Die Zumutungen des Justizverweigerungsverbots

von PHILIPP SIEDENBURG

Bild - Philipp Siedenburg - sw - ZUDas Justizverweigerungsverbot als Element des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 III GG) verpflichtet den Richter, eine Entscheidung zu treffen. Nicht mehr und nicht weniger. Es verpflichtet ihn weder, innerhalb bestimmter Frist zu entscheiden, noch verpflichtet es ihn, in bestimmter Weise zu entscheiden. In schwierigen Fällen der Rechtsanwendung kann jedoch schon diese eine Verpflichtung, überhaupt entscheiden zu müssen, zur Zumutung werden. Denn, das wissen wir seit dem ersten Semester des Jurastudiums, in vielen Fällen gibt es nicht die eine richtige, sondern mehrere vertretbare Entscheidungen.

Schwierige Fälle

Geht es um schwierige Fälle der Rechtsanwendung, führt das Justizverweigerungsverbot auf die folgenden, rechts- und verfassungstheoretischen Probleme. Nehmen wir an, in einem Strafprozess am Amtsgericht sei eine schwierige Rechtsfrage entscheidungsrelevant, bezüglich derer keine höchstrichterliche Rechtsprechung existiert und bezüglich derer in Rechtsprechung und Literatur erbitterter Streit geführt wird. Diese Fälle mögen empirisch selten sein, logisch auszuschließen sind sie nicht. Der Richter am Amtsgericht, nennen wir ihn Herr B., sei sich demnach unsicher, wie der Fall zu entscheiden sei. Nehmen wir weiter an, dass es ihm möglich sei, beide Lösungen, deren eine zum Freispruch und deren andere zur Verurteilung des Angeklagten, nennen wir ihn Herr N. führt, methodengerecht zu begründen. Seine Unsicherheit, wie der Fall zu entscheiden sei, löst bei unserem Richter die Neigung aus, die Anberaumung eines Termins zur Hauptverhandlung noch zu verschieben. Er hofft, dass sich ihm im Laufe der Zeit die eine oder andere Entscheidungsalternative als „richtiger“ oder „besser vertretbar“ und damit als alternativlos darstellen möge. Das mag in der Praxis passieren, zwingend ist dies nicht. Nehmen wir an, nach einiger Zeit bestehe der gleiche psychologische Zustand der totalen Unentschlossenheit in Bezug auf den Fall des Herrn N. Es ist das Justizverweigerungsverbot, dass unseren Richter in dieser Situation gefangen hält. Es untersagt ihm, in dieser ausweglosen Lage die Sache unentschieden zu lassen mit dem Hinweis: „Auch nach eingehender Prüfung und intensiver Auseinandersetzung mit dem Fall kann ich weder die eine noch die andere Entscheidungsalternative als „richtiger“ oder „besser vertretbar“ auszeichnen. Ich kann diesen Fall somit nicht entscheiden.“ Grund und Ursache der beschriebenen Zwangslage ist das Justizverweigerungsverbot. Wie lässt sich das Justizverweigerungsverbot darüber hinausgehend beschreiben, was fordert es vom Richter, was ist sein Sinn?

Beobachter- und Teilnehmerperspektive

Bei dem Versuch einer Antwort sind eine Beobachter- und eine Teilnehmerperspektive zu unterscheiden. Das Justizverweigerungsverbot bedeutet aus der Perspektive des Beobachters, dass schwierige Fälle entschieden werden müssen, weil die richtige Lösung nicht erkannt werden kann. Warum kann „die richtige“ Lösung nicht erkannt werden? Die allzu knappe Antwort lautet: weil es sie nicht gibt. In dem evozierten Fall gibt es „mehrere vertretbare“, nicht aber „eine einzige richtige“ Lösung. Mag es in einfachen Fällen der Rechtsanwendung alternativlose Entscheidungen und in Fällen evidenter Ungerechtigkeit gar einzig richtige Entscheidungen geben, in schwierigen Fällen gibt es sie nicht. Hierüber täuscht die sprachliche Wendung des „für Recht erkennen“. Sie suggeriert, auch in schwierigen Fällen handele es sich bei richterlichen Urteilen nicht um eine Setzung, sondern um Erkenntnis. Was aber nicht da ist, kann auch nicht erkannt werden. Demnach begründet das Justizverweigerungsverbot in schwierigen Fällen die paradoxe Situation der Pflicht zur Entscheidung des – anhand des Maßstabs der Richtigkeit – Unentscheidbaren. Zur Entscheidung steht, was nicht zur besseren Erkenntnis steht.
Was bedeutet das Justizverweigerungsverbot aus der Teilnehmerperspektive? Kurz gesagt: eine Zumutung. Die Perspektive des Teilnehmers, also des Richters, zeichnet sich in schwierigen Fällen durch die psychologische Zwangslage aus, dass auch nach reiflicher Überlegung weder der eine, noch der andere Alternativfall subjektiv vorzugswürdig erscheint, gleichwohl aber ein Alternativfall dem anderen vorgezogen werden muss. Diese Situation ist sicher abhängig vom Charakter des Entscheiders. Sie mag bei Berufsanfängern öfter auftreten als bei erfahrenen Richtern und bei selbstbewussten Charakteren weniger oft als bei Zweiflern. Von vornherein ausgeschlossen ist sie jedoch nicht. „Pathologisch“, wie von einigen gesagt wird, ist der Zustand, in dem sich unser Richter befindet, ebenfalls nicht. Das Justizverweigerungsverbot führt also potentiell in eine psychologische Sackgasse. Führt es auch wieder heraus? Eine Möglichkeit der Interpretation des Justizverweigerungsverbotes besteht darin, es als eine Pflicht zur Aufrichtigkeit zu verstehen. Nach dieser Ansicht ist der Richter verpflichtet, die schließlich gewählte Entscheidungsalternative subjektiv für „richtiger“ oder „besser vertretbar“ und damit für alternativlos zu halten. Das Justizverweigerungsverbot statuiert danach das Verbot, bloß so zu tun „als-ob“ (die eigene Entscheidung alternativlos sei). Aus der psychologischen Sackgasse führt diese Interpretation nicht. Die Anordnung zur Überwindung einer subjektiven Zwangslage ist nicht das gleiche wie deren tatsächliche Überwindung. Das Problem verschwindet nicht, indem es untersagt wird.

