Was ist eine „aufgeworfene Rechtsfrage“? Gutachtenstil und Prüfungsumfang der baurechtlichen Drittanfechtungsklage

von PHILIPP SCHÜPFERLING

In juristischen Klausuren sollte man in der Begründetheit einer baurechtlichen Drittanfechtungsklage nicht die vollständige Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung prüfen (so wird das aber u.a. durch Juracademy, Juridicus, Burbach, in: Eisentraut (Hrsg.), Fälle zum Verwaltungsrecht, juraexamen.info vermittelt). Dieser Ansatz ist dogmatisch nicht überzeugend, birgt die Gefahr falscher Schwerpunktsetzung und ist vor allem keine „aufgeworfene Frage“ im Gutachtenstil. Konsequenter ist es nur zu prüfen, ob ein subjektiv-öffentliches Recht des Klägers verletzt ist.

Die vollständige Prüfung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung als dogmatischer Irrweg

In der Zulässigkeit der Drittanfechtungsklage muss unter dem Prüfungspunkt der Klagebefugnis bekanntermaßen bestimmt werden, ob eine den Kläger drittschützende Norm möglicherweise verletzt ist. Bereits dadurch ist das Prüfungsprogramm für die spätere Begründetheit festgelegt. Zumindest konkludent werden nämlich anderweitige Verstöße gegen nicht drittschützende Regelungen von den folgenden Überlegungen ausgeschlossen, da sie eben schon keine Klagebefugnis herbeiführen. Es macht daher keinen Sinn, in der Begründetheit die vollständige Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung zu überprüfen, da dadurch diverse Normen behandelt werden, aus denen sich nicht zugunsten der Nachbarn ein subjektiv-öffentliches Recht ergibt. Diese Ausführungen können mangels Klagebefugnis in keinem Fall zum Erfolg der Klage führen und sind deshalb inkonsequent, überflüssig und nicht zielführend.

Der Nachbar ist nicht Hüter der Rechtsordnung

Nachbarn verfolgen mit ihrer Drittanfechtungsklage eigene Belange und nicht etwa das Ziel, die Einhaltung der Gesetze altruistisch im Gedanken aller anderen unbeteiligten Bürgerinnen und Bürger durchzusetzen. Dieser Gedanke korreliert schließlich auch mit dem Grundsatz, dass nur eigene Rechte gerichtlich geltend gemacht werden können und grundsätzlich keine Popularklagen zulässig sind (§ 42 Abs. 2 VwGO, Art. 19 Abs. 4 GG – anders ausnahmsweise im Umweltrecht, § 2 UmwRG). Insofern ist es treffend, festzustellen, dass die Nachbarn nicht „Hüter der Rechtsordnung“ sind (Stollmann/Beaucamp, Öffentliches Baurecht, 13. Auflage, München 2022, § 21 Rn. 35). Denklogisch muss sich die Begründetheitsprüfung der Drittanfechtungsklage dann auch nur auf nachbarliche Belange – die Verletzung drittschützender Normen – beziehen. Die kasuistische geprägte Dogmatik der drittschützenden Normen wird zwar in der Praxis teils als zu eng gestrickt kritisiert (Grundlegend: Mampel, Nachbarschutz im Öffentlichen Baurecht, Herne 1994). Das ändert jedoch nichts daran, dass weiterhin nur die Verletzung von drittschützenden Normen in der Begründetheit zu prüfen ist. Diese aufgeführte Kritik ist nämlich eine Frage, die sich auf der vorherigen Ebene des Bestehens des Drittschutzes abspielt.

