Mit den Stimmen der Großen Koalition ist am 22. Mai das umstrittene Tarifeinheitsgesetz im Deutschen Bundestag verabschiedet worden. Mit dem Gesetz soll verhindert werden, dass verschiedene Gewerkschaften in einem Betrieb für dieselbe Beschäftigtengruppe unterschiedliche Tarifverträge aushandeln. Damit soll auch der Einfluss von Spartengewerkschaften, wie der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL), die sich zuletzt deutlich streikfreudiger zeigten als viele Einheitsgewerkschaften, beschnitten werden. Das Gesetz ist nicht nur politisch umstritten, auch seine Vereinbarkeit mit der grundgesetzlich gewährleisteten Koalitionsfreiheit erscheint fraglich.
Das Tarifeinheitsgesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrats und wird deshalb, wenn der Bundesrat weder den Vermittlungsausschuss anruft noch Einspruch gegen den Gesetzesbeschluss einlegt, nach der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten und der Verkündung im Bundesgesetzblatt in Kraft treten. Legt der Bundesrat jedoch Einspruch gegen den Gesetzesbeschluss ein oder ruft er den Vermittlungsausschuss an und schlägt dieser Änderungen am Gesetz vor, bedarf es vor der Unterzeichnung durch den Bundespräsidenten und der Verkündung im Bundesgesetzblatt eines erneuten Gesetzesbeschlusses des Bundestags.
Das Tarifeinheitsgesetz geht zurück auf eine gemeinsame Initiative des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA). Hintergrund des Vorstoßes war das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 7. Juli 2010, in dem dieses seine bisherige Rechtsprechung zur Tarifeinheit – „ein Tarifvertrag „für den Betrieb““ – aufgab. Damit ist es prinzipiell möglich, dass verschiedene Gewerkschaften, auch für dieselbe Beschäftigtengruppe, mit eineR ArbeitgeberIn unterschiedliche Tarifverträge aushandeln. In letzter Zeit hat vor allem die GDL von sich Reden gemacht, die sich in einem langen und umstrittenen Arbeitskampf mit der Deutschen Bahn das Recht erkämpft hat, auch für Berufsgruppen Tarifverträge abschließen zu können, die vorwiegend bei anderen Gewerkschaften organisiert sind. Entworfen wurde das Gesetz von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die ihr Vorhaben im Bundestag mit der Wahrung des Betriebsfriedens und der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie rechtfertigte. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wurden diese Ziele ebenfalls benannt.
Nur wer mehr Mitglieder hat, darf Tarifverträge abschließen
Das Gesetz sieht vor, dass künftig der Grundsatz „Eine Beschäftigtengruppe im Betrieb – ein Tarifvertrag“ gilt. Erreicht wird dies, indem nunmehr nur noch der Tarifvertrag für eine Beschäftigtengruppe in einem Betrieb gilt, der von der mitgliederstärkeren Gewerkschaft ausgehandelt worden ist. Das wirft zunächst das (vor allem) praktische Problem auf, wie die Anzahl der Mitglieder einer Gewerkschaft, etwa von einem Arbeitsgericht, festgestellt werden kann. Denn generell halten die Gewerkschaften geheim, wer bei ihnen Mitglied ist und wer nicht, um so ihre Mitglieder zu schützen. Wie diesem Problem, das auch die Persönlichkeitsrechte der Gewerkschaftsmitglieder betrifft, begegnet werden kann, wird durch das Gesetz nicht beantwortet.
Mit der Regelung greift der Gesetzgeber zudem tief in die nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz gewährleistete Koalitionsfreiheit ein, da den kleineren Gewerkschaften das Recht verwehrt wird, für alle ihre Mitglieder Tarifverträge abzuschließen. Umstritten ist, ob hiermit auch ein Streikverbot für die kleineren Gewerkschaften einhergeht. Jedenfalls erscheint es nicht als ausgeschlossen, dass Arbeitsgerichte Streiks von kleinen Gewerkschaften in Zukunft mit der Begründung als unverhältnismäßig einstufen, dass diese ohnehin aufgrund des Tarifeinheitszwangs keine „Aussicht auf Erfolg“ haben. Diese Wirkung scheint auch intendiert zu sein. Jedenfalls äußerte der Sachverständige des BDA, Reinhard Göhner, bei der öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages die Hoffnung, dass das Gesetz „Auswirkungen auf die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen“ haben werde.
