Auf der diesjährigen Assistententagung sprach Eva Ricarda Lautsch im Panel „VerfassungsBeziehungen“ zum Thema „Die offene Gesellschaft der Verfassungspatrioten? – Wie das Grundgesetz als patriotische Folie den politischen Diskurs verdrängt“. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Wirtschaftsrecht und Steuerrecht (Prof. Dr. Sebastian Unger) an der Ruhr-Universität Bochum. Im Anschluss an die Tagung konnten wir uns über ihr Vortragsthema unterhalten.

JuWiss: Was meint „Verfassungspatriotismus“ und welche Erwartungen sind mit dem Konzept verbunden?

Lautsch: „Verfassungspatriotismus“ beschreibt zunächst einmal einen Stolz auf die Verfassung, verbunden mit der Zugehörigkeit zu dem Gemeinwesen, dessen Beziehungen die Verfassung regelt. Er ist der Versuch, in der Bundesrepublik eine Grundlage gesellschaftlicher Integration ausfindig zu machen, die eine positiv besetzte kollektive Identifikation ermöglicht.

Inhaltlich ist der „Verfassungspatriotismus“ eng mit dem Begriff der „Wertordnung“ verbunden, den das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die Grundrechte in seiner Lüth-Entscheidung geprägt hat. Der Wertbegriff wurde aufgrund seines emblematischen Charakters bewusst gewählt und gewollt; seine moralischen und insoweit naturrechtlichen Anklänge sollen den Grundrechten eine besondere Unverbrüchlichkeit verleihen.

Der „Verfassungspatriotismus“ erhebt diese Idee nun zur politischen Ordnungsvorstellung. Dies hängt eng mit den Besonderheiten von politischer Kultur und Zeitgeist zusammen. Der Begriff wurde von Dolf Sternberger bereits Ende der siebziger Jahre geprägt. Nun war das staatliche Gemeinwesen der Bonner Republik historisch bedingt ein eher nüchternes. Die Nation als Idee war mit dem Makel des Nationalsozialismus behaftet. Eine mit einem westlich-liberalen Wertbegriff aufgeladene, parareligiös zur „Wertordnung“ stilisierte Verfassung als Anknüpfungspunkt staatsbürgerlicher Identifikation wirkte demgegenüber umso attraktiver.

Diese Vorstellung hat bis heute eine große Anziehungskraft. Sie ist der Anknüpfungspunkt für die neuerliche Renaissance des Begriffs „Verfassungspatriotismus“. In einer fragmentierten Gesellschaft, in der der Rechtspopulismus Eingang in den politischen Alltag gefunden hat und die Demokratie nicht mehr selbstverständlich erscheint, erhofft man sich von einer mit moralphilosophischen Wertvorstellungen aufgeladenen Verfassung Orientierung und Zusammenhalt.

JuWiss: In deinem Vortrag hast du Skepsis an dem Konzept geäußert. Zum einen suggeriere die Idee einer Verfassung als wertmäßiger Bezugspunkt eine mit der gesellschaftlichen Realität unvereinbare Statik dieser Werteordnung. Zum anderen werde durch die Bezugnahme auf diese Werteordnung der demokratische Diskurs zu sehr überlagert, der gerade nicht in den Grenzen der Verfassung, sondern in Auseinandersetzung mit ihr stattfinden müsse. Gilt diese Kritik nur in Bezug auf das Grundgesetz oder sind (theoretisch) Verfassungsgestaltungen denkbar, in denen diesen Aspekten Rechnung getragen wird und die demnach tatsächlich als Objekt eines Verfassungspatriotismus dienen können?

Lautsch: Die politische Kultur in der Bundesrepublik ist in besonderer Weise durch das Bundesverfassungsgericht und seine Rechtsprechung geprägt. Dabei gerät der parlamentarische Prozess nicht selten in den Hintergrund. Im Kern politische Fragen werden zu rechtlichen gemacht, indem vor allem über ihre verfassungsrechtliche Bewertung gestritten wird. Gerade kann man dies am Beispiel der Diskussion über das Brandenburgische Paritätsgesetz beobachten: Es geht hier beinahe ausschließlich um die Bewertung der Verfassungsmäßigkeit des Vorhabens und es wird kaum darüber gesprochen, ob man dieses Gesetz für politisch opportun hält. Die politische Frage, ob unsere Parlamente zeitgenössischen Repräsentationserwartungen gerecht werden, kann aber durch die Behauptung der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes weder abgebildet noch beantwortet werden.

Die Gefahr einer derartigen Überlagerung des politischen Diskurses besteht mit Blick auf die Unterschiedlichkeit politischer Kulturen sicher nicht für alle Verfassungen in gleicher Weise. Dennoch: Eine Verfassung ist eben nicht Wertordnung, sondern Rechtsordnung. Als patriotisches Symbol wird sie aber zwangsläufig mit Vorstellungen aufgeladen, die mit ihrer eigentlichen Aufgabe, der Operationalisierung politischer Grundentscheidungen, nichts zu tun haben.

JuWiss: Nehmen wir an, dass das Konzept des Verfassungspatriotismus die integrative Funktion, die ihm zugeschrieben wird, nicht erfüllen kann. Kann der Begriff „Verfassungspatriotismus“ dann eine andere Funktion übernehmen, etwa als Schlagwort im stetigen Diskurs um die Verfassung? Oder ist der Begriff mittlerweile zu sehr aufgeladen, um im politischen Diskurs eine sinnvolle Rolle zu spielen?

Lautsch: Ich glaube, die Frage ist weniger, ob ein „Verfassungspatriotismus“ eine integrative Funktion hat oder nicht, sondern ob sich die Verfassung mit Blick auf Demokratie, Parlamentarismus und die Öffnung in europäische und internationale Gefüge hinein als patriotische Folie eignet. Meine Antwort ist: Nein. Der Stolz auf die Verfassung erwächst nicht aus einem bestimmten Verhältnis zur Patria, sondern aus der Überzeugung, Recht zu behalten. Man nimmt die Autorität des Rechts zur Untermauerung der eigenen Überzeugungen in Anspruch. Einer lebendigen demokratischen Streitkultur steht dies im Wege.

Auch im verfassungsrechtlichen Diskurs erscheint mir der Begriff nicht hilfreich. Hier stellen sich andere Fragen, die darauf bezogen sind (oder sein sollten), ob die Verfassung eine gute Rechtsordnung formuliert, d.h. etwa in der Lage ist, politische Grundentscheidungen zu operationalisieren und dabei – aus rechtlicher Sicht – den an sie gestellten Stabilitätsanforderungen gerecht zu werden.

Interview von Nico Schröter für die JuWiss-Redaktion.

Zitiervorschlag: Interview mit Eva Ricarda Lautsch im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 39/2019 v. 7.3.2019, https://www.juwiss.de/39-2019/

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