JuWiss-Schwerpunktwoche zum Datenschutzrecht
von PETER IVANKOVICS
Verhaltensökonomisch inspirierte Steuerung, häufig unter dem Begriff „Nudging“ behandelt, ist en vogue. Befürworter sehen darin die Möglichkeit, Individuen ohne die Einschränkung ihrer Freiheit zu besseren Entscheidungen zu verhelfen. Kritiker sehen darin eine bedenkliche Form des Einsatzes manipulativer Mittel. Nudging bedient sich kluger – wenn man so will psychologischer – Steuerungsinstrumente, welche Verhaltensanomalien ausnutzen, um Einfluss auf das Verhalten von Individuen zu nehmen. Vor Kurzem wurde ein besonders negatives Beispiel der Nutzung psychologischer Mechanismen zu Lenkungszwecken publik: die Sammlung von Daten von Nutzern sozialer Netzwerke und die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen, um damit Botschaften maßgeschneidert auf einzelne Individuen abstimmen zu können. Indem sie an bestehenden Einstellungen der Betroffenen ansetzt, wird die Wirksamkeit der Botschaft maximiert. Die Sammlung der Daten und die Erstellung psychologischer Profile trifft das Recht auf Datenschutz im Kern. Es soll dahingestellt bleiben, ob es sich bei diesem Beispiel tatsächlich noch um Nudging handelt. Das Grundschema ist jedenfalls vergleichbar: die Nutzung psychologischer Mechanismen zur Erzielung eines Lenkungseffektes.
Die rechtliche Handhabe verhaltensökonomisch inspirierter Steuerung gestaltet sich schwierig. Schon die emotionale Einordnung fällt oft nicht leicht. Ist es denn schlimm, wenn in staatlicher Kommunikation eine Veränderung nicht als Gewinn, sondern der Status-Quo als Verlust dargestellt wird? Kann Information zu lebendig, zu emotional, Verwaltungskommunikation zu persönlich sein? Oder kann es problematisch sein, wenn eine Default-Regel eingeführt wird, von der ich mich jederzeit lösen kann? Die beinahe Alltäglichkeit vieler Erscheinungsformen verhaltensökonomisch inspirierter Steuerung steht in Kontrast zu deren Wirksamkeit. Das stiftet Verwirrung. Unklar ist unter anderem, ob und unter welchen Umständen verhaltensökonomisch inspirierte Steuerung in die Rechte der Gelenkten eingreifen kann. Hier sollen ein paar Gedanken zu dieser Frage umrissen werden.
Grundrechtseingriff von innen?
Staatliches Handeln kann die Ausübung einer grundrechtlich geschützten Freiheit durch normative Anordnung oder durch faktische Einwirkungen erschweren oder verunmöglichen. Normative und faktische Beschränkungen grundrechtlicher Freiheit mögen sich zwar im Detail unterscheiden, im Kern sind sie aber vergleichbar: Sie wirken von außen auf die geschützte Freiheitssphäre des Individuums und entziehen dem Individuum die Möglichkeit, eine Freiheit in Anspruch zu nehmen oder erschweren zumindest deren Ausübung.
Die Beschränkung der Freiheit liegt im Kern des Grundrechtseingriffes. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob eine Einschränkung der Freiheit von innen oder außen erfolgt. Deshalb muss gelten: Jedenfalls dann, wenn verhaltensökonomisch inspirierte Steuerungsmittel einem Individuum die Willens- und damit Handlungsfreiheit entziehen oder dessen Ausübung hinreichend schwerwiegend behindern, sind sie auch zum Eingriff in Grundrechte geeignet.
Autonomie als Messpunkt
Nicht jede Einwirkung auf die Entscheidung einer Person bedroht deren freie Willensentscheidung. Nicht ausreichend, um einen Eingriff zu begründen, ist deshalb alleine die Feststellung einer Beeinflussung des Individuums, ist doch Beeinflussung (rein technisch verstanden) der Kern jeder lenkenden Maßnahme. Beispielhaft ist hierbei an die Vermittlung von Tatsacheninformationen zu denken: Auch hierdurch wird das Verhalten der Empfänger beeinflusst. Ihre Entscheidungsfreiheit wird ihnen aber nicht entzogen.
Selbst wenn eine Informationsmaßnahme werbeähnliche Formen annimmt oder auf psychologische Effekte zurückgreift, ist der Befund der Beeinflussung nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem Verlust der Willensfreiheit des Empfängers. Die farbliche Hinterlegung der Energieverbrauchskennzeichnung (z.B. auf Kühlschränken) vermittelt eine Wertung, lenkt Aufmerksamkeit und beeinflusst so die Entscheidung der Informationsempfänger, liegt darin aber ein grundrechtliches Problem?
Spricht man von Beeinflussung oder Entzug der Willensfreiheit, so bedarf es eines Null-Punktes, von welchem weg diese Beeinträchtigung gemessen wird. Schließlich ist auch beeinflusster Wille immer noch Wille. Diese Frage stellt sich bei externen normativen oder faktischen Freiheitsbeschränkungen nicht. Eine externe Einschränkung beschränkt immer auch die Freiheit. Beim Freiheitsentzug von innen ist dies nicht selbstverständlich: Manche Beeinflussung ist bedenklich, manche nicht.
