Strategische Fahndung in NRW: Ein scharfes Schwert im Kampf gegen die Kriminalität?

von FABIAN TOROS und PASCAL FÖRSTER

Innere Sicherheit ist eines der Themen, das die Wahlkämpfe auf Bundes- und Landesebene zuletzt maßgeblich geprägt hat. Anders als die Kriminalstatistiken vermuten lassen, schwindet das subjektive Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung. Die Politik versucht, mit einer Erweiterung der polizeilichen Kompetenzgrundlagen gegenzusteuern. Jüngst wurde das Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (PolG NRW) novelliert und u. a. um die Möglichkeit der „strategischen Fahndung“ erweitert. Doch handelt es sich hierbei um ein scharfes oder ein stumpfes Schwert im Kampf gegen die Kriminalität?

Schleierfahndung im bayerischen Polizeiaufgabengesetz

Nach Vorstellung der CDU in NRW im Landtagswahlkampf 2017 sollte die bayerische Schleierfahndung als Blaupause für eine Kompetenzerweiterung der Polizeibehörden fungieren. In Bayern wurde im Jahr 1995 mit Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 BayPAG die erste polizeirechtliche Ermächtigungsgrundlage für die Durchführung von Maßnahmen der Schleierfahndung geschaffen. Mit der Maßnahme soll die Identitätsfeststellung im grenznahen Raum ermöglicht und damit ein Ersatz für die weggefallenen Grenzkontrollen an europäischen Binnengrenzen geschaffen werden. Der Anwendungsbereich ist mithin auf die präventive Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität und Aufenthaltsdelikten im grenznahen Raum (30 km) beziehungsweise auf Verkehrswegen des Grenzverkehrs beschränkt. Das Vorliegen einer abstrakten oder konkreten Gefahrenlage ist jedoch nicht erforderlich. Im Vordergrund stehen vielmehr der Standort und die Zielrichtung der handelnden Beamten. Flankierend können Personen (Art. 21 Abs. 1 Nr. 4 BayPAG) und Sachen (Art. 22 Abs. 1 Nr. 4 BayPAG) unter den gleichen Voraussetzungen durchsucht werden, was einen wesentlichen Unterschied zu der Regelung in NRW darstellt, die nur die Inaugenscheinnahme zulässt und damit deutlich weniger eingriffsintensiv ist. Die Maßnahmen der Schleierfahndung werden insbesondere durch die Beamten der Bayerischen Grenzpolizei durchgeführt, die am 1.7.2018 durch die Bayerische Landesregierung gegründet worden ist.

Auch wenn die Schleierfahndung in Bayern eine große praktische Relevanz hat, ist ihre Verfassungsmäßigkeit höchst umstritten. So wird insbesondere bezweifelt, dass Bayern über die diesbezügliche Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz verfügt. Auch die unionsrechtliche Zulässigkeit wird vor dem Hintergrund der strengen Voraussetzungen des Schengener Grenzkodex bezweifelt. So ist insbesondere fraglich, ob es sich aufgrund der Ausgestaltung um eine Maßnahme gleicher Wirkung im Verhältnis zu systematischen Grenzkontrollen handelt.

Strategische Fahndung im Polizeigesetz des Landes NRW

In Kenntnis dieser rechtlichen Debatten hat die Diskussion der Novelle des PolG NRW stattgefunden. Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der FDP ist die CDU in NRW von der strikten Verfolgung des Zieles, eine Schleierfahndung nach bayerischem Vorbild einzuführen, abgerückt. Das Instrument wurde im Koalitionsvertrag dahingehend angepasst, dass bloß verdachtsunabhängige, aber anlassbezogene Kontrollen möglich sein sollen. Nach einem mustergültigen, fachlich versierten parlamentarischen Verfahren wurde dann § 12a PolG NRW mit der amtlichen Überschrift „Polizeiliche Anhalte- und Sichtkontrollen (strategische Fahndung)“ eingeführt. Im Zuge dieser Reform wurden weitere Anpassungen im PolG NRW vorgenommen, die hier nicht weiter von Relevanz sind.

Systematisch handelt es sich bei § 12a PolG NRW um eine Erweiterung der Ermächtigungsgrundlage zur Identitätsfeststellung. Auf Rechtsfolgenseite gleichen sich die strategische Fahndung und die Schleierfahndung zunächst. So gestattet § 12a PolG NRW das Anhalten von Personen bzw. Fahrzeugen, die Identitätsfeststellung sowie die Inaugenscheinnahme (§ 12a Abs. 1 S. 1 PolG NRW) im öffentlichen Verkehrsraum. Zudem kann die Polizei in NRW verlangen, Gegenstände zu öffnen (§ 12a Abs. 1 S. 2 1. HS PolG NRW). Letzteres ist hinsichtlich der strafprozessualen, grundrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben hinsichtlich des „nemo tenetur“-Grundsatzes problematisch. Ebenso wurden Bedenken aus der Praxis bei der Kontrolle von Wohnmobilen wegen der Unverletzlichkeit der Wohnung und Bedenken gegen die zwangsweise Durchsetzung der Öffnungspflicht angemeldet. Die schon bei der regulären Identitätsfeststellung ergebende rechtliche Problematik des sog. „racial profiling“ kann sich nach bei der strategischen Fahndung ebenso stellen.

