Interview im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht in Frankfurt a.M.
von JUWISS-REDAKTION
„Verfassungen – ihre Rolle im Wandel der Zeit“ – mit diesem Thema beschäftigt sich die diesjährige Assistententagung Öffentliches Recht in Frankfurt am Main. Die Festrede am heutigen Eröffnungsabend hielt Prof. Dr. Dr. h.c. Angelika Nußberger, seit Juni 2010 Richterin am EGMR und seit Februar 2017 Vizepräsidentin des Gerichts. Freundlicherweise stand sie dem JuWissBlog darüber hinaus für ein Interview bereit.
JuWiss: Die 59. Assistententagung beschäftigt sich mit Verfassungen und ihrer Rolle im Wandel der Zeit. Wann sind die Themen Verfassungswandel und Wandel durch Verfassung das erste Mal für Sie relevant geworden? Welche Bedeutung messen Sie ihnen heute persönlich und für ihre tägliche Arbeit am EGMR bei?
Nußberger: Sobald man beginnt, sich mit Verfassungen zu beschäftigen, wird man auch danach fragen, inwieweit die in ihnen enthaltenen Regelungen dem Wandel unterworfen oder für alle Zeiten festgelegt sind. Ich würde daher sagen, diese Frage begleitet mich seit meiner ersten Vorlesung zum öffentlichen Recht. Das Wirken des Rechts in der Zeit und damit die mögliche Relativierung auch dessen, was man für grundlegend hält, ist eine der dem Verfassungsrecht inhärenten Spannungen.
Die EMRK wird explizit als „living instrument“ bezeichnet. Daher sind wir am Gericht jeden Tag, besonders aber bei den vor der Großen Kammer verhandelten Fällen, mit der Frage konfrontiert, ob frühere Judikate noch uneingeschränkt gelten oder ob man nochmals ganz neu nachdenken muss.
JuWiss: In den letzten Jahren rückte das Schlagwort des Verfassungswandels ins Zentrum juristischer Diskussionen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen durch Entwicklungen wie Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Biotechnologie und daraus erwachsende ethische Fragen sowie der Anerkennung von Rechten insb. sexueller Minderheiten, scheint sich das Wertegerüst westlicher Gesellschaften zu öffnen. Gleichzeitig erleben wir zunehmend nationale Tendenzen von Ländern, die sich durch wirtschaftlichen Protektionismus, der Absage an völkerrechtliche Prinzipien und Kündigung völkerrechtlicher Verträge bis hin zum Mauerbau abschotten. Zudem gibt es auch in Europa Bestrebungen, Demokratien autoritär und illiberal umzugestalten. In welche Richtung werden sich Ihrer Meinung nach die europäischen Gesellschaften entwickeln? Welche Folgen ergeben sich daraus für die europäischen Verfassungen und ihre Interpretation?
Nußberger: Das Wort „Richtung“ kann man in diesem Zusammenhang, wie mir scheint, nicht im Singular verwenden. Es gibt viele verschiedene Richtungen, in die sich die europäischen Gesellschaften entwickeln. Als allgemeines Muster zeigt sich eine immer größere Polarisierung, sowohl innerhalb der jeweiligen Gesellschaften – man denke etwa an Frankreich – als auch mit Blick auf den Weg, den die europäischen Gesellschaften einschlagen. In einer derartigen Situation kommt der gerichtlichen Absicherung der Grundrechte und -freiheiten – sei es auf nationaler, sei es auf europäischer Ebene – eine besondere Bedeutung zu. Grenzziehungen werden allerdings zunehmend schwieriger, etwa zwischen noch erlaubter „schockierender Rede“ und nicht mehr erlaubter „Hassrede“. Das Modell des Verfassungsstaats steht in Europa vor einer Bewährungsprobe.
