Fünf Fragen an Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.), Lehrstuhl für Europa- und Völkerrecht

von JUWISS-REDAKTION

InterviewAm Mittwochabend der 57. Assistententagung diskutierten der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Hänsch, Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.) von der Universität Hamburg und Prof. Dr. Patrick Sensburg, Mitglied des Deutschen Bundestages über das Thema „Die Europäische Union als Wirtschaftsgemeinschaft, Wertegemeinschaft, Kulturgemeinschaft?“. Erste Eindrücke der Debatte finden sich im Live-Blog auf Twitter. Im Nachgang hatten wir die Gelegenheit, Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.) noch einige weiterführende Fragen zu stellen.

JuWiss: Das Thema der 57. Assistententagung – „Rechtskultur und Globalisierung“ – ist offen für die Annahme wechselseitiger Wirkmacht zwischen normativen und faktischen Entwicklungen: Die Globalisierung beeinflusst Rechtskulturen, wie Rechtskulturen die Globalisierung prägen. Die vergangenen Jahrzehnte verbrachten wir in einem Prozess der kontinuierlichen Vergemeinschaftung von Grundwerten und -rechten. Haben wir bereits die Entwicklung einer globalisierten Rechtskultur erlebt?

Kotzur: Ich fürchte, meine Antwort erfüllt mit einem entschiedenen „Ja und Nein“ alle Juristenklischees. Einerseits können wir sowohl in den Inhalten als auch Methoden eine weitreichende Globalisierung des Rechts beobachten: Selten zuvor wurde in den einzelnen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften so intensiv über die Anschlussfähigkeit ihrer Disziplin an internationale Theorie- und Methodendebatten nachgedacht. Mit einiger Vehemenz hat die Rechtsvergleichung ihren unverzichtbaren Platz im Methodenkanon des (internationalen) öffentlichen Rechts erstritten. Das Denken in politischen Mehrebenensystemen, spezifiziert zum „multilevel constitutionalism“, leitet von den Methoden schon zu den Inhalten über: universelle Menschenrechtsstandards, die Emergenz einer „international rule of law“, dann der völkerrechtliche Multilateralismus in Sachen Klimaschutz, Freihandelsregime als Motoren wirtschaftsrechtlicher Globalisierung, vor allem aber die Harmonisierung des Rechts, wie sie von der supranationalen EU exemplarisch und weit intensiver als in anderen staatenübergreifenden Verantwortungsgemeinschaften praktiziert wird. Gerade in letztgenannter Hinsicht ist der europäische Integrationsprozess Globalisierungsavantgarde, die Unionsverfassung ein vielversprechender Rahmen, um auf Globalisierungsphänomene adäquate Antworten zu finden.

Damit zum „Anderseits“: Je intensiver die Globalisierung Ängste schafft, soziale Schieflagen bedingt, die Sehnsucht nach dem Schutzraum des Nationalstaates und protektionistischer Abschottung weckt, umso mehr wird ihre „Avantgarde“ der Union zum Verhängnis. Der Brexit ist nur ein Beispiel. Das Leitmotiv der Union „Einheit in Vielfalt“ wird heute mit einem weit stärkeren Akzent auf der Vielfalt als auf der Einheit gelesen. Bei allen gemeinsamen Werten geht es immer auch um die nationale (Verfassungs-)Identität. Das Subsidiaritätsprinzip wird zum Schutz des je Eigenen aktiviert, der EuGH besonders kritisch beäugt, wenn er in allzu progressiver Manier, sei es bei den Grundrechten, sei es bei den Grundfreiheiten gemeinsame Standards durchsetzen und die Autonomie der Mitgliedstaaten dadurch relativieren will. Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Es wird immer deutlicher, dass die Globalisierung eine vollständig harmonisierte Rechtskultur weder schaffen kann noch schaffen sollte. Globalisierung verlangt vielmehr, dass kulturelle Partikuläre der einzelnen politischen Gemeinschaften zu wahren, sie aber responsiv und kooperativ zu anderen, ihrerseits kulturell partikulären politischen Gemeinschaften zu öffnen (nachzulesen schon in Peter Häberles „Europäischer Rechtskultur“ aus den frühen 1990er Jahren). Der damit verbundene Prozess der Austarierung wird nie in perfekter Harmonie von Partikularität und Universalität münden, er wird meines Erachtens aber auch nicht an den gegenwärtigen Renationalisierungstendenzen zerbrechen. Denn anders als manche suggerieren, ist Globalisierung nicht irgendeine politische Ideologie, die sich nach Belieben durch eine andere ersetzen ließe. Globalisierung ist vielmehr ein Wirklichkeitsphänomen, auf das Recht in all seinen Formen reagieren muss, will es seine Steuerungskraft nicht verlieren.