Entscheiden und Begründen

Eine andere Möglichkeit, mit der Zumutung des Justizverweigerungsverbots umzugehen besteht darin, Tenor und Begründung im richterlichen Urteil gesondert zu betrachten. Dann wird deutlich, dass zwar der Tenor des richterlichen Urteils – die Entscheidung als-solche – notwendig binär codiert ist, dass dies für die Begründung aber nicht zutrifft. Es ist richtig, dass unser Herr N. entweder verurteilt oder freigesprochen wird und ein Drittes nicht denkbar ist. Hieraus folgt jedoch nicht, dass diese Alternativlosigkeit in der Begründung nachvollzogen werden müsste. Ein Urteil ist weder begrifflich noch juristisch falsch, wenn es im Tenor eine Verurteilung erklärt, in der Begründung aber darstellt, dass eine schwierige Rechtsfrage vorlag und demzufolge auch der Freispruch eine vertretbare Möglichkeit der Entscheidung gewesen wäre. Unserem Herrn B. könnte so geholfen werden. Was ist mit Herrn N.? Wie würde er ein solches Urteil aufnehmen? Bestünde die Gefahr, dass er es nicht akzeptiert? Vermutlich. Die Frage ist nur: Taugt diese Gefahr als Argument gegen eine solche Darstellungsweise? Darf die Akzeptanz richterlicher Urteile in einem Rechtsstaat auf der falschen Annahme ihrer Alternativlosigkeit auch in schwierigen Fällen beruhen?

Diese Fragen berühren Kernprobleme des Rechtsstaates und sie entzünden sich am Justizverweigerungsverbot. Sie sollten mit den vorstehenden Zeilen nur aufgeworfen, nicht beantwortet werden.

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4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Ist es wirklich sinnvoll, einen bislang ungebräuchlichen Begriff – Justizverweigerungsverbot – einzuführen anstelle des völlig üblichen (Justizgewährungsanspruch)?

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  • Ist das denn ein spezifisches Problem von schwer zu entscheidenden Fällen? Macht es für den Verurteilten einen großen Unterschied, ob es für den Richter subjektiv schwierig war, zu entscheiden? Könnte man die Frage stattdessen nicht auch weiter stellen: Welche Rolle sollte die Beobachtung spielen, dass der Normtext (das Recht?) in keinem Fall eine eindeutige Entscheidung determiniert und insofern die Entscheidung immer kontingent ist – aber im Urteil als notwendig dargestellt wird? Insofern gehört die Darstellung als alternativlos wohl zum notwendigen Narrativ des Rechts?

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    • Philipp Siedenburg
      29. April 2015 17:26

      Dass der Normtext in keinem Fall die Entscheidung determiniert, würde ich nicht sagen. Wenn bspw. für die Wahl eines Präsidenten im Gesetz vorgeschrieben ist, dass nicht mehr als drei Kandidaten zur Wahl gestellt werden dürfen, dann ist das Aufstellen von vier Kandidaten nicht von der Norm gedeckt. Das ist ein einfacher Fall. Die Entscheidung ist alternativlos.

      Die Darstellung nach dem Prinzip der Binarität als „notwendiges Narrativ“ des Rechts trifft sicher einen wichtigen Punkt. Es wäre weiter nach der Legitimität dieses Narrativs zu fragen. Die Antwort ist schwierig, ich habe versucht, das in meiner Dissertation („Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung“) darzustellen (im Erscheinen).

      Die Frage, ob es für den Verurteilten einen Unterschied macht, würde ich sicher mit „ja“ beantworten. Dies vor dem Hintergrund der Annahme, dass es dem Richter prinzipiell möglich ist, die subjektiven Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung in der richterlichen Begründung widerzuspiegeln. Für den Verurteilten macht es (unabhängig von der normativen Bewertung dieses Umstands) einen Unterschied, ob ihm das Urteil als alternativlos, mit dem Impetus der Verkündung ewiger Wahrheit präsentiert wird oder als reflektiert ungenügender Versuch, die getroffene Entscheidung restlos zu begründen. Ungeachtet der Wirkung auf den Verurteilten als Individuum steht die Anerkennungswürdigkeit der Justiz insgesamt auf dem Spiel.

      Vielen Dank für Deinen Kommentar!!

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