JuWiss: In Ihrer Festrede haben Sie sich mit dem Thema einer Verfassung für Europa beschäftigt. Nur ging es diesmal nicht um einen Verfassungsvertrag, sondern um die EMRK. Jedoch stößt die Feinjustierung und dynamische Weiterentwicklung einer europäischen Grundrechteverfassung durch den EGMR zunehmend auf nationale Widerstände, wie sie z.B. im Urteil des Russischen Verfassungsgerichtshofs vom 14. Juli 2014 oder durch die – allerdings erfolglose – Schweizer Selbstbestimmungsinitiative vom November vergangenen Jahres zum Ausdruck kamen. Wie geht der EGMR auf diese Bewegungen ein und wie bewerten Sie dieses Vorgehen? Welche Alternativen könnten Sie sich vorstellen?
Nußberger: Es ist nicht mit der EMRK vereinbar, Urteile mit dem Argument, die nationale Verfassung habe Vorrang, nicht umzusetzen. Mit gutem Willen lassen sich in der Regel Kompromisse finden – zuletzt sogar im lange strittigen Fall des Wahlrechts für Strafgefangene im Vereinigten Königreich. Wenn der gute Wille und die Kompromissbereitschaft fehlen, geht es im Grunde nicht mehr um eine rechtliche, sondern um eine politische Frage. Es ist möglich, die EMRK zu kündigen, aber mit Ausnahme von Griechenland während des Putsches der Obristen hat dies noch kein Mitgliedsstaat getan. Auch das Ministerkomitee des Europarats kann ein Ausschlussverfahren einleiten. Das Gericht bezieht zu diesen Fragen nicht Stellung. Es kann lediglich in dem Verfahren nach Art. 46 Abs. 4 EMRK angerufen werden, über die Nicht-Umsetzung eines Urteils zu entscheiden. Aber auch bei diesem Verfahren ist das Ministerkomitee die Instanz, die für die Konsequenzen verantwortlich ist und, wie es in Art. 46 Abs. 5 EMRK heißt, Maßnahmen zu treffen hat. Ich halte diese klare Trennung der Rollen zwischen dem Gerichtshof als Rechtsprechungsinstanz einerseits und dem Ministerkomitee als politischem Akteur andererseits für sehr hilfreich.
JuWiss: Parallel zu den bereits angesprochenen Tendenzen können international und auch in vielen europäischen Ländern links- und rechtspopulistische Parteien in den letzten Jahren erheblichen Zuspruch verbuchen und übernehmen teilweise Regierungsverantwortung. Eine Gemeinsamkeit vieler dieser Bewegungen ist die Berufung auf und Ausrichtung der Politik an einem vermeintlich mehrheitlichen aber vernachlässigten „Volkswillen“. Wie verhält sich eine solche – vorgeblich majoristische – Auffassung gegenüber dem Ziel des Grundrechts- und damit des Minderheitenschutzes, dem der EGMR verpflichtet ist? Zeigt sich hier nur die altbekannte „counter-majoritarian difficulty“ oder kommt dieser Rhetorik eine neue Qualität zu? Muss – und ggf. wie sollte – der EGMR auf solche Tendenzen reagieren?
Nußberger: Ja, es geht hier um die „counter-majoritarian difficulty“, insbesondere wenn man an den Schutz von in der Mehrheitsdemokratie strukturell oft vernachlässigten Gruppen denkt; ein klassisches Beispiel ist der Schutz von Strafgefangenen. Es kommt aber noch ein anderes Element dazu, und dies hat mit dem von Ihnen für die Tagung gewählten Thema des Verfassungswandels zu tun. Das Verständnis der EMRK als „living instrument“ führt dazu, dass der EGMR Standards fortlaufend neu bestimmen kann und in manchen Bereichen Impulsgeber für gesellschaftlichen Wandel ist. Bei bestimmten sensiblen Themen haben die politischen Parteien den Eindruck, dass ihnen das Heft aus der Hand genommen wird. Daher leisten sie Widerstand, zum Teil gegen die Weiterentwicklung der Standards, zum Teil gegen das europäische Menschenrechtsschutzsystem an sich.
