von TOBIAS BRINGS und MAXIMILIAN OEHL
Während dieser Tage offen und forsch über die rechtlich fragwürdige Einrichtung von Transitzonen an den deutschen Binnengrenzen diskutiert wird, erscheinen die im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (AsylVfBeschlG) avisierten Änderungen schon wieder vergleichsweise harmlos. Allerdings: Asylpolitik beginnt bereits im Detail und ist im Ergebnis die Summe ihrer Teile. Für die Betroffenen kann jede noch so kleine Rechtsänderung deutlich spürbar sein.
Die Bundesregierung hat nun mit dem Entwurf vom 29. September 2015 zahlreiche solcher Änderungen von AsylverfahrensG (zukünftig: AsylG), AufenthaltsG und AsylbewerberleistungsG vorgeschlagen, die am heutigen Donnerstag vom Bundestag in leicht abgewandelter Fassung beschlossen wurden. Unter anderem sollen damit „Fehlanreize, die zu einem weiteren Anstieg ungerechtfertigter Asylanträge führen können, beseitigt werden“. In Anbetracht der spürbaren Verschärfung der einschlägigen Vorschriften wird verschiedenen Orts kontrovers gestritten (vgl. vor allem die öffentliche Anhörung im Innenausschuss am 12. Oktober 2015). Die Diskussion bewegt sich nicht selten vornehmlich auf der Ebene des Rechtspolitischen, einige Veränderungen stehen jedoch im Verdacht der Verfassungs- bzw. Unionsrechtswidrigkeit. Der vorliegende Beitrag widmet sich in zwei Teilen den offenliegenden Verstößen der Leistungskürzungen für bestimmte Personengruppen (Teil 1) sowie der verlängerten Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für Arbeitsmarkt- und Bildungszugang (Teil 2).
Die grundsätzliche Rückkehr zum Sachleistungsprinzip
Eine der zentralen Änderungen des Gesetzesvorhabens ist die grundsätzliche Abkehr von Geldleistungen an Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG hin zu Sachleistungen. So soll nach § 3 Abs. 1 AsylbLG-E nunmehr auch der „notwendige persönliche Bedarf“ grundsätzlich durch Sachleistungen gedeckt werden. Lediglich sofern „nach den Umständen erforderlich“ können nach wie vor Geldleistungen erbracht werden. Diese Entwicklung wird von einigen Wohlfahrts- und Interessengruppen als migrationsrechtlicher Rückschritt kritisiert (vgl. etwa hier). Eine Verletzung der Menschenwürde in ihrer migrationsrechtlichen Dimension gem. Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG liegt allein hierin nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts jedoch wohl noch nicht. In dem Grundsatzurteil vom 18. Juli 2012 heißt es:
„Ob [der Gesetzgeber] das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert, bleibt grundsätzlich ihm überlassen.“ (Rn. 93)
Auch aus unionsrechtlicher Perspektive ist diese – rechtspolitisch und praxisorientiert streitbare – Veränderung in Anbetracht der Vorgaben des Art. 2 lit. g), 17 Abs. 5 RL 2013/33/EU wohl nicht zu bemängeln.
Leistungskürzungen für bestimmte Personengruppen
Anders könnte die verfassungsrechtliche Lage vor dem Hintergrund des genannten Urteils mit Blick auf die im Gesetzesentwurf geplanten Leistungskürzungen im § 1a Abs. 2 bis 4 AsylbLG-E (des sog. „soziokulturellen Existenzminimums“) zu beurteilen sein.
Dabei sind drei Personengruppen von diesen Kürzungen betroffen:
- § 1a Abs. 2 S. 1, 2 AsylbLG-E sollen vollziehbar ausreisepflichtige Personen, deren „Ausreisetermin und (…) Ausreisemöglichkeit feststehen (…) nur noch Leistungen zur Deckung ihres Bedarfs an Ernährung und Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und Gesundheitspflege“ erhalten; es entfällt folglich insbesondere der monatliche Geldbetrag „zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens“ gem. § 3 Abs. 1 S. 2 AsylbLG.
- Gleiches wird in § 1a Abs. 4 AsylbLG-E für Asylbewerber normiert, die, in Abweichung vom Dublin-III-Verfahren, in einen anderen EU-Mitgliedstaat bzw. einen an diesem Verteilmechanismus teilnehmenden Staat umverteilt wurden und sich dennoch nach Deutschland begeben haben.
- Besonders zu kritisieren ist, dass über den ebenfalls per Beschlussempfehlung des Innenausschusses im letzten Moment eingebrachten § 1a Abs. 3 AsylbLG-E die Leistungskürzungen auch gem. § 60a AufenthG geduldete Personen, bei welchen „aus von ihnen selbst zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können“ erfassen soll. Hierdurch wird die „Duldung“ deutlich entwertet, was der gesetzgeberischen Wertung der erst im Frühjahr 2015 geschaffenen Perspektive für langfristig „Geduldete“ entgegenläuft.
Klarer Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG
Die genannten Vorschriften stehen in einem vergleichsweise klaren Widerspruch zu dem Votum des BVerfG. In dessen zweiten Leitsatz heißt es:
„Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG garantiert ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (…). Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht. Er umfasst (…) auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.“
Nach § 1a Abs. 2 S. 2 AsylbLG-E sind die Leistungen an die genannten Personengruppen jedoch gerade um jene Mittel, welche über die Sicherung der physischen Existenz hinausgehen und mithin zur „Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ erforderlich sind („soziokulturelles Existenzminimum“), zu kürzen. Hierin besteht ein vielzitierter, klarer Widerspruch zu den Vorgaben des BVerfG.
Dieser Eindruck verstärkt sich vor dem Hintergrund des dritten Leitsatzes des BVerfG in besagter Entscheidung. Hierin heißt es:
„Falls der Gesetzgeber bei der Festlegung des menschenwürdigen Existenzminimums die Besonderheiten bestimmter Personengruppen berücksichtigen will, darf er (…) nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenzieren. Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“
Die Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz müssen zur Konkretisierung des grundrechtlich fundierten Anspruchs in einem inhaltlich transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen und jeweils aktuellen Bedarf, also realitätsgerecht bemessen, begründet werden können (BVerfG, Rn. 95). Ergibt eine solche Prüfung, dass der Bedarf unter dem einer anderen Gruppe liegt, könnte an eine Absenkung der Versorgung zu denken sein. Eine solche realitätsgerechte Prüfung inklusive Begründung, die das Ergebnis stützte, bleibt die Bundesregierung jedoch bisher schuldig. Allein die pauschale Differenzierung der in § 1a Abs. 2 bis 4 AsylbLG-E genannten Personengruppen ist daher schon für sich genommen verfassungswidrig (ebd., Rn. 99). An dieser Bewertung ändern auch die unionsrechtlichen Vorschriften der RLen 2008/115/EG und 2013/33/EU zu den materiellen Leistungen nichts, da diese lediglich Mindestgarantien formulieren, den deutschen Gesetzgeber aber nicht davon entbinden können, innerstaatlich zu höheren Leistungen verpflichtet zu sein.
Insofern wird es verfassungsrechtlich auch unzureichend sein, lediglich darauