Die Bestimmung „sicherer Herkunftsstaaten“ als Instrument der Entrechtung

Von CHRISTOPH TOMETTEN

Christoph-TomettenHeute berät der Bundestag über das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz. Das Gesetz degradiert Asylsuchende aus vermeintlich „sicheren Herkunftsstaaten“ zu Menschen letzter Klasse und verwehrt ihnen jede Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland. Diese Politik der Brutalität schürt nicht nur rassistische und antiziganistische Vorurteile: Sie ist auch verfassungs- und unionsrechtlich äußerst problematisch.

Seitdem das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ 1993 im Grundgesetz verankert wurde, wurde seine Europäisierung aktiv betrieben. Nun unterliegt die Bestimmung „sicherer Herkunftsstaaten“ nicht nur verfassungsrechtlichen, sondern auch unionsrechtlichen Vorgaben, die in der Verfahrensrichtlinie geregelt sind. Ein Staat kann nur dann als sicher angesehen werden,

„wenn sich anhand der dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell und durchgängig weder eine Verfolgung … noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind“.

Die Entscheidung kann also weder beliebig noch zu dem alleinigen Zweck getroffen werden, Asylverfahren zu beschleunigen, wenn auch das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Vorgaben des Grundgesetzes dem Gesetzgeber einen Einschätzungs- und Wertungsspielraum zugesteht.

Stiefmütterliche Behandlung von Verfassungs- und Unionsrecht

In Deutschland stehen derzeit Ghana, Senegal, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien auf der Liste „sicherer Herkunftsstaaten“; der Bundestag beschließt heute die Erweiterung der Liste um Albanien, Kosovo und Montenegro. Rechtswidrig ist die Bestimmung von Ghana und Senegal zu „sicheren Herkunftsstaaten“, da dort einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Erwachsenen immer noch mit Freiheitsstrafen belegt werden, das Bundesverfassungsgericht aber entschieden hat, dass „für die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat … Sicherheit vor politischer Verfolgung landesweit und für alle Personen- und Bevölkerungsgruppen bestehen [muss]“. Rechtliche Bedenken bestehen auch in Bezug auf die Westbalkanstaaten. In Frankreich hat das oberste Verwaltungsgericht vor einem Jahr entschieden, dass die Bestimmung von Kosovo zum „sicheren Herkunftsstaat“ „angesichts der Instabilität des spezifischen politischen und sozialen Kontexts dieses Staates und der Gewalttätigkeiten, denen manche Kategorien seiner Bevölkerung ohne Gewährleistung, bei den öffentlichen Behörden ausreichenden Schutz finden zu können, ausgesetzt bleiben“, gegen das einschlägige Richtlinienumsetzungsgesetz verstößt. Dennoch hat die Europäische Kommission parallel zum Gesetzgebungsverfahren in Deutschland eine gemeinsame EU-Liste vorgeschlagen, die ebenfalls die Westbalkanstaaten, nicht aber Senegal und Ghana, dafür aber die Türkei enthält.

Die materiellen Vorgaben des Unionsrechts werden von Bundesregierung und Kommission gleichermaßen stiefmütterlich behandelt. In der Begründung des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes sucht man etwa vergeblich nach Erläuterungen, warum Senegal und Ghana wieder auf der Liste auftauchen, obwohl die Verfahrensrichtlinie eine regelmäßige Überprüfung der Lage in den „sicheren Herkunftsstaaten“ vorschreibt. Zu der Verschlechterung der menschenrechtlichen Situation in Mazedonien im Laufe des letzten Jahres verlieren Bundesregierung und Kommission kein Wort. Und mit der französischen Rechtsprechung zur Lage im Kosovo befassen sie sich auch nicht, obwohl Informationen aus anderen Mitgliedstaaten nach der Verfahrensrichtlinie bei der Bestimmung „sicherer Herkunftsstaaten“ herangezogen werden müssen.