Abzustellen ist darauf, ob verhaltensökonomische Steuerung die Autonomie des Individuums beeinträchtigt. Autonomie ist mehr als die Freiheit von äußeren Zwängen und umfasst in ihrem Kern die Unabhängigkeit der Entscheidung und Freiheit von manipulativer Beeinflussung. Folglich ist Autonomie nicht nur bei äußeren Beschränkungen gefährdet, sondern vor allem dann, wenn Wille oder Verhalten ohne bewusste Wahrnehmung manipuliert werden.
Beherrschbarkeit der Einflussnahme
Von einer grundrechtlich relevanten Beeinträchtigung der Autonomie kann nur gesprochen werden, wenn eine Form der Einflussnahme für ein Individuum nicht hinreichend beherrschbar ist. Kann ein Individuum sich der Beeinflussung entziehen, ist seine Autonomie nicht beeinträchtigt.
Nach Faber, der diese Überlegungen in Zusammenhang mit Suggestion entwickelt hat, besteht Beherrschbarkeit aus einer kognitiven und einer voluntativen Seite. Die kognitive Seite der Beherrschbarkeit meint die Möglichkeit, die Beeinflussung zu erkennen, die voluntative Seite die Möglichkeit, der von einer Maßnahme ausgehenden Lenkung bewusst widerstehen zu können. Einflussnahme ist aus grundrechtlicher Sicht dann nicht hinreichend beherrschbar, wenn sie bei „zumutbarer Aufmerksamkeitszuwendung und Gedächtnisanspannung“ nicht erkannt werden kann oder trotz „zumutbarer Willensanspannung“ nicht beherrscht werden kann.
Eine Form der Beeinflussung ist nicht nur bei Entzug der Willensfreiheit zum Eingriff geeignet, sondern auch dann, wenn das zur Beherrschbarkeit notwendige Maß an geistiger Anspannung selbst eine grundrechtlich relevante Beeinträchtigung darstellt. Was zumutbar ist, ist anhand des betroffenen Grundrechts zu ermitteln. Sensibel dürften vor allem Grundrechte sein, die einen Bereich innerer Freiheit, das forum internum, schützen. Dazu zu zählen sind vor allem der Schutz des Privat- und Familienlebens, die Religionsfreiheit, die Meinungsfreiheit und die Gedankenfreiheit.
Die Zerlegung in eine voluntative und eine kognitive Komponente wirkt erhellend für die Handhabe verhaltensökonomisch inspirierter Steuerung. Während der Lenkungseffekt mancher Steuerungsmittel nicht bewusst wahrgenommen wird, ist er in anderen Fällen hinreichend transparent, sodass ein Individuum zumindest die Möglichkeit hat, sich willentlich zu widersetzen.
Beeinträchtigung der Autonomie im engeren Sinn
Mangelnde Beherrschbarkeit ist ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Beeinträchtigung der Autonomie. Zum Beispiel mögen Warnmeldungen nicht beherrschbare Furcht vor den möglichen Konsequenzen einer Handlung auslösen. Die Autonomie wird aber nicht beeinträchtigt, wenn die möglichen Folgen der Handlung tatsächlich zum Fürchten sind.
Es lässt sich nicht auf einzelnes Kriterium herunterbrechen, wann eine nicht hinreichend beherrschbare Form der Steuerung auch die Autonomie des Individuums hinreichend beeinträchtigt, um einen Grundrechtseingriff zu verwirklichen. Ein Hort an Faktoren scheint zu berücksichtigen, welche man grob mit Richtigkeit, Sachlichkeit und Verhältnismäßigkeit zusammenfassen könnte.
Zu berücksichtigen scheint das Wesen der Sache, das verwendete Mittel, ob die Beeinflussung zumindest im Nachhinein nachvollziehbar ist, das Ziel der Maßnahme oder ob ausgelöster emotionaler Druck unverhältnismäßig ist. Die Autonomiefeindlichkeit von Handlungen hängt nach Hansen und Jespersen auch davon ab, ob das Ziel einer Maßnahme automatisiertes Handeln oder bewusste Entscheidungen sind. Entkommt man einer Form der Beeinflussung auch durch bewusstes Nachdenken nicht, scheint dies der Autonomie des Individuums besonders abträglich.
Selbst wenn eine einzelne Maßnahme die Autonomie des Individuums nicht derart beeinträchtigen sollte, dass damit ein Grundrechtseingriff verwirklicht wäre, können sich mehrere Maßnahmen aber verdichten und so kumulativ die Eingriffsschwelle überschreiten. Zurückkommend auf das eingangs genannte Beispiel einer individualisierten Medienkampagne: Eine einzelne staatliche Werbebotschaft mag die Autonomie des Individuums unangetastet lassen. Bei wiederholten und durch Individualisierung in ihrer Wirksamkeit gesteigerten, emotional aufgeladenen Nachrichten wird das vermutlich anders sein.
Die Sanftheit verhaltensökonomisch inspirierter Steuerung macht sie nicht unbedenklich. Im Gegenteil gibt gerade die geringe Spürbarkeit Anlass zu kritischer Auseinandersetzung. Ob im Einzelfall tatsächlich ein Grundrechtseingriff angenommen wird, hängt von Wertungsentscheidungen ab. Ein Vorschlag zur Einordnung wurde hier unternommen.
Zitiervorschlag: Ivankovics, Sanfte Steuerung oder manipulative Beeinflussung? Zur Möglichkeit von Grundrechtseingriffen durch Nudging, JuWissBlog Nr. 57/2018 v. 31.5.2018, https://www.juwiss.de/57-2018/
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