Keine aufgeworfene Frage im Gutachtenstil

Einen anderen Aufbau, in dem die vollständige Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung geprüft wird, rechtfertigt auch nicht, dass im Gutachtenstil laut Bearbeitervermerk auf alle aufgeworfenen Fragen einzugehen sei. Ist sogar in einem Sachverhalt die formelle Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung eindeutig, ergibt sich aber kein Drittschutz daraus, so darf nicht auf Biegen und Brechen ein Hilfsgutachten in der Begründetheit erstellt werden, das diese Frage ausführlich behandelt. Denn es muss zwischen einer aufgeworfenen Frage, die für das Ergebnis des Gutachtens relevant ist, und einer bloß hypothetischen und nebensächlichen Frage differenziert werden (lehrreich dazu Schnapp, JuS 1998, 420 – 423 (422) m.w.N.). Resultiert nun aus einer formellen Rechtswidrigkeit einer Baugenehmigung kein Drittschutz, ist die Prüfung dieses Aspekts für das Ergebnis des Gutachtens – den Erfolg der Klage – bedeutungslos. Somit muss eine solche Frage nicht in der Klausur behandelt werden. Im Gutachtenstil soll eben Problembewusstsein gezeigt werden und nicht überflüssig Wissen ohne Relevanz für die Lösung geschildert werden.

Fazit

Im Ergebnis ist in der Begründetheit der Drittanfechtungsklage gegen eine Baugenehmigung nur die Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts anstelle einer umfassenden Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung zu prüfen. Letztere ist nicht geboten, da die Genehmigung auch gegen nicht drittschützende Regelungen verstoßen kann, welche mangels Klagebefugnis ohnehin nicht zum Erfolg der Klage führen können und daher überflüssige, hypothetische und nebensächliche Erwägungen sind.

Zitiervorschlag: Schüpferling, Philipp, Was ist eine „aufgeworfene Rechtsfrage“? Gutachtenstil und Prüfungsumfang der baurechtlichen Drittanfechtungsklage, JuWissBlog Nr. 40/2024 v. 25.06.2024, https://www.juwiss.de/40-2024/.

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Baurecht, Begründetheit, Dogmatik, Drittanfechtungsklage, Gutachtenstil, Philipp Schüpferling
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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Daniel Benrath
    9. Juli 2024 17:43

    Vielen Dank für diese wunderbare Fragestellung und den wichtigen Beitrag zu einer Diskussion des Prüfungsaufbaus in der Verwaltungsrechtsklausur. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht den einen richtigen Aufbau gibt. Vielmehr ist der Aufbau durchaus flexibel und erlaubt es im Rahmen des rechtlichen Programms, den Aufbau an die Herausforderungen des Falls (und die eigenen Präferenzen) anzupassen. Auch kann man gar nicht genug gegen den Trend ankämpfen, in einer juristischen Prüfung den Kipplaster als Vorbild zu nehmen (und gar sachgerechtere Bearbeitungen als fehlerhaft zu bewerten).

    Ich möchte aber auf zwei kritische Punkte hinweisen:
    1. Ein vollständiges Gutachten, das ja eine Entscheidung vorbereiten soll, wirft nicht nur die für die gewählte Lösung erforderliche Fragen auf, sondern die für alle denkbaren Lösungen erforderliche Fragen. Maßgeblich ist in diesem Kontext also nicht, ob der Drittschutz nicht gegeben ist, sondern ob der Drittschutz unter keiner Betrachtungsweise gegeben ist. Erst dann kann auf die Rechtswidrigkeitsprüfung verzichtet werden. Insoweit sollte auf eine saubere Formulierung geachtet werden.
    2. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat sich der übliche Aufbau im Gutachten bewährt, zumal er einen einheitlichen Grundaufbau über eine Vielzahl von Einkleidungen erlaubt. Ist eine mögliche Rechtswidrigkeit offensichtlich nicht mit einer subjektiven Rechtsverletzung verknüpft, lässt sich auch in diesem Aufbau die weitere Prüfung mit einem entsprechenden Hinweis abbrechen (was von einer schwerpunktbewussten Bearbeitung auch zu fordern sein würde). Es ist auch durchaus üblich und sachgerecht, die subjektive Rechtsverletzung ins Zentrum der Prüfung zu rücken, insbesondere wenn mehrere Rechtsfehler im Raum stehen, die aber mangels Drittschutz und damit auch mangels Begründetheit sicher keinen Einfluss auf die Aussicht auf Erfolg haben.

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