von MARTIN LEIßING
Gehört das Semesterticket als (vergleichsweise) günstiges ÖPNV-Angebot bald der Vergangenheit an? Denn ob es rechtmäßig ist, dass alle Mitglieder der (soweit existent: verfassten) Studierendenschaft das Ticket verpflichtend beziehen, wird akut in Frage gestellt – und zwar durch das „Deutschland-Ticket“, das eigentlich den ÖPNV stärken sollte. Der folgende Beitrag legt die Problemlage mit besonderem Blick auf das nordrhein-westfälische Semesterticket offen und schätzt ein, ob die bisherige Finanzierung sich zukünftig noch rechtfertigen lässt und wie diese möglicherweise geändert werden könnte.
Den ÖPNV zu fördern ist ein erklärtes Ziel der Bundesregierung (vgl. etwa Koalitionsvertrag S. 50); dies wurde nicht zuletzt durch die befristete Einführung des 9€-Tickets unterstrichen, das nach längerem Streit mit dem Deutschland-Ticket („49€-Ticket“) einen Nachfolger gefunden hat. Ein ohne Tarifdschungel und deutschlandweit gültiges Ticket für einen Preis von unter 50€/Monat soll den ÖPNV stärken und möglichst viele Menschen überzeugen, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen.
Vergünstigte Abomodelle für den ÖPNV gibt es bereits in verschiedenen Ausformungen – besonders attraktiv ist das studentische Semesterticket (nicht umsonst sind sog. Ticket-Studenten keine Seltenheit). Dieses wird in zwei Modellen angeboten: Einerseits ein Sockelmodell, das neben einem „Rumpf-Ticket“ die Option zum Kauf eines vergünstigten umfassenden Tickets enthält, andererseits, u.a. in NRW, ein vollständiges Solidarmodell für ein einheitliches, umfassendes Ticket (für eine Übersicht siehe hier).
Zugrundeliegende Rechtsfragen: Zwangsmitgliedschaft und Solidaritätsprinzip
In fast allen Bundesländern beruht des Semestertickets im Ausgangspunkt auf der Mitgliedschaft in der verfassten Studierendenschaft. Die Zwangsmitgliedschaft wird überwiegend als Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG angesehen. Dieser rechtfertigt sich nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch die Wahrnehmung einer legitimen öffentlichen Aufgabe und die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Insofern ist auch die konkrete Tätigkeit durch Organe wie den AStA nur innerhalb dieser Grenzen gestattet.
In Bezug auf das Semesterticket verhandelt die verfasste Studierendenschaft, vertreten zumeist durch den Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA), mit den Verkehrsunternehmen. Wird ein entsprechender Vertrag geschlossen, haben im Grundsatz alle Studenten die Kosten im Rahmen des Semesterbeitrags zu tragen.
Rechtfertigung des verpflichtenden Semestertickets
Dies führt zu der Frage, ob sich dieses zwangsweise Abonnement noch innerhalb der verfassungs- und einfachrechtlichen Grenzen bewegt. Die Frage wurde durch Rechtsprechung (bis zum BVerfG) und Literatur beim Aufkommen des entsprechenden Modells in den 1990er–Jahren, teilweise auch noch in jüngerer Vergangenheit, vielfach diskutiert.
Außer in Berlin gibt es für das Semesterticket keine spezialgesetzliche Ermächtigung; allerdings wird die Kompetenz hierzu den allgemeinen Bestimmungen (für NRW § 53 Abs. 2 S. 2 Nr. 5 HG NRW: Wahrnehmung sozialer Belange) entnommen (näher BVerwG Rn. 16 ff.).
Lässt man diese Kompetenznorm genügen, stellt sich noch immer die Frage, ob der zwangsweise bzw. solidarische Bezug des Semesterticktes verhältnismäßig ist. Das Ziel, die Studierbedingungen (insbesondere) finanzschwacher Studenten durch die kostengünstige Nutzung des ÖPNV zu verbessern, ist als solches nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG, legitim (eingehend OVG NRW, Beschl. v. 15.09.1997, 25 A 3362/93 Rn. 23 ff., juris). Auch die Corona-Zeit hat es nicht entbehrlich gemacht, regelmäßig die Universität aufzusuchen. Geeignet ist die Maßnahme, wie auch das BVerfG andeutet, dann, wenn tatsächlich die ÖPNV-Nutzung steigt oder jedenfalls für einen signifikanten Teil die aufzuwendenden Kosten sinken. Erforderlich ist die Maßnahme nur, wenn die Förderung nicht auf anderem Wege gleich effektiv gelingt – also insbesondere durch ein Freiwilligkeitsmodell. Zudem ist insbesondere die konkrete finanzielle Belastung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu prüfen. Zwar liegt in NRW schon die bisherige Beitragshöhe über dem vom BVerwG als noch zulässig qualifizierten Satz von ca. 1,6% des BAföG-Höchstsatzes (Rn. 45); wie genau die Zumutbarkeitsgrenze zu bemessen ist, ist jedoch nicht Gegenstand dieses Beitrags.
Neubewertung durch das Deutschland-Ticket?
Die bisherige, bundesverfassungsgerichtlich gebilligte, Argumentation für die Verhältnismäßigkeit eines verpflichtenden Bezugs des Semestertickets wird durch das Deutschland-Ticket herausgefordert. Nicht zuletzt die ASten selbst warnen, dass die Rechtmäßigkeit des bisherigen Prinzips ins Wanken gerät.