Dramatische Konsequenzen für Flüchtlinge aus den Westbalkanstaaten

Asylsuchende aus einem „sicheren Herkunftsstaat“ müssen darlegen, dass ihnen abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Verfolgung droht. Das ist zwar keine Beweislastumkehr, denn die Beweislast für eine begründete Furcht vor Verfolgung tragen alle Asylbewerber*innen unabhängig von ihrer Herkunft. Rechtlich ist der Unterschied zum regulären Asylverfahren daher nicht ganz eindeutig, zumal ein Asylantrag auch dann als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt werden kann, wenn das Vorbringen des Antragstellers in wesentlichen Punkten nicht substantiiert oder in sich widersprüchlich ist oder offenkundig den Tatsachen nicht entspricht. Doch erfordert die Begründung einer solchen Ablehnung immerhin einen gewissen intellektuellen Aufwand, während erhebliche Anreize bestehen, Anträge von Asylsuchenden aus „sicheren Herkunftsstaaten“ entsprechend der gesetzgeberischen Intention negativ zu bescheiden. Da die Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet deutlich eingeschränkt sind, höhlt das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ an sich schon das Asylrecht aus.

Doch es kommt nun noch viel schlimmer. Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz trägt seinen Namen völlig zu Unrecht, da es keinerlei verfahrensbeschleunigende Regelungen enthält: Es fehlen eine Altfalllösung für langandauernde Asylverfahren, die Abschaffung der obligatorischen Widerrufsprüfung und eine Regelung zur pauschalen Anerkennung von Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Eritrea und Somalia. Dass sich die Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten verfahrensbeschleunigend auswirkt, wird in der Gesetzesbegründung lediglich behauptet, aber nicht argumentativ unterfüttert. An die Herkunft aus „sicheren Herkunftsstaaten“ knüpft das Gesetz nun aber gravierende Rechtsfolgen. Die Betroffenen sind verpflichtet, zeitlich unbegrenzt in Erstaufnahmeeinrichtungen zu verbleiben. Jenseits der Gefahr, dass faktische „Roma-Lager“ prädestinierte Zielscheiben antiziganistischer Terroranschläge werden, hängt an dieser Verpflichtung auch das Sachleistungsprinzip (zwingend für den notwendigen Bedarf einschließlich Kleidung und Ernährung – das Essen kommt also vom Amt; Soll-Bestimmung für den notwendigen persönlichen Bedarf – das Amt wird zum Zigarettenhändler), die Residenzpflicht und ein absolutes Arbeitsverbot. Nach Maßgabe von Landesrecht entfällt unter Umständen auch die Schulpflicht. Abgelehnten Asylbewerber*innen werden Asylbewerberleistungen nur noch eingeschränkt gewährt – entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur migrationspolitisch nicht relativierbaren Menschenwürde. Kurz: Die Bundesregierung ermöglicht ein Lagerwesen für weitgehend entrechtete Minderheiten, denen jegliche Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben genommen wird.

Degradierung „unerwünschter Ausländer*innen“ zu Menschen letzter Klasse

Handlungsmaxime des Innenministers scheint es zu sein, aus seiner Sicht unerwünschte Ausländer*innen zu Menschen letzter Klasse zu degradieren. Nicht genug damit, dass bei der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums für Asylsuchende schon bisher offenbar andere Maßstäbe gelten als für den Rest der Bevölkerung: Es soll nun auch zwischen Asylsuchenden mit und ohne Bleibeperspektive unterschieden werden. Im ersten bekanntgewordenen Entwurf des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes hatte das BMI sogar vorgeschlagen, innerhalb der Gruppe der vollziehbar Ausreisepflichtigen, deren Abschiebung ausgesetzt ist, weil sie aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, Kategorien zu bilden. Diejenigen, die die Unmöglichkeit der Abschiebung aus Sicht des Gesetzgebers selbst zu verantworten haben, sollten statt der Duldung nur noch „Bescheinigungen über die vollziehbare Ausreisepflicht“ erhalten, die sie effektiv aus dem Anwendungsbereich der gerade erst in Kraft getretenen Bleiberechtsregelungen herauskatapultiert hätten. Agamben lässt grüßen.

Die Auswirkungen für die Betroffenen sind dramatisch – während geschickte PR die Kanzlerin weltweit immer noch als Flüchtlingskanzlerin erscheinen lässt, ein Wolf im Schafspelz, der den Flüchtlingsschutz unbemerkt unterminiert. Denn was in Deutschland als hinnehmbar und vereinbar mit einem effektiven Flüchtlingsschutz betrachtet wird, liefert Munition für diejenigen, die anderswo das Asylrecht mit kaum verhohlen rassistischen Parolen und Forderungen bekämpfen. In der südafrikanischen Entwicklungsgemeinschaft etwa werden rechtsbeschränkende Konstrukte der europäischen Flüchtlingspolitik mit großen Interesse rezipiert. Man kann nur hoffen, dass der Widerstand gegen eine solche Politik wächst.

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