH den nationalen Gerichten. Bezüglich der Verhältnismäßigkeit gewährt der EuGH den Mitgliedstaaten einen unionsrechtlich kontrollierten Wertungsspielraum, in dem sie auch ihren nationalen Kontext und ihr innerstaatliches Recht berücksichtigen können (etwa C-157/15, Rn 34, 36 sowie C-804/18 & C-341/19, Rn 86ff).

Verbietet eine interne Regelung nur „auffällige großformatige“ Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen, kann nach dem EuGH hingegen eine unmittelbare Diskriminierung vorliegen (erstmals C-804/18 & C-341/19, Rn 73).

Die Kündigung infolge eines Kundenwunsches schließlich qualifiziert der EuGH als unmittelbare Diskriminierung. Als solche könne sie nach der RL 2000/78/EG nur unter sehr engen Voraussetzungen zulässig sein (vgl. Art. 4 Abs. 1 RL) – der subjektive Wille eines Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, genüge dafür nicht (C-188/15, Rn 34ff).

Eine begrenzende Sichtweise?

Diese Entscheidungen haben mehrere Aspekte gemeinsam: Sie alle betrafen muslimische Frauen, denen das Tragen des islamischen Kopftuchs verboten wurde, ereigneten sich im Arbeitsumfeld und wurden vom EuGH nur anhand der RL 2000/78/EG und nur hinsichtlich des Merkmals Religion geprüft.

Hervorzuheben ist der letzte Punkt. Das Merkmal Religion wird (sekundärrechtlich) lediglich durch die RL 2000/78/EG und damit nur im Bereich Beschäftigung und Beruf erfasst. Diskriminierungen aufgrund der Religion können daher zurzeit europarechtlich praktisch nur dann aufgegriffen werden, wenn sie sich im Arbeitsumfeld ereignen. Naheliegend wäre eigentlich, hinsichtlich Kopftuchverboten auch Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts sowie aufgrund der Rasse/ethnischen Herkunft in Betracht zu ziehen. Der EuGH tat dies aber in keinem der beschriebenen Fälle – obwohl er in zweien davon von den vorlegenden Gerichten sogar explizit nach einer Geschlechterdiskriminierung gefragt worden war. Beide Male antwortete der EuGH lediglich, dass das Geschlecht von der RL 2006/54/EG und nicht von der RL 2000/78/EG erfasst werde, die aber der einzige Rechtsakt sei, den das vorlegende Gericht in seiner Frage nenne. Im Folgenden ging der EuGH inhaltlich nicht auf eine mögliche Geschlechterdiskriminierung ein (C-804/18 & C-341/19, Rn 56ff sowie C-148/22, Rn 42ff).

Diese Begründung mag formal nicht unrichtig sein. Allerdings sind zahlreiche Entscheidungen des EuGH zu finden, in denen er Vorlagefragen der Gerichte so umformuliert hat, dass er nicht aus formalen Gründen an einer Antwort gehindert wurde und auch in der Vorlage nicht genannte, aber für die Entscheidung relevante unionsrechtliche Vorschriften einbeziehen konnte (ausdrücklich etwa C-531/15, Rn 39 zur Geschlechterdiskriminierung am Arbeitsplatz). Zusätzlich wird in ErwG. 3 RL 2000/78/EG explizit festgehalten, dass sich die Union bei Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bemühe, „Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, zumal Frauen häufig Opfer mehrfacher Diskriminierung“ seien. Bei der Auslegung von Rechtsvorschriften zieht der EuGH regelmäßig auch die Erwägungsgründe heran (zur RL 2000/78/EG etwa verb Rs C-804/18 & C-341/19 Rn 4, 51, 62, 81).

Vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer Umformulierung der Frage, der expliziten Erwähnung der Geschlechterdiskriminierung in ErwG. 3 der RL 2000/78/EG sowie der Relevanz für die Ausgangsverfahren (vgl. C-804/18 & C-341/19, Rn 57) wäre zu erwarten gewesen, dass der EuGH Auslegungshinweise auch zu weiteren Diskriminierungsgründen, wenigstens zum Merkmal Geschlecht gibt. Dass er das nicht getan hat, legt die Vermutung nahe, dass er einer möglicherweise brisanten Frage ausweichen wollte. Die Qualifizierung solcher Kopftuchverbote auch als Diskriminierungen aufgrund anderer Merkmale, insbesondere des Geschlechts oder der Rasse/ethnischen Herkunft, hätte nämlich weitreichende Folgen:

Ein umfassenderer Diskriminierungsschutz

Während die RL 2000/78/EG nur im Arbeitsumfeld gilt, erfassen die RL 2004/113/EG sowie die Antirassismus-RL auch den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, die Antirassismus-RL zusätzlich noch die Bereiche Bildung und Medien. Sollten Kopftuchverbote in die Anwendungsbereiche dieser beiden Richtlinien fallen, wären die europarechtlichen Diskriminierungsverbote daher auch außerhalb des Arbeitsbereichs anwendbar. Dies wäre vor allem in jenen Mitgliedstaaten bedeutsam, die nicht über die aktuellen EU-Vorgaben hinausgehen und Diskriminierungen aufgrund der Religion nur in der Arbeitswelt regulieren. Einen solchen minimalen Schutzstandard gewährt etwa die österreichische Umsetzung, während in Deutschland der Anwendungsbereich des Diskriminierungsrechts auch für die Merkmale Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität auf (bestimmte) zivilrechtliche Schuldverhältnisse ausgedehnt wurde (§ 19ff AGG).

Ob und wie sich der EuGH zu diesem Thema äußern und damit möglicherweise dem europäischen Antidiskriminierungsrecht weitergehende Geltung verschaffen wird, bleibt abzuwarten. Wann es soweit sein wird, hängt neben dem Willen des EuGH, Stellung zu beziehen, davon ab, ob ihm ein nationales Gericht eine entsprechende, korrekt formulierte Frage stellt.

Ein umfassenderer Schutz könnte schließlich ohne eine entsprechende EuGH-Rechtsprechung durch eine neue Unionsvorschrift erreicht werden, mit der die Regelungen der verschiedenen Diskriminierungsmerkmale einander angeglichen würde. So eine RL, durch die u.a. das Merkmal Religion und Weltanschauung auch beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen geschützt würde, wurde 2008 vorgeschlagen und seither immer wieder diskutiert, bislang aber (noch) nicht verabschiedet. Durch eine derartige Vorschrift könnte ein einheitlicheres Schutzniveau hergestellt, die Bedeutung der Frage, unter welchem Merkmal eine Diskriminierung betrachtet wird, geschmälert und die Erfassung von Mehrfachdiskriminierungen verbessert werden.

Zitiervorschlag: Illmer, Anna, „Kopftuchverbote“ aus europarechtlicher Sicht: Diskriminierungen (nur) aufgrund der Religion?, JuWissBlog Nr. 39/2024 v. 20.06.2024, https://www.juwiss.de/39-2024/.

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Anna Illmer, Antidiskriminierung und Recht, Diskriminierungsverbot, Intersektionalität, Kopftuchverbot, Unionsrecht
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