von JACOB ROGGON
Wehmütig mag sich manch einer zurücksehnen in Zeiten, als die Straße noch ganz allein dem Auto gehörte. Breite Überlandstraßen und mehrspurige Stadtringe versprachen uneingeschränkten Fahrspaß. Doch seit einiger Zeit beanspruchen mehr und mehr Radfahrer ihren Raum auf der Straße. Nicht nur manch ein Autofahrer sieht sich dadurch ausgebremst; auch in der Ministerialbürokratie im hohen Norden Deutschlands finden sie sich, die Verfechter der motorisierten Vorfahrt, und versuchen dem allzu tollen Treiben der Radfahrer auf Landes- und Bundesstraßen Einhalt zu gebieten.
Anlässlich der Europawahl plante der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) für den 4. Mai dieses Jahres eine Fahrradtour, die im schleswig-holsteinischen Auenland stattfinden sollte. Die Veranstalter rechneten mit 10 bis 60 Teilnehmern. Der Weg sollte auch über Landes- und Bundesstraßen führen, die nicht mit eigenen Radwegen ausgestattet sind. Die zuständige Straßenverkehrsbehörde äußerte, sie halte solche Veranstaltungen jedenfalls dann für erlaubnispflichtig, wenn der Streckenverlauf auch das Befahren von Landesstraßen vorsehe. Der ADFC sagte die Veranstaltung daraufhin ab. In der Antwort auf eine kleine Anfrage eines Abgeordneten machte sich das schleswig-holsteinische Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Technologie (MWAVT) die Ansicht der Behörde zu eigen und, mehr noch, bekräftigte, dass sie von einer Erlaubnispflicht nach § 29 Abs. 2 StVO für alle über Landes- und Bundesstraßen geführten Fahrradtouren ausgehe – unabhängig von der Teilnehmerzahl, zum Beispiel auch für Familienausflüge. Erhebliche Verkehrsbeeinträchtigungen könnten bei solchen Fahrradtouren nicht ausgeschlossen werden.
Spöttische Menschen würden sich fragen, wie von ein paar Fahrrädern in einem Land, das stellenweise so flach und leer ist, dass man morgens sieht, wer abends kommt, Verkehrsbeeinträchtigungen ausgehen sollen. Doch das Ministerium sieht eines richtig: Maßgeblich ist hier Bundesrecht, nämlich die Straßenverkehrsordnung, die keine Milde für einsame Landstriche und -straßen kennt. In einem anderen Punkt begeht der unterzeichnende Staatssekretär jedoch einen folgeschweren Denkfehler.
Die Spielregeln
Für die Straßenverkehrsordnung sind alle Verkehrsteilnehmer im Grundsatz gleichrangig –entgegen der womöglich gefühlten Hierarchie gilt auch auf Landes- und Bundesstraßen kein Vorrang für Kraftfahrzeuge. Lediglich bestimmte Straßenklassen – Autobahnen und Kraftfahrstraßen – sind dem motorisierten Verkehr vorbehalten.
Gem. § 29 Abs. 2 S. 1 StVO bedürfen der Erlaubnis „Veranstaltungen, für die Straßen mehr als verkehrsüblich in Anspruch genommen werden“. Das MWAVT geht nun davon aus, dass alle über Landes- und Bundesstraßen geführten Radtouren generell genehmigungspflichtig sind, weil sie die Grenze der Verkehrsüblichkeit überschreiten können. Gegenüber einer solchen Auslegung ist Skepsis angebracht.
Der Verordnungsgeber hat konkretisiert, was er unter “mehr als verkehrsüblich” versteht (§ 29 Abs. 2 S. 2 Hs. 1 StVO):
Das ist der Fall, wenn die Benutzung der Straße für den Verkehr wegen der Zahl oder des Verhaltens der Teilnehmenden oder der Fahrweise der beteiligten Fahrzeuge eingeschränkt wird …
Eines wird man mit Sicherheit sagen können: Wer allein fährt, bedarf auch auf Landes- und Bundesstraßen keiner Erlaubnis, alles andere würde sich mit dem Grundsatz, dass alle Verkehrsteilnehmer gleichrangig sind, nicht vertragen. Doch was, wenn sich ein Grüppchen bildet?
