Tarifeinheitsgesetz zu Unrecht für verfassungsmäßig befunden

von ALEXANDER STÖHR

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In seinem Urteil vom 11. Juli 2017 – 1 BvR 1571/15 hat sich das BVerfG mit der Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes befasst. Dieses Gesetz führt den alten Grundsatz der Tarifeinheit wieder ein, wonach in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten kann. Da es neben den traditionellen Industriegewerkschaften wie ver.di oder die IG Metall, die nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind (der Koch von Opel ist z.B. in der IG Metall, nicht in der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten) auch Berufsgewerkschaften gibt, die nur für bestimmte Berufsgruppen zuständig sind (z.B. GDL, Vereinigung Cockpit oder Marburger Bund), sind für einige Betriebe wie Krankenhäuser oder die Bahn verschiedene Gewerkschaften zuständig. Diese wollen natürlich ihre eigenen Tarifverträge abschließen, um für ihre Mitglieder zu kämpfen und neue Mitglieder zu gewinnen. Die Geltung verschiedener Tarifverträge in einem Betrieb (sog. Tarifpluralität) ist jedoch problematisch.

Dogmengeschichte

Die Idee der Tarifeinheit hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Früher hat das BAG als ungeschriebenes Prinzip angenommen, dass in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten kann und sich der jeweils sachnähere Tarifvertrag gegenüber anderen durchsetzt (https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Fzeits%2Fnza%2F1991%2Fcont%2Fnza.1991.736.1.htm). Unter der Kritik zahlreicher Literaturstimmen kam das BAG jedoch zu der Einsicht, dass die richterliche Entwicklung eines solchen Grundsatzes mangels planwidriger Regelungslücke unzulässig war (https://beck-online.beck.de/Dokument?vpath=bibdata%2Fzeits%2Fnza%2F2010%2Fcont%2Fnza.2010.1068.1.htm). Fortan war somit Tarifpluralität möglich. Dies stärkte die Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften erheblich, da sie neben den Industriegewerkschaften eigene Tarifverträge etablieren konnten. Nach § 4a II 2 TVG, der im Juli 2015 im Zuge des Tarifeinheitsgesetzes eingefügt wurde, ist der Grundsatz der Tarifeinheit nunmehr aber gesetzlich normiert. Danach ist nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die in dem betroffenen Betrieb die meisten Mitarbeiter hat. Bei der Bahn ist dies z.B. regelmäßig die zahlenmäßig deutliche größere EVG. Schon frühzeitig wurde die Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes bestritten. Das BVerfG hat nun entschieden, dass das Tarifeinheitsgesetz weitgehend verfassungskonform ist, wobei zwei dissentierende Richter die gegenteilige Ansicht vertreten.

Grundrechtlicher Schutz der Koalitionsfreiheit

Die Koalitionsfreiheit ist in Art. 9 III GG geschützt. Ihr Schutzbereich ist ein doppelter: Als Individualgrundrecht gewährleistet die Koalitionsfreiheit für jedermann das Recht, Koalitionen zu bilden und sich am Koalitionsleben zu beteiligen (positive Koalitionsfreiheit) oder ihnen fernzubleiben (negative Koalitionsfreiheit). Als Kollektivgrundrecht schützt sie den Bestand der Koalitionen als solche und deren spezifisch koalitionsmäßige Betätigung. Die positive Koalitionsfreiheit schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind, also auch Arbeitskampfmaßnahmen.

Grundrechtseingriff durch das Tarifeinheitsgesetz

In dieses Grundrecht greift § 4a II 2 TVG ein, da der Tarifvertrag einer Minderheitsgewerkschaft verdrängt wird und die betroffene Gewerkschaft zudem in ihrer Mitgliederwerbung und der Mobilisierung ihrer Mitglieder für Arbeitskampfmaßnahmen geschwächt werden kann. Angesichts dieser gravierenden Folgen liegt hier keine bloße Grundrechtsausgestaltung vor. Damit bedarf das Gesetz der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Als legitimer Zweck des Eingriffs nennt § 4a I TVG die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Es sollen Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite geschaffen werden. Die das Urteil tragenden Richter sehen keine durchgreifenden Bedenken im Hinblick auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit des Gesetzes. Das Gesetz sei allerdings insoweit unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig, als es keine Vorkehrungen trifft, die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden. Hier müsse der Gesetzgeber nachbessern, wobei ihm ein weiter Gestaltungsspielraum zukomme. Die dissentierenden Richter bezweifeln bereits die Eignung des Gesetzes zur Fahrung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Jedenfalls aber fehle es an der Erforderlichkeit: Die Verdrängung eines Tarifvertrags nur nach einem gerichtlichen Beschlussverfahren wäre ein milderes, als Anreiz zur Kooperation der Tarifvertragsparteien jedoch ebenso wirksames Mittel.

Tarifeinheitsgesetz verfassungswidrig

Richtigerweise ist die Verfassungsmäßigkeit insgesamt zu verneinen. Die Geeignetheit würde voraussetzen, dass Tarifpluralität die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie überhaupt beeinträchtigt. Erforderlich sind belastbare Tatsachen und Nachweise einer hinreichend schweren Gefahrenlage. Prognosen des Gesetzgebers müssen auf einem verlässlichen Verfahren beruhen, zutreffend entwickelt und plausibel offengelegt werden. Die Gesetzesbegründung zum Tarifeinheitsgesetz enthält jedoch nur Unterstellungen, keine empirischen Nachweise. Tatsächlich wird Tarifpluralität seit vielen Jahren in verschiedenen Unternehmen praktiziert, ohne dass es zu einer Beeinträchtigung der Tarifautonomie gekommen ist. Zudem ist es seit Bestehen der Berufsgewerkschaften zu keiner signifikanten Zunahme von Streiks gekommen. Das Ziel der Regelung, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite zu schaffen, könnte sogar in sein Gegenteil verkehrt werden: Gerade die Anwendung des Mehrheitsprinzips dürfte dazu führen, dass die Gewerkschaften durch Zuständigkeitserweiterungen und Streiks erst recht um Mitglieder kämpfen werden. Jedenfalls aber stünden mildere Mittel als die Anordnung von Tarifeinheit zur Verfügung. Dazu gehört neben der von den dissentierenden Richtern genannten Vorschaltung eines gerichtlichen Beschlussverfahrens eine Beschränkung des Arbeitskampfes. So wäre es möglich, die Friedenspflicht bestehender Tarifverträge großer Industriegewerkschaften auf die konkurrierenden Berufsgewerkschaften auszudehnen. Vor allem aber könnte die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Streiks verschärft werden. So könnte man die Angemessenheit zukünftig nur bejahen, wenn Streiks zunächst zahlenmäßig, zeitlich und räumlich begrenzt geführt werden; ferner könnte die obligatorische Durchführung eines Schlichtungsverfahrens vor Streikbeginn verlangt werden. Dies würde den Tarifkonflikt versachlichen, deeskalierend wirken und den Rechtfertigungsdruck der Tarifpartner gegenüber der Öffentlichkeit erhöhen.

Alexander Stöhr, Koalitionsfreiheit, Tarifeinheitsgesetz
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