JuWiss: Aktuell beobachten wir mit dem „Brexit“, Trumps Außenpolitik und den erstarkenden nationalistischen Bewegungen in ganz Europa und den USA eine Kehrtwende hin zum Nationalstaat. Worin sehen Sie die Ursachen dieses nationalistischen Trends? Gibt es dennoch Hoffnung auf eine fortschreitende Globalisierung der Rechtskultur?

Kotzur: Ich kann auf das eben Gesagte verweisen. Es sind Globalisierungsängste, die die Menschen umtreiben, und ganz ohne Zweifel hat die Globalisierung eine Fülle von Verlierern geschaffen, die sich von den so geschmähten „Globalisten“ im Stich gelassen fühlen. Die Rückkehr zum Nationalstaat suggeriert Autonomie und Autarkie, viele glauben, dass durch schlichte Renationalisierung der Nationalstaat seine verlorene Handlungsmacht zurückgewinnen, Sicherheit, Arbeitsplätze und soziale Absicherung garantieren könne. Erinnern Sie sich an den Brexit-Slogan „getting our country“ back. Trumps „America first“-Rhetorik insinuiert dasselbe. Es bleibt aber ein großer Irrtum, zu glauben, dem Wirklichkeitsbefund „Globalisierung“ mit den Remeduren des geschlossen Nationalstaates „in splendid isolation“ begegnen zu können. Ein großer deutscher Historiker hat einmal gesagt, die Eisenbahn sei der Leichenwagen des Absolutismus. Meines Erachtens lässt sich dieses kluge Bild leicht auf unsere heutige Situation ummünzen: Das Internet ist der Leichenwagen des geschlossenen Nationalstaates. Und ohne verfehlte Parallelen zum 19. Jahrhundert bemühen zu wollen: Mit der Globalisierung stellt sich eine ganz „neuartige soziale Frage“, auf die wir Antworten finden müssen. Die Globalisierung des Rechts ist nicht tot, im Gegenteil: Sie fängt gerade dort an, wo es um diese Antworten geht: Globalisierung im Dienste der Menschen gestalten.

JuWiss: Die Podiumsdiskussion wirft die Frage der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ auf. Polen und Ungarn stehen wegen diverser Gesetzesänderung im akuten Verdacht, diese gemeinsamen Werte zu verletzen. Die Kommission hat schon mehrfach mit der Eröffnung der in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren gedroht – bislang jedoch ohne spürbaren Erfolg. Führt die EU den Kampf um ihre Werte mit einem zu „stumpfen Schwert“ oder lässt sich die Vergemeinschaftung von Werten schlicht nicht über das Recht erzwingen?

Kotzur: Ihre Frage nimmt meine Antwort schon ein wenig vorweg. Auch wenn eine Rechtsordnung auf gemeinsamen Werten gründet, lassen sich Werte nur schwer durch das Recht, gar vor einem Gericht durchsetzen. Deshalb ist Art. 7 EUV als voraussetzungsreiche ultima ratio formuliert. Deshalb muss auch das Schwert sehr lange in der Scheide bleiben, aber vollständig stumpf ist es nicht. Es gilt nur noch weit stärker als in vielen anderen Bereichen das „et respice finem“, das Denken von den Folgen her. Wenig wäre gewonnen, insbesondere für das gemeinsame Wertefundament, wenn ein Verfahren nach Art. 7 EUV noch weitere und weitergehende Desintegrationskräfte entfalten würde. Es gibt schlicht keinen Königsweg und die Union braucht neben einem wachsamen Auge einen sehr langen Atem. Um hier noch einmal auf ihr Bild zurückzukommen: Selbst ein relativ stumpfes Schwert bleibt nicht ganz ohne Wirkung, wenn es den Mitgliedstaaten am Rosshaar des Damokles über dem Haupte hängt.