Kontrovers diskutiert wird vor allem die Frage, ob der Eingriff in die Tarifautonomie gerechtfertigt werden kann. Die Bundesregierung argumentiert hierbei, dass nur einheitliche Tarifabschlüsse die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie garantieren könnten. Bei uneinheitlichen Abschlüssen für dieselbe Beschäftigtengruppe sei sonst die Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens in Gefahr. Es erscheint bereits fraglich, ob Eingriffe in die Tarifautonomie überhaupt mit der Rechtfertigung der Funktionsfähigkeit ebendieser gerechtfertigt werden können. Die Einschränkung eines Grundrechts, um es funktionsfähig zu halten, erscheint widersprüchlich. Doch selbst wenn man dem folgt, kommt den Tarifparteien nach Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz zwar die Aufgabe zu, für die Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens Sorge zu tragen, allerdings gilt dies nicht grundsatzlos, da ansonsten die Tarifautonomie zur Disposition des Gesetzgebers stünde. Hierzu stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers, auch wenn es sich um ein ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht handele, nicht grenzenlos sei. Vielmehr
„[…] findet [sie] ihre Grenzen an dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der Koalitionsfreiheit: der Garantie eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete Koalitionen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG sein müssen.“ (BVerfGE 50, 290 [369]).
Von frei gebildeten Koalitionen wird man indes kaum noch sprechen können, wenn per Gesetz angeordnet wird, dass nur die mitgliederstärksten Gewerkschaften für ihre Berufsgruppen Tarifverträge abschließen dürfen. Denn dies wird zu einem deutlichen Bedeutungsverlust kleiner Gewerkschaften führen.
Das Gesetz wirft auch die Frage auf, ob es denn wirklich so schlimm ist, wenn zwischen einzelnen Gewerkschaften ein Konkurrenzverhältnis besteht. Davon scheint jedenfalls der Gesetzgeber auszugehen, der bei uneinheitlichen Tarifabschlüssen für dieselben Beschäftigtengruppen den Betriebsfrieden in Gefahr sieht. Allerdings ist schon heute eine unterschiedliche Bezahlung für dieselbe Tätigkeit im selben Betrieb üblich. So werden nach wie LeiharbeitnehmerInnen deutlich schlechter entlohnt als die Stammbelegschaft. Außerdem ist es durchaus verwunderlich, dass in einer Gesellschaft, die durch und durch vom Wettbewerbsprinzip geprägt ist, sei es in der Wirtschaft, im Sport, in der Bildung oder auch in der Kunst, ausgerechnet ein Wettbewerb zwischen Gewerkschaften verhindert werden soll.
Der anstehende Gang nach Karlsruhe
Mehrere Gewerkschaften, darunter der Marburger Bund, die Pilotenvereinigung Cockpit und die GDL, haben bereits angekündigt, vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Tarifeinheitsgesetz zu klagen. Ihnen bleibt, da sie ansonsten unter massiven Einflussverlusten leiden würden, auch kaum eine andere Wahl. Angesichts der in der Literatur vielfach erhobenen Bedenken gegen das Tarifeinheitsgesetz erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung kippt.
Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum (FDP), der die Pilotenvereinigung Cockpit vertritt, kündigte zudem im Gespräch mit dem Deutschlandfunk an, nicht nur gegen das Gesetz in Karlsruhe zu klagen, sondern auch den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu beantragen, um das Inkrafttreten des Gesetzes zu verhindern. Allerdings sind die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an einstweilige Anordnungen, mit denen das Inkrafttreten eines verabschiedeten Gesetzes verhindert werden soll, besonders hoch. Erforderlich für den Erlass derartiger einstweiliger Anordnungen ist, wie das Gericht jüngst wieder bekräftigte, dass
Dabei prüft das Gericht, ob es in dem Fall, in dem das Gesetz in Kraft tritt, zu einem dauerhaften und nicht mehr kompensierbaren Schaden beim Antragsteller kommt. Das Tarifeinheitsgesetz dürfte zwar dazu führen, dass die Pilotenvereinigung Cockpit in Luftfahrtgesellschaften, in denen die Mehrheit der PilotInnen nicht bei ihr organisiert ist, an Einfluss verliert. Allerdings dürfte ihre Existenz dadurch nicht gefährdet sein, ist doch die Mehrheit der PilotInnen bei der Lufthansa, einer der größten Luftfahrtgesellschaften der Welt, bei ihr organisiert. Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit dem das Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes verhindert werden soll, dürfte demnach wohl eher kein Erfolg beschieden sein.