Die materiellen Voraussetzungen unterscheiden sich in Bayern und NRW jedoch gravierend. So zielt die strategische Fahndung auf die Verhütung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung (z. B. gewerbsmäßiges Handeltreiben mit Cannabis als Betäubungsmittel durch Jugendliche), terroristischer Straftaten (z. B. nachrichtendienstliche personenunspezifische Hinweise auf einen Anschlag), gewerbs- oder bandenmäßig begangener grenzüberschreitender Kriminalität (z. B. „Geldautomatensprengungen“) oder die Unterbindung des unerlaubten Aufenthaltes ab (z. B. Vorgehen gegen einen sog. „Arbeiterstrich“ von Personen ohne ein ausländerrechtliche Aufenthaltsrecht). Im Fokus liegen mithin eher schwere Gefahrenlagen als die Nähe zur Grenze. Darüber hinaus sind auch die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen deutlich strenger als in Bayern. So sind die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der strategischen Fahndung nach einer tatsachengestützten Prognoseentscheidung für ein spezifisches Gebiet bezogen auf die Zwecke der Maßnahme zu bestimmen.

Das Verwaltungsbinnenverfahren, das der strategischen Fahndung in NRW vorgeschaltet ist, erfordert zudem einen deutlich längeren Zeitlauf als die Schleierfahndung in Bayern. Während mit der Maßnahme in Bayern relativ formlos begonnen werden kann, ist in NRW gemäß § 12a Abs. 2 PolG NRW im Regelfall ein schriftlicher Antrag bei der Behördenleitung erforderlich. Die Anordnung erfolgt sodann schriftlich. In der Anordnung sind, als Sonderfall der Begründung, weitere schriftliche Informationen durch die Behördenleitung anzugeben. Die Maßnahme ist auf zunächst höchstens 28 Tage begrenzt, jedoch besteht die Möglichkeit zur zweckgebundenen und damit deliktsgebundenen Verlängerung. In jedem Fall darf die Maßnahme nur so lange andauern, wie dies zweckbezogen auf die Zwecke des Kataloges in § 12a Abs. 1 PolG NRW erforderlich ist. Solche eingrenzenden Formalitäten sind der bayerischen Schleierfahndung fremd.

Strategische Fahndung als Maßnahme mit hoher Praxisrelevanz?

Im parlamentarischen Verfahren wurden somit auf materieller und formeller Ebene strenge Voraussetzungen geschaffen, welche die strategische Fahndung immer weiter von der anlass- und verdachtsunabhängigen Schleierfahndung wegrücken und vielmehr als Sonderfall der Identitätsfeststellung an gefährlichen Orten (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW) erscheinen lassen. Auch wenn die strategische Fahndung im gesamten Flächenland NRW zulässig ist, ist über den Anlassbezug hinaus stets ein Erkenntnisbezug nach Auswertung und Prognose nötig. Dies lässt sich auf die strengen Voraussetzungen im Hinblick auf die Kompatibilität der Norm mit dem Schengener Grenzkodex und der politischen Kompromissformel (s.o.) zurückführen. Anders als bei einer gefahrenabwehrrechtlichen Kontrollstelle (§ 12 Abs. 1 Nr. 4 PolG NRW) ist der Katalog an Straftaten bei der strategischen Fahndung weiter gefasst, umgekehrt sind aber die formellen Voraussetzungen deutlich höher.

Fazit

Die Kompetenzgrundlage des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 BayPAG wird in der bayerischen Polizeipraxis häufig angewendet. Aufgrund der hohen formellen und materiellen Anforderungen ist die strategische Fahndung gemäß § 12a PolG NRW jedoch definitiv auf Sonderfälle und nicht auf den polizeilichen Alltag zugeschnitten. Vor diesem Hintergrund ist eher von einer geringen Praxisrelevanz der Vorschrift auszugehen. Dennoch kann die Maßnahme bei einer geschickten Anwendung zu einem scharfen Schwert im Kampf gegen die Teilbereiche der Kriminalität in NRW werden, die in § 12a Abs. 1 PolG NRW genannt sind. Sie eignet sich jedoch nicht für spontane oder permanente Maßnahmen, sondern bedarf eines überlegten Vorgehens.

Zitiervorschlag: Fabian Toros/Pascal Förster, Strategische Fahndung in NRW: Ein scharfes Schwert im Kampf gegen die Kriminalität?, JuWissBlog Nr. 63/2019 v. 14.6.2019, https://www.juwiss.de/63-2019/

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