JuWiss: Einer der Referenten der 57. Assistententagung wirft heute die Frage einer margin-of-appreciation-Doktrin für den EuGH auf. Wäre die Anerkennung eines solch ausdrücklichen Spielraums für mitgliedstaatliche Besonderheiten auch ein Gewinn für die EU als Rechtskulturgemeinschaft?

Kotzur: Auch wenn der EuGH die Doktrin des EGMR nicht explizit übernimmt, argumentiert er mitunter der Sache nach nicht vollständig unähnlich, man denke etwa an die Rechtsprechungsdynamik zur Warenverkehrsfreiheit. Mit der Umdeutung vom Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot hat der EuGH den Mitgliedsstaaten viel Autonomie genommen, sie ihnen aber durch Keck und die Folgerechtsprechung ein Stück weit zurückgegeben, soweit der Marktzugang nicht vereitelt wird. Dahinter steht auch der unausgesprochene Gedanke, dass die Mitgliedstaaten vieles schlicht besser und differenzierter regeln können. Oder erinnern Sie sich an die Omega-Entscheidung, in der der EuGH dem spezifisch deutschen Menschenwürdeverständnis großen Respekt zollte, obwohl sich eine vergleichbar restriktive Haltung in kaum einem anderen Mitgliedstaat fand. Angesichts der derzeitigen Integrationskrisen wäre der Gerichtshof wohl gut beraten, in seinen Urteilen ein deutliches Ausrufungszeichen zu setzen, wie ernst er ein mitgliedstaatliches „Das können wir besser!“ nimmt – Stichwort Subsidiarität. Die Formel von der „margin of appreciation“ wäre diesbezüglich gewiss nicht die schlechteste Formulierung. Aber gewiss auch kein Allheilmittel.

JuWiss: Generalanwalt Mengozzi hat in seinen Schlussanträgen Anfang Februar dem EuGH vorgeschlagen, zu entscheiden, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union unter bestimmten Voraussetzungen grundrechtlich verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen ein Visum zu erteilen, damit er sein Recht auf internationalen Schutz realisieren kann. Was halten Sie von diesem Ansatz?

Kotzur: Generalanwalt Mengozzi hat viele überrascht und einen progressiven Schritt gewagt. Das völkerrechtliche Flüchtlingsrecht kennt humanitäre Visa nicht. Es basiert auf dem Gedanken, dass der Schutzsuchende die Grenzen seines Zielstaates bereits erreicht haben muss. Angelika Nussberger etwa kritisiert völlig zu Recht diesen prekären Anreiz, diese prekäre Voraussetzung, weil ohne die lebensgefährliche Flucht – z. B.  über das Mittelmeer –    und das mit ihr verbundene Chaos ein rechtlich gesicherter Schutzanspruch nicht realisiert werden kann. Das humanitäre Visum würde wichtige Abhilfe schaffen, ist aber schon unter Praktikabilitätsgesichtspunkten ein hoch problematisches Instrument. Stellen Sie sich nur vor, die syrischen Flüchtlinge würden schon vor Ort in Damaskus die diplomatischen Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten stürmen, um ein entsprechendes Visum zu erhalten. Deshalb sieht das Genfer Recht eine solche Option auch nicht vor, möglich wird sie durch die Konstruktion extraterritorialer Schutzpflichten, abgeleitet aus den europäischen Grundrechten. Das scheint nur unter sehr spezifischen Umständen möglich. Wer das Votum des Generalanwalts liest, sieht denn auch, dass es auf einen sehr spezifischen Fall zugeschnitten ist. Wirkt es darüber hinaus? Ja, es legt den Finger in die Wunde des gegenwärtigen Flüchtlingsrechts und kann wichtige Diskussionen über die Trag- und Reichweite des Non-Refoulement anstoßen. Sinnvoll sind solche Diskussionen aber nur im Miteinander der und nicht gegen die Mitgliedstaaten.

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