und die Einführung einer internen Lingua franca
von JANIS HESSE
Mit 24 Amtssprachen hat die Vielsprachigkeit der Union eine historisch unvorhergesehene Dimension angenommen. Den organisatorischen Herausforderungen der Vielsprachigkeit wurde unterdessen nicht grundsätzlich begegnet. Inwieweit gerade die interne Sprachenorganisation zu Problemen wie der Beeinträchtigung des effektiven Rechtsschutzes und unangemessenen Verfahrenslängen führt und ob deren Folgen abgemildert werden könnten, soll im Folgenden vorgestellt werden.
Status quo: Selbstorganisation der Vielsprachigkeit
Der Komplexität der Vielsprachigkeit begegnet das Unionsrecht mit einem Konglomerat verschiedener Vorschriften. Hierbei kann zwischen Sprachenregelungen im Verhältnis zwischen Unionsbürger:innen und Union, sowie den unionsinternen Regelungen unterschieden werden. Primärrechtlich ist das Außenverhältnis an verschiedensten Stellen geregelt. Kerngehalt ist das Recht der Unionsbürger:innen, alle wesentliche Kommunikation in der Amtssprache ihrer Wahl empfangen und vornehmen zu können. Demgegenüber gründet das interne Sprachenregime allein auf Art. 342 AEUV. Gemäß dem hierauf beruhenden Art. 1 VO 1/1958 können alle Amtssprachen als interne Arbeitssprachen verwendet werden. Dabei bleibt die konkrete Ausgestaltung nach Art. 6 VO 1/1958 den Unionsorganen selbst überlassen. Unterdessen hat die überwiegende Zahl der Unionsorgane von einer Einengung ihrer Arbeitssprachen abgesehen. Allein die Europäische Kommission sowie der EuGH nehmen rigorose Beschränkungen vor. Während die Kommission Deutsch, Englisch und Französisch als interne Arbeitssprachen verwendet, greift der EuGH ausschließlich auf Französisch zurück.
Tatsächliche Folgen der Übersetzungserfordernisse
Die Praxis zeigt den Umfang der normativ angelegten Übersetzungserfordernisse deutlich. EP, Europäischer Rat zusammen mit dem Rat, sowie EuRH können jeweils auf einen eigenen internen Übersetzungsdienst zurückgreifen, während die EZB ebenfalls Übersetzungsressourcen aufweist. Den Agenturen und sonstige Einrichtungen steht das Übersetzungszentrum für die Einrichtungen der europäischen Union (CdT) zur Verfügung. Mit zusammengenommen 3,9 Millionen Seiten entfällt ein erheblicher Teil der Übersetzungsleistungen auf die Generaldirektion Übersetzung der Kommission sowie auf den Dienst der Juristischen Übersetzung des EuGH. Hierbei beschränken sich die notwendigen Übersetzungsleistungen nicht ausschließlich auf die externe Kommunikation zwischen Bürger:innen und Organ. Die divergierenden Arbeitssprachen erfordern auch im institutionellen Innenverhältnis erhebliche Übersetzungsleistungen. Zwar finden sich nur wenige offizielle Angaben zum interinstitutionellen und organinternen Übersetzungsbedarf. Allerdings fielen allein bei der Kommission 2022 etwa 330.000 zu übersetzende Seiten an, die ausschließlich der Kommunikation mit anderen Unionsorganen und den mitgliedstaatlichen Parlamenten diente. Gleichfalls erheblich sind die Übersetzungskosten. Während das CdT für seine Übersetzungsleistung von knapp 600.000 Seiten bereits Kosten in Höhe von ca. 44 Millionen Euro verursachte, belaufen sich die Übersetzungskosten der Kommission trotz vermehrter Rückgriffe auf „eTranslation“ und „outsourcing“ auf ca. 355 Millionen Euro (2022). Gleichzeitig entspricht dies lediglich 0,2 Prozent des gesamten Unionsbudgets.
Rechtliche Folgen der Übersetzungserfordernisse
Die Übersetzungen stellen eine zeitliche Verlängerung des Verfahrensfortgangs dar. Damit gilt: Je höher der Übersetzungsaufwand ist, desto geringer fällt die Verfahrenseffizienz aus. Unmittelbar ist dies aus unionseigener Perspektive ein Ärgernis. Mittelbar betreffen mögliche Effizienzverluste infolge der Übersetzungsanforderungen den Grundrechtsträger jedoch ebenso, sofern sich die verringerte Effizienz negativ auf die Effektivität der unionseigenen Gewährleistungen auswirkt. Entsprechend hierzu bilden – beginnend mit den Urteilen des EuGH in den Sachen Baustahlgewerbe / Kommission und Limburgse Vinyl ua. / Kommission – die Anzahl der Verfahrenssprachen, sowie der Umfang streitgegenständlichen Dokumente grundlegende Merkmale zur Bestimmung einer angemessenen Verfahrensfrist. Denkbar wären weitere Beeinträchtigungen des allgemeine Rechtsstaatsprinzip i.S.d. Art. 2 EUV, wenn ein effektiver Rechtsschutz aufgrund ausufernder Übersetzungserfordernisse nicht länger möglich erscheint. Daneben besteht die Gefahr eines Vertrauensverlustes in die europäischen Institutionen, gerade wenn nur einzelne Sprachen mit ausreichenden Übersetzungskapazitäten ausgestattet sind. Sodann würde die Vielsprachigkeit nicht eine kulturelle Vielfalt und Ebenbürtigkeit verdeutlichen, sondern zum Sinnbild eines Ungleichgewichts werden. Im Ergebnis erfüllen Übersetzungen lediglich im Außenverhältnis ihren primärrechtlichen Zweck. Im inner- und interorganischen Verhältnis stellt die Vielsprachigkeit der Union allein eine Belastung für weitere Grundrechtsgewährleistungen dar.