Kein Generalverdacht für kleine Gruppen
Das MWAVT geht offensichtlich davon aus, dass schon bei sehr kleinen Gruppen die Benutzung der Straße eingeschränkt sein kann. Wenn dies zuträfe, bedürfte die Benutzung der Straße der gebührenpflichtigen behördlichen Erlaubnis; im zu stellenden Antrag wäre die geplante Route anzugeben, von der später nicht ohne weiteres abweichen dürfte. Wer ohne Erlaubnis eine Gruppenausfahrt veranstaltete, würde ordnungswidrig handeln und eine Geldbuße riskieren. Und das alles für eine spontane Radtour mit 5 Freunden?
Mitnichten. Das MWAVT verkennt einen wesentlichen Umstand, nämlich dass auch die gemeinsame Ausfahrt mehrerer Radfahrer im Grundsatz ganz gewöhnliche Teilnahme am Verkehr ist, und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst ist der Zweck einer Fahrt vollständig irrelevant für die Frage, ob die Benutzung der Straße verkehrsüblich ist oder nicht: Die gemächliche Fahrradtour entlang des Nord-Ostsee-Kanals ist nicht nachrangig gegenüber in den Feierabend rauschenden Autofahrern.
Ferner ist der StVO kein Gebot zu entnehmen, dass nur die alleinige Fahrt üblicher Verkehr sei; im Gegenteil kommt öffentlichen Straßen und Wegen eine Forumsfunktion zu, nämlich miteinander im öffentlichen Raum zu interagieren.
Schließlich: Die Erlaubnispflicht ist eine Ausnahmevorschrift zum grundsätzlich erlaubnisfreien Gebrauch, sie ist daher eng auszulegen. Das MWAVT kann daher nicht alle, auch kleine, Gruppen allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Gruppe unter Verdacht stellen, sie würden die Straßen mehr als verkehrsüblich benutzen.
Damit ist – anders als das MWAVT behauptet – die gemeinsame Ausfahrt im Grundsatz ebenfalls verkehrsüblich und führt nicht zur Genehmigungspflicht nach § 29 StVO, sofern nicht weitere konkrete Anhaltspunkte hinzutreten, wie etwa bei Radrennen, deren auf Geschwindigkeit ausgerichtete Fahrt regelmäßig zur Leichtsinnigkeit verleitet. Jedenfalls kleine Radfahrgruppen sind damit in aller Regel auch auf Landes- und Bundesstraßen verkehrsüblich und damit erlaubnisfrei. Es drängt sich die Frage auf: Wie viele Teilnehmer braucht es, damit eine Gruppe nicht mehr klein ist?
Ausgangspunkt bleibt die Frage, wann die Grenze der Verkehrsüblichkeit, die § 29 Abs. 2 S. 1 StVO vorsieht, überschritten ist und so eine Erlaubnispflicht auslöst. Die StVO hüllt sich dazu ins Schweigen, und das MWAVT schlussfolgert: Man solle – gleichsam prophylaktisch – immer eine Erlaubnis bei der zuständigen Straßenverkehrsbehörde beantragen, die dann nach Prüfung des Einzelfalls unter Ausübung ihres Ermessen entscheide, ob eine Erlaubnis tatsächlich erforderlich sei und wenn ja, ob die erforderliche Erlaubnis erteilt werden könne.
Doch diese Schlussfolgerung ist vorschnell: In der Frage, ob überhaupt eine Erlaubnispflicht besteht, ist der Behörde kein Ermessen eingeräumt. Und tatsächlich lässt sich die Grenze der Verkehrsüblichkeit ein wenig konkretisieren, wenn man mit § 27 StVO eine ganz andere Norm in den Blick nimmt. Dort steht, dass es 15 Radfahrer braucht, um einen sogenannten Verband zu bilden.
Wenn sie sich einen Verband im Straßenverkehr vorstellen, denken die meisten Menschen vermutlich an lange Kolonnen von Fahrzeugen der Bundeswehr oder des THW, alle mit Fähnchen gekennzeichnet. Wenige wissen: Auch Radfahrer dürfen einen Verband bilden, wenn sie mehr als 15 an der Zahl sind (sie müssen es aber nicht, dazu unten mehr). Das hat mehrere Vorteile: Sie dürfen unter anderem zu zweit nebeneinander fahren und auch dann die Fahrbahn benutzen, wenn es einen Radweg gibt.
