Im Vorlauf zur ATÖR 2019 haben wir mit Isabel Lischewski, Referentin im Panel „VerfassungsSubjekte“ über ihren Vortrag zum Thema „Verfassungssubjekte im Wandel – Kinderrechte ins Grundgesetz?“ gesprochen. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie empirische Rechtsforschung an der Universität Münster.
JuWiss: Inwiefern sind Kinder „besondere“ Verfassungssubjekte und wie geht die Rechtsprechung damit bisher um?
Lischewski: Wenn man sich nur das anschaut, was im Grundgesetz steht, sind dort erstmal keine nennenswerten Unterschiede zwischen voll- und minderjährigen Menschen angelegt. Das Bundesverfassungsgericht hat auch bestätigt, dass Kinder genauso wie Erwachsene Träger*innen von Grundrechten sind. Der erste Knackpunkt liegt in Art. 6 II 1 GG bzw. seiner Handhabung in der Rechtsprechung. Denn häufig kommen Probleme, die Kinder betreffen, über eine Beschwerde der Eltern aus ihrem abwehrrechtlich ausgestalteten Elternrecht zum Verfassungsgericht. Dieses zieht dann – über das staatliche Wächteramt aus Art. 6 II 2 GG – Überlegungen zum familienrechtlich geprägten Kindeswohl heran, um Konflikte zwischen Eltern- und Kinderinteressen zu lösen. Das Kindeswohl ist aber nicht nur ein sehr unbestimmter Begriff. Es verlangt auch eben nicht, dass sich ausdrücklich mit betroffenen Grundrechten des Kindes auseinandergesetzt wird. Demgegenüber ist es für Kinder schon aus praktischen Gründen ungleich schwieriger, ihre eigenen Rechte verfassungsgerichtlich geltend zu machen. In der Regel hängen sie hierbei von der Unterstützung ihrer – nach § 1629 BGB vertretungsberechtigten – Erziehungsberechtigten ab. Das gilt aktuell selbst dann, wenn sie für das jeweilige Grundrecht „grundrechtsmündig“ sind.
JuWiss: Wie ist die bisherige Praxis zu bewerten?
Lischewski: Diese Praxis ist aus meiner Sicht der Grund, warum eine unreflektierte Annahme, dass Kinder „eh Grundrechtsträger sind“, so eine Problematik in sich trägt. Denn niemandem nützen Rechte etwas, wenn er*sie diese nicht geltend machen kann. Man stelle sich nur den Fall vor, in dem die Eltern sich weigern, eine Verfassungsbeschwerde für das Kind zu erheben, weil dieses beispielsweise ein anderes Bekenntnis annehmen möchte. Hier muss es dem Kind dann gelingen, aus eigener Kraft die Bestellung etwa einer Ergänzungspflegschaft einzuleiten.Doch selbst in den Fällen, in denen die Eltern die Verfassungsbeschwerde für das Kind betreiben, besteht die Gefahr einer Interessenverquickung. Zwar steht den Eltern aus ihrem Erziehungsrecht zu, das Wohl des Kindes im Grundsatz zu definieren. Jedenfalls wenn das Kind in Bezug auf ein konkretes Grundrecht „mündig“ ist, kann eine solche Deutungshoheit aber nicht mehr gerechtfertigt sein. Und die Auslegung des Kindeswohls durch die Gerichte im Rahmen von Art. 6 II 2 GG ist spätestens ab diesem Punkt kein Ersatz mehr für eine ausdrückliche und differenzierte Prüfung des Grundrechts. Es ist schwer vorstellbar, dass wir ein solches Auseinanderfallen eines Rechts und der Möglichkeit seiner Geltendmachung in einem anderen Kontext so fraglos akzeptieren würden. Im Extremfall macht dies die Rechtsposition wertlos und stellt damit jegliches Verständnis vom Subjektstatus des Individuums in Frage.
JuWiss: Besteht daher ein Bedarf, Kinderrechte explizit in das Grundgesetz aufzunehmen, oder gibt es andere und bessere Lösungswege?
Lischewski: Nach alldem stellen explizite Kindergrundrechte keine wesentliche Verbesserung dar, wenn sie nicht von neuem Nachdenken über prozessuale Möglichkeiten begleitet werden. Neben sogenannten „familienrechtlichen“ Lösungsansätzen, die in Konfliktfällen in einem familiengerichtlichen Vorverfahren die Vertretungsfrage klären wollen, halte ich einen Weg für vorzugswürdig, bei dem beispielsweise Kinderombudsstellen, wie es sie in anderen europäischen Ländern schon gibt, die Führung jedenfalls von Verfassungsbeschwerden grundrechtsmündiger Kinder ohne rechtliche Unterstützung der Eltern ermöglichen. So kann einerseits eine Entflechtung des Verfassungsrechts vom familienrechtlichen Kindeswohlbegriff vorangetrieben und zugleich die intime Eltern-Kind-Beziehung vor einer weiteren Durchverrechtlichung geschützt werden. Vor allem aber muss es darum gehen, Kindern als Verfassungssubjekten weitgehend gleichberechtigte Chancen auf Geltendmachung der ihnen zustehenden Rechte zu geben.
Interview von Matthias K. Klatt für die JuWiss-Redaktion.
Zitiervorschlag: Interview mit Isabel Lischewski im Rahmen der 59. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 23/2019 v. 21.2.2019, https://www.juwiss.de/23-2019/
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