Im Vorlauf der ATÖR 2019 haben wir mit Kathrin Strauß, Referentin im Panel „VerfassungsBeziehungen“ über ihren Vortrag zum Thema „Verfassungswerdung – Eine sozialontologische und sprechakttheoretische Analyse der Entstehung einer Verfassung und ihrer Akteure“ gesprochen.
JuWiss: Was genau verstehst du unter dem Begriff Verfassungswerdung, in Abgrenzung zur Verfassungsgebung?
Strauß: Der Begriff der Verfassungsgebung vermittelt den Eindruck, dass in einem historischen Moment ein Verfassungsgeber plötzlich auftaucht und quasi aus dem Nichts eine Verfassung herzaubert. Dadurch wird dann alles in einen prä- und einen postkonstitutionellen Zustand geteilt und der Rechtswissenschaftler freut sich, weil er nun einen Forschungsgegenstand hat und klar eingrenzen kann. Stattdessen, so habe ich es versucht im Vortrag darzulegen, entsteht eine Verfassung in einem Prozess, der mit der Entäußerung der Verfassungsvereinbarung häufig erst beginnt und seinen Abschluss dann zeitlich nachgelagert findet. Zu sagen, dass in dem Moment der Entäußerung der Verfassungsvereinbarung eine Verfassungsgebung stattfand, trifft es dann einfach nicht. Das habe ich am Beispiel des Norddeutschen Bundes dargelegt, bei dem es in den Jahren nach der Gründung ungewiss war, ob die selbstproklamierte Verfassung tatsächlich eine Verfassung oder ein völkerrechtlicher Vertrag war. Erst im Laufe der Zeit wurde anerkannt, dass es tatsächlich eine Verfassung war. Kann man jetzt sagen, dass es immer eine Verfassung war und es die Zeitgenossen nur noch nicht verstanden hatten? – ich denke, nein. Tatsächlich hing die Entstehung der Verfassung gerade davon ab, wie die Zeitgenossen auf sie blickten. Diesen Prozess, der letztendlich hier in der Entstehung der Verfassung endete, verstehe ich unter dem Begriff der Verfassungswerdung.
JuWiss: Welche Methode hast du gewählt, um den Akt des Entstehens einer Verfassung zu analysieren?
Strauß: Das Problem für die Rechtswissenschaft bei der Frage nach dem Ursprung der Verfassung ist, dass grundsätzlich die Verfassung und die von ihr erschaffene Rechtsordnung der Forschungsgegenstand sind. Was davor war kann daher aus dieser Perspektive nicht gesehen werden. Deswegen habe ich auf Methoden zurückgegriffen, für die die Entstehung von Recht nur ein Anwendungsfall ist und dem folglich nicht dieselbe Bedeutung zukommt wie in der Rechtswissenschaft. Einerseits sind das Erkenntnisse der Sprechakttheorie mit der man, wie ich im Vortrag versucht habe aufzuzeigen, auch die Entstehung von Normen innerhalb der Rechtsordnung beschreiben kann. Gerade diese Erkenntnis halte ich für interessant: Es ist kein grundlegend anderer Prozess, eine Norm innerhalb der Rechtsordnung zu erzeugen, wie etwa einen Verwaltungsakt im Vergleich zur Erzeugung einer Verfassung. Verbunden mit der Sprechakttheorie greife ich andererseits auf Erkenntnisse der Sozialontologie zurück, die als philosophische Teildisziplin sich damit befasst, wie soziale Tatsachen – etwa das Recht – entstehen.
JuWiss: Du nutzt einen interdisziplinären Ansatz – welche Erkenntnisse, erwachsen für die Rechtswissenschaft daraus?
Strauß: In der Rechtswissenschaft gibt es durchaus ein Bedürfnis danach, den Ursprung des Rechts zu beschreiben. Wir kennen die Versuche unter Schlagwörtern wie dem pouvoir constituantoder der hypothetischen Grundnorm. Das Grundgesetz selber führt sich auf die verfassungsgebende Gewalt des Volkeszurück. An der Stelle kann mein Ansatz eine Erklärung bieten, die die tatsächliche Entstehung treffender abbildet. Er dient also letztlich auch der Selbstvergewisserung. Außerdem sehen wir heutzutage noch Prozesse, bei denen wir uns unsicher sind, ob eine neue Verfassung entstanden ist oder nicht. Separatistische Bestrebungen wäre ein Beispiel mit dem sich die Völkerrechtswissenschaft beschäftigt.
Interview von Matthias K. Klatt für die JuWiss-Redaktion.
Zitiervorschlag: Interview mit Kathrin Strauß im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 21/2019 v. 20.2.2019, https://www.juwiss.de/21-2019/
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