Nun liegt es auf der Hand anzunehmen, dass von einem solchen Verband aus Fahrrädern eine deutlich höhere Beeinträchtigung für den Verkehr einhergeht als von weniger Rädern, zumal wenn er einen ganzen Fahrstreifen einnimmt statt lediglich 50 cm am rechten Fahrbahnrand. So bestimmt § 29 Abs. 2 S. 2 Hs. 2 StVO tatsächlich auch, dass Verbände die Straße stets mehr als verkehrsüblich in Anspruch nehmen – allerdings lediglich solche aus Kraftfahrzeugen. Ein einfacher Umkehrschluss fördert die Erkenntnis zutage, dass dies für Fahrradverbände nicht automatisch gilt.
Das bedeutet im Einzelnen:
Allein aus dem Umstand, dass mehr als 15 Fahrradfahrer in einem Verband fahren, kann eine Erlaubnispflicht nicht gefolgert werden; weitere konkrete Anhaltspunkte müssen hinzutreten.
Und wie schon angedeutet: Gruppen mit mehr als 15 Radfahrern “dürfen” einen Verband bilden, sie müssen es nicht.
Wenn sie es aber nicht tun, dann geht von ihnen auch eine geringere Einschränkung für die Benutzung der Straße aus. Hier dürfte die Erlaubnispflicht also noch später einsetzen als bei Radfahrern, die einen Verband bilden.
Konkretere Grenzen wird man der StVO nicht entnehmen können. Die – nicht bindenden – Verwaltungsvorschriften zur StVO sehen eine Erlaubnispflicht für Radtouren mit mehr als 100 Personen vor sowie bei “erheblichen Verkehrsbeeinträchtigungen (i.d.R. erst ab Landesstraßen)”. Das scheint als Orientierung durchaus plausibel. Wenn Gruppen mit mehr als 15 Radfahrern also Rechtssicherheit wünschen, ist ihnen derzeit dazu zu raten, die zuständige Straßenverkehrsbehörde zu kontaktieren. Das MWAVT wäre nicht schlecht beraten, in einem Erlass die Straßenverkehrsbehörden anzuleiten, wann sie von Erheblichkeit ausgehen können, um so allen Beteiligten bessere Orientierung zu verschaffen. Das Merkmal der Gruppe allein taugt dafür jedenfalls nichts – und stünde einem Land, das radfahrende Touristen ansprechen möchte, auch schlecht zu Gesicht.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Interessanter Beitrag!
Ein zusätzlicher Punkt wird hier in Hamburg gerade diskutiert: Nördlich der Elbe gibt es schon länger Fahrradtouren (Critical Mass) mit bis zu 5000 TeilnehmerInnen. Die Polizei hat dies bislang eher unproblematisch begleitet und die Strecke abgesichert. Dies scheint ohne Erlaubnis nach § 27 StvO abgelaufen zu sein, vgl. http://criticalmass-hh.de/faq/#1 (?). In Harburg gab es nun aber Ermittlungen gegen den dortigen Veranstalter (bzw. den Betreiber der Homepage), da dieser zu einer Versammlung aufgerufen und teilgenommen haben soll, die nicht angemeldet wurde (Straftat, § 26 VersG).
Bei größeren Fahrradtouren gibt es also aus der versammlungsrechtlichen Richtung schnell Gegenwind, womit man ganz schnell bei der verfassungsrechtlichen Frage ist, was eine Versammlung ist.
Das ist richtig, der versammlungsrechtliche Kontext ist hier ausgeklammert, es geht nur um Freizeitausfahrten. Für die Critical Mass stellen sich spannende Fragen, zum Beispiel die, ob eine Gruppe von Menschen auf den Schutz des Versammlungsgrundrechts verzichten kann, wie es die Selbstbeschreibung der CM (jedenfalls auf der verlinkten Homepage) nahelegt. Ist § 26 VersG dann überhaupt anwendbar, oder wären Sanktionen ausschließlich auf dem Boden von StVG und StVO zu verhängen? Es hätte den Rahmen gesprengt, diesen Fragen hier nachzugehen — aber vielleicht gibt es ja einen Fortsetzungsbeitrag.