Im Vorfeld der ATÖR 2019 haben wir mit Dr. Matthias Lukan über seinen Vortrag „Verfassungskontinuität durch Verfassungsänderung – Wie kann eine Verfassung ihre Dauerhaftigkeit sichern?“ im Panel „VerfassungsWandel“ gesprochen. Er ist Universitätsassistent am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht an der WU Wien.
JuWiss: Warum sind Verfassungen überhaupt auf Dauer ausgelegt? Spricht etwas gegen flexible Rechtsordnungen, die sich an die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Umstände anpassen können?
Lukan: Eine Verfassung bildet die rechtliche Grundordnung eines staatlichen Gemeinwesens. Sie legt gewisse Grundregeln über das gesellschaftliche Zusammenleben und den Ablauf politischer Prozesse in einem Staat fest. Das betrifft vor allem die Freiheitsrechte des Einzelnen und fundamentalen Aspekte der Staatsorganisation. Um diese Funktion einer Grundordnung sinnvoll zu erfüllen, muss eine Verfassung einen gewissen Grad der Dauerhaftigkeit aufweisen. Von Grundregeln für den alltäglich politischen Prozess wird man nur dann sprechen können, wenn eine bestimmte Regelungsschicht eben diesem Prozess entzogen ist. Die sich ändernden politischen Mehrheiten sollen nicht die gesamte Grundordnung des Staatswesens in Frage stellen können. Aus diesem Grund sieht die weit überwiegende Zahl der Verfassungen erschwerte Änderungsbedingungen für das Verfassungsrecht im formellen Sinne vor. Die Dauerhaftigkeit der Verfassung ist natürlich kein Selbstzweck. Dadurch, dass sie den Anspruch einer gewissen Stabilität erhebt, schafft sie Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen. Das betrifft insbesondere Grund- und Minderheitenrechte. Dauerhaftigkeit heißt in diesem Zusammenhang aber nicht Starre. Eine Verfassung muss auch flexibel sein und auf Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren können. In diesem Bewusstsein ist zB Thomas Jefferson davon ausgegangen, dass eine Verfassung gar nicht dauerhaft sein muss, sondern jede Generation selbst über den Inhalt ihrer Grundordnung entscheiden solle. Er hat berechnet, dass aus diesem Grund eine Verfassung alle 19 Jahre ersetzt bzw neu ausgearbeitet werden müsse. Aber auch unterhalb dieser doch extremen Position ist klar, dass eine Verfassung nicht starr und unveränderlich sein kann. Eine Gesellschaft unterliegt der ständigen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Eine Verfassung muss diese Veränderungen nachvollziehen können. Tut sie das nicht, wird sie durch eine neue Grundordnung ersetzt. Das heißt, eine Verfassung muss gleichzeitig stabil und flexibel sein. Dieses Spannungsverhältnis ist nicht einfach zu lösen. Lässt eine Verfassung keine Änderung zu, wird sie umgangen und schlimmstenfalls durch eine neue Verfassung ersetzt. Ist die Verfassung zu leicht änderbar, verschwimmt die Grenze zum einfachen Gesetz. Die Verfassung driftet dann in die Beliebigkeit des alltäglichen politischen Prozesses ab. Sie kann keinen dauerhaften und stabilen Rahmen mehr schaffen. Ihre besondere Funktion geht verloren.
JuWiss: Welche verschiedenen Modelle und Instrumente zur Sicherung der Dauerhaftigkeit von Verfassungen gibt es?
Lukan: Für die Verfassungsgeber ist es gar nicht so leicht, Verfassungskontinuität zu schaffen. Verschiedene statistische Untersuchungen haben ergeben, dass unterschiedliche Faktoren Einfluss auf die Dauerhaftigkeit einer Verfassung haben. Die Verfassungsgeber können nicht alle diese Bedingungen steuern. Es gibt zahlreiche außerrechtliche Faktoren, die maßgebliche Auswirkungen auf die Kontinuität einer Verfassung haben. Außerdem stellen die Ergebnisse der statistischen Untersuchungen lediglich Durchschnittsbetrachtungen dar. Aus diesem Grund muss für jede Verfassung im Einzelfall ermittelt werden, welche Bedingungen ihre Dauerhaftigkeit begünstigen. Zuallererst wird die Dauerhaftigkeit der Verfassung wie gesagt dadurch vermittelt, dass sie nur unter erschwerten Bedingungen geändert werden kann. Das entzieht sie dem täglichen politischen Prozess. Weltweit gesehen legen Verfassungen ganz unterschiedliche Änderungsbedingungen fest. Das Spannungsverhältnis zwischen Stabilität und Flexibilität wird also verschieden gelöst. Erschwerte Änderungsbedingungen sind aber nicht das einzige Mittel, mit dem die Kontinuität einer Verfassung gesichert wird. Maßgeblich sind auch Umfang und Regelungsdichte einer Verfassung. Man könnte erwarten, dass kürzere und allgemein gehaltene Verfassungen eher lange Zeit überdauern können, insbesondere weil sie durch Interpretation fortentwickelt und damit leichter an sich ändernde Verhältnisse angepasst werden können. Aus statistischer Sicht lässt sich das aber nicht bestätigen. Umfangreichere und detailliertere Verfassungen bestehen verhältnismäßig länger. Ein dritter Faktor, den die Verfassungsgeber steuern können, ist der Grad der Inklusion, den eine Verfassung vermittelt. Um lange bestehen zu können, muss eine Verfassung die Interessen