Eine interne Lingua franca
Ein Ansatz zur Abmilderung der Folgen der Übersetzungserfordernisse wäre die Einführung einer einheitlichen Arbeitssprache als interne Lingua franca. Dahingehende Ansätze sind unlängst erkennbar. So ist etwa die Datenbank Interactive Terminology for Europe um die Konsolidierung wichtiger Begriffe bemüht. Bereits de lege lata wäre die Umsetzung einer vereinheitlichen Arbeitssprache i.S.d. Art. 342 AEUV durch eine einstimmig beschlossene Verordnung des Rates möglich. Auch das Prinzip der Gleichrangigkeit der Unionssprachen steht diesem Lösungsansatz nicht im Weg. Eine zwingende Gleichbehandlung aller 24 Amtssprachen bei der Ausgestaltung des internen Sprachenregimes lässt sich hieraus nicht ableiten. Auch der EuGH sieht die konkrete Bevorzugung einer Amtssprache aufgrund von Effizienz- und Wirtschaftlichkeitserwägungen als grundsätzlich legitim an.
Positive Effekte einer internen Lingua franca
Eine gemeinsame Arbeitssprache würde den intern anfallenden Übersetzungsaufwand verringern. Zwar ist die Datenlage lückenhaft. Allerdings verwendet die Kommission etwa 12 % ihrer Übersetzungsleistung auf die interinstitutionelle Kommunikation. Sofern im Kommissionsverfahren der gesamte Sachverhalt ins Englische oder Deutsche übersetzt wurde, ist in einem anschließenden Gerichtsverfahren eine weitere vollständige Übersetzung ins Französische notwendig. Ersichtlich würde gerade eine gemeinsame Arbeitssprache von Kommission und EuGH den Umfang der notwendigen Übersetzungsleistungen erheblich reduzieren. Freigewordene Ressourcen könnten sodann in der externen Kommunikation eingesetzt werden. Auch würden bereits bestehende Anreize weiter an Wirksamkeit gewinnen. Etwa weist die Kommission in ihren Bekanntmachungen zu Art. 101, 102 AEUV darauf hin, dass der Verzicht auf die Wahl der Verfahrenssprache mögliche Verzögerungen vermeidet. Mit einer vergleichbaren Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zur Verfahrensdurchführung in der gemeinsamen Lingua franca von Kommission und EuGH könnten die derzeit notwendigen Übersetzungsleistungen vollständig entfallen. Ein weiterer zu erhoffender Vorteil ist eine eigenständigen institutionellen Sprachidentität. Dieser common ground könnte dort Akzeptanz schaffen, wo heute die Bevorteilung einiger Sprachen zumindest vermutet wird. Ebenso würde eine Erweiterung der Amtssprachen zu keiner wesentlichen Beeinträchtigung der institutionellen Organisation führen.
Was hat Brexit damit zu tun?
Neben praktischen Erwägungen wie dem insgesamt hohen Niveau der Englischkenntnisse in der Union bietet der Brexit die Gelegenheit, das Englische als gemeinsame Arbeitssprache einzuführen. Zwar bleibt Englisch in Irland und Malta weiterhin Amtssprache. Allerdings entfällt die emotionalisierte Gefahr, einen unerwünschten Sprachvorteil für wesentliche Akteure im unionalen Machtgefüge zu schaffen. Daneben sind Dokumente aus dem Englischen der derzeit mit Abstand häufigste Anlass einer vorzunehmenden Übersetzung. Das Einsparungspotenzial ist entsprechend hoch. Allein die Generaldirektion Übersetzung hat 2022 etwa 2,5 Millionen Seiten und damit knapp 92 % ihrer gesamten Übersetzungsleistungen aus dem Englischen übersetzt. Es zeigt sich: Die Einführung einer internen Lingua franca bietet die Chance einer eigenständigen Sprachenidentität sowie einer effektiven und effizienten Verfahrensgestaltung zugunsten umfangreicher Grundrechtsgewährleistungen.
Zitiervorschlag: Hesse, Janis, Die Vielsprachigkeit der Europäischen Union, JuWissBlog Nr. 14/2024 v. 01.03.2024, https://www.juwiss.de/14-2024/.
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