JuWiss: Wie jedes (Verfassungs-)Gericht ist der EGMR davon abhängig, dass seine Urteile von der Politik anerkannt und umgesetzt werden. Als ein Grund für die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Autorität wird in der Politikwissenschaft die „insurance theory“ genannt. Dahinter steht der Gedanke, dass politische Akteure Verfassungsgerichte nicht nur als eine Beschneidung ihrer eigenen Machtbefugnisse, sondern zugleich auch als Absicherung für den Fall eines Machtverlusts, etwa im Zuge von Wahlen, wahrnehmen. Anders als viele nationale Verfassungsgerichte und auch der EuGH, der von Organen der EU und ihren Mitgliedstaaten angerufen werden kann, um ihre Rechte geltend zu machen, entscheidet der EGMR so gut wie ausschließlich über Individualbeschwerden. Haben Sie jemals – und in welchen Fällen – die Erfahrung gemacht, dass der EGMR als reines Grundrechtegericht von der Politik nicht vollständig akzeptiert wurde?
Nußberger: In gewisser Weise funktioniert die „insurance theory“ auch beim EGMR. Gibt es einen Machtwechsel und damit einen Rollentausch, mögen diejenigen das Instrument der EMRK für ihren eigenen Schutz benutzen, die gerade noch über die Umsetzung der ihre politischen Gegner betreffenden Urteile des EGMR zu entscheiden hatten.
Dass der EGMR als reines Grundrechtegericht von der Politik nicht vollständig akzeptiert wird, zeigt sich bei Interstaatenbeschwerden, in denen die Antworten auf Grundrechtsfragen implizit auch Antworten auf Fragen des allgemeinen Völkerrechts geben. Hier wurde in der Vergangenheit deutlich, dass Staaten nicht bereit waren, bindende Urteile des Gerichts umzusetzen. Dies gilt etwa für das Urteil des Gerichtshofs im Fall Zypern gegen die Türkei zu dem von der Türkei zu zahlenden Schadensersatz. Das Urteil wurde im Jahr 2014 gefällt. Bisher ist nicht zu erkennen, dass die Türkei zur Umsetzung bereit wäre.
JuWiss: Noch eine Frage zum Wandel: Sie haben sich viel mit Recht und Rechtsdenken in den ehemaligen Sowjetrepubliken auseinandergesetzt. Die Menschen dort haben in wenigen Jahren weitreichende gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Veränderungen erlebt. Können Sie die Auswirkungen solch tiefgreifender Veränderungen und ihre Bedeutung für das Rechtsdenken und -empfinden beschreiben? Welche Schritte sind notwendig, um die hinter den normativen Texten liegende Rechtskultur nachhaltig und dauerhaft zu ändern?
Nußberger: Hier scheint mir der in einer früheren Assistententagung thematisierte Begriff der „Pfadabhängigkeit“ die grundsätzlichen Probleme aufzuzeigen. Rechtsdenken und Rechtsempfinden, die Rechtskultur insgesamt, lassen sich nicht mit einem Strich und einer neuen Verfassung ändern, sondern dauern fort. So ist beispielsweise das, was man bereits im russischen Zarenreich „Rechtsnihilismus“ genannt hat, nach wie vor zu beobachten. Auch das grundsätzliche Misstrauen gegenüber der Justiz hat sich wohl nicht geändert.
Für Änderungen braucht es Institutionen, die ganz konkret zeigen, dass es „anders geht“ und dass dies für alle Vorteile zu bringen vermag. In diesem Sinn war etwa das „Lüth-Urteil“ ein Glücksfall für eine positive Änderung der Rechtskultur in Deutschland nach 1949. Ich würde den Staaten im Osten Europas, die sich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre zu einem Systemwechsel entschlossen haben, eine Serie von „Lüth-Urteilen“ wünschen.
JuWiss: Zum Schluss: Was möchten Sie der jungen Wissenschaft im Öffentlichen Recht in der heutigen Zeit mit auf den Weg geben?
Nußberger: Dass es wieder wichtig ist, sich über grundlegende Fragen Gedanken zu machen – es gibt keinen „Acquis“, der gesichert wäre.
Die Fragen stellten Judith Sikora und Nico Schröter.
Zitiervorschlag: Interview mit Angelika Nußberger im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 20/2019 v. 19.2.2019, https://www.juwiss.de/20-2019/
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