In der Grundsatzentscheidung des BVerwG (Rn. 41 ff.) wurde im Rahmen der Erforderlichkeit angeführt, dass eine Verbilligung von über 75% einen bedeutenden Vorteil darstelle, der auf andere Weise nicht erreicht werden könnte, was auch das BVerfG „einleuchtend“ fand. Betrachtet man exemplarisch für NRW die Daten, so steht dem NRW-Semesterticket für 36,67€/Monat demnächst ein Deutschland-Ticket für 49€/Monat gegenüber. Die studentische Variante ist daher (bei differierendem Leistungsumfang) „lediglich“ etwa 25% günstiger. Auch wird als Fortführung des auf einem grundsätzlichen Freiwilligkeitsprinzip beruhenden Jobtickets das Deutschland-Ticket günstiger angeboten. Ob so auch bei einem Systemwechsel zu einem Opt-In-Semesterticket zumindest eine verbilligte Variante des Deutschland-Tickets erreicht werden kann, vermag aus der Außenperspektive nicht abschließend beurteilt zu werden, zumal eine Subventionierung, wie sie beim Jobticket durch den Arbeitgeber erfolgt, durch die verfasste Studierendenschaft nicht (ohne Zwangsbeitrag) möglich ist.
Für die Erforderlichkeit würde es aber im Grundsatz sprechen, wenn der Preis des Deutschland-Tickets angesichts der am Sozialstaatsprinzip orientierten Ausgestaltung des Semestertickets eine enorme Mehrbelastung darstellen würde, der bisherige Preis des Semestertickets also gerade eine besondere Härte aufgrund hoher ÖPNV-Kosten abfedern würde. Die finanzielle Mehrbelastung wäre, gerade in aktuellen Krisenzeiten, zweifelsohne beachtlich. Zu beachten ist allerdings, dass der Gesetzgeber bei der Berechnung des Regelbedarfs nach § 5 RBEG einen Anteil von ca. 9% für Verkehr zugrunde legt; bezieht man dies auf den niedrigsten BAföG-Bedarfssatz für Universitätsstudenten von 511€ (§ 13 BAföG), ergäbe sich ein monatlicher Anteil von ca. 46€, beim Höchstsatz von 934€ ein Anteil von ca. 84€. Damit wäre das Budget zwar beim Mindestsatz sogar überschritten und auch sonst ein Großteil aufgebraucht; da die Studenten hierüber aber selbst entscheiden könnten, spricht dies dagegen, dass die Kosten unangemessen hoch wären.
Ob daher die finanzielle Mehrbelastung grundsätzlich aller Mitglieder der verfassten Studierendenschaft noch erforderlich und darüber hinaus ob der bestehenden Alternative angemessen im engeren Sinne ist, wird durch das Deutschland-Ticket jedenfalls für einige der bisher existierenden Modelle zweifelhaft.
Mögliche Lösungsansätze: Upgrade, vergünstigte Konditionen, Opt-In
Folgt man dieser Argumentation, so stellt sich die Frage, welche anderweitigen Gestaltungsmöglichkeiten es gibt, um zu verhindern, dass das Semesterticket als rechtswidrig verworfen werden muss.
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) setzt auf ein „Upgrade-Modell“, bei dem durch Zahlung des Differenzbetrags (in NRW also 12,33€) das Semester- zum Deutschland-Ticket wird. Dies löst jedoch das zugrundeliegende Problem nicht: Zwar wird so der Erwerb eines 49€-Tickets attraktiver, es wird allerdings insgesamt nicht günstiger und der (wohl zu) geringe Abstand von Semester- zu Deutschland-Ticket bleibt bestehen, was die verfassungsrechtliche Problemlage also unberührt lässt.
Vonseiten der ASten in NRW wird ein deutlich vergünstigtes Deutschland-Ticket als Semesterticket gefordert. Den Preisabstand von regulärem zu studentischem Deutschland-Ticket (bei Rechnung der Landes-ASten-Treffen NRW eine Ersparnis von über 56%) zu vergrößern, spräche für die Verhältnismäßigkeit.
Daneben bliebe die Möglichkeit, das Semesterticket zum Opt-In-Modell zu machen, um so wenn möglich eine günstigere Variante ohne Zwangsprinzip anzubieten. In Bayern etwa scheint das Ende des verpflichtenden Semestertickets zum Wintersemester 2023/2024 zu kommen: Dort soll durch staatliche Subvention ein 29€-Ticket ermöglicht werden (nach den bisherigen Ankündigungen als freiwilliges Abo-Modell).
Fazit
Das Deutschland-Ticket fordert die bisherige Rechtfertigung eines zwangsweisen Semesterticketbezugs heraus. Will man sich nicht vom Semesterticket verabschieden, sollten die Beteiligten ihren Ankündigungen Taten folgen lassen und auf eine zeitnahe Anpassung des bisherigen Modells hinarbeiten. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass so manches Semesterticket-Modell sein Ende vor den Verwaltungsgerichten findet.
Zitiervorschlag: Leißing, Martin, Semesterticket in Gefahr?, JuWissBlog Nr. 6/2023 v. 08.03.2023, https://www.juwiss.de/6-2023/.
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