möglichst aller relevanten Gruppen in einem Staat berücksichtigen und zu einem Ausgleich bringen. Das kann zB dauerhaft durch die Dezentralisierung der Staatsorganisation (etwa durch Selbstverwaltung) und durch Minderheitenrechte geschehen. Bestimmte Bedingungen können die Verfassungsgeber nicht steuern. Das betrifft zB die Diversität und/oder Spaltung einer Gesellschaft. Eine hohe soziale, politische, religiöse oder ethnische Vielfalt erschwert die Herstellung von Verfassungskontinuität. Mit der Vielfalt steigt die Komplexität der Interessen, die in einer Verfassung auszugleichen sind. Die Verfassungsautoren können diesem Problem aber begegnen, indem sie eine entsprechend inklusive Verfassung ausarbeiten. Diversität steht nicht immer der Verfassungskontinuität im Weg. Das zeigt sich am Beispiel der indischen Verfassung. Indien ist ein sozial, religiös und ethnisch besonders vielfältiger Staat. Trotzdem feiert die Verfassung in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag. Besteht zwischen den Gruppen einer Gesellschaft aber eine tiefe Spaltung, kann diese nur schwer mit rechtlichen Mitteln überbrückt werden. Nicht zuletzt dieser Punkt ist der österreichischen Bundesverfassung von 1920 zum Verhängnis geworden. Zwischen den beiden großen politischen Lagern (Sozialdemokraten und Christlichsoziale) bestanden grundlegende Auffassungsunterschiede darüber, wie die junge Republik zu organisieren sei. Das führte dazu, dass die Verfassung nach nur 14 Jahren durch die ständisch-autoritäre Verfassung von 1934 ersetzt wurde. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die Spaltung zwischen diesen Lagern jedoch überbrückt werden. Es bestand der Wille zur Zusammenarbeit. Die Bundesverfassung wurde 1945 unverändert mit Stand von 1933 wieder in Kraft gesetzt. Sie steht seit 74 Jahren in Geltung und weist im Gegensatz zu ihrem „ersten Leben“ ein hohes Maß an Dauerhaftigkeit auf.
JuWiss: Welche Rolle spielen besondere Verfassungsänderungsklauseln für die Verfassungskontinuität?
Lukan: Verfassungsänderungsklauseln haben wie erwähnt einen maßgeblichen Einfluss auf die Verfassungskontinuität. Die Verfassungen der Staaten der Welt legen unterschiedliche Wege für ihre Änderung fest, sie weisen unterschiedliche Grade der Flexibilität auf. Statistisch wurde ermittelt, dass eine Änderungsklausel wie die der indischen Verfassung optimal ist, um das größtmögliche Maß an Kontinuität zu schaffen. Für eine Verfassungsänderung ist eine Mehrheit von zwei Dritteln in beiden Häusern des Parlaments und die Zustimmung des Präsidenten notwendig. Bestimmte Änderungen sind nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Mindestens die Hälfte der Bundesstaaten muss zustimmen. Das entspricht in wesentlichen Punkten der Änderungsklausel der österreichischen Bundesverfassung, wo für bestimmte Verfassungsänderungen eine Volksabstimmung notwendig ist. Hier zeigt sich aber besonders, dass die angesprochenen statistischen Untersuchungen bloße Durchschnittsbetrachtungen sind. Nimmt man die ältesten in Geltung stehenden geschriebenen Verfassungen in den Blick, legen sie alle weitaus strengere Änderungsbedingungen fest, als das erwähnte statistische Optimum. Die Verfassung der USA von 1789 kann nur mit Zustimmung von drei Vierteln der Bundesstaaten geändert werden. Für die Änderung der Verfassungen Norwegens (von 1814), der Niederlande (von 1815) und Belgiens (von 1831) sind Neuwahlen des Parlaments notwendig. Das alte Parlament leitet das Änderungsverfahren ein, das neue muss die Änderung bestätigen. Trotzdem liegt in all diesen Fällen ein hohes Maß an Dauerhaftigkeit vor. Es ist somit jeweils im Einzelfall zu beurteilen, ob eine bestimmte Änderungsklausel einen besonderen Beitrag zur Verfassungskontinuität leistet. Gleiches gilt für die Frage, ob es für die Kontinuität zweckmäßig ist, einen änderungsfesten Verfassungskern festzulegen. Einerseits wird dadurch ein bestimmter Regelungsbestand dauerhaft gegen Änderungen abgesichert. Das schafft eine gewisse Stabilität. Andererseits kann das aber auch bewirken, dass eine Verfassung zu starr ist und gewisse Entwicklungen nicht nachvollziehen kann. Das wiederum gefährdet insgesamt ihre Dauerhaftigkeit. Man wird davon ausgehen müssen, dass (besondere) Änderungsklauseln zwar einen Beitrag zur Dauerhaftigkeit leisten können. Sie dürfen aber nicht isoliert betrachtet werden. Das wird auch an der Geschichte der österreichischen Bundesverfassung deutlich: Sie legte bereits 1920 eine Änderungsklausel fest, die dem statistischen Ideal der indischen Verfassung in wesentlichen Punkten entspricht. Das bewahrte sie aber nicht davor, nach nur 14 Jahren ersetzt zu werden.
Interview von Matthias K. Klatt für die JuWiss-Redaktion.
Zitiervorschlag: Interview mit Matthias Lukan im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 27/2019 v. 22.2.2019, https://www.juwiss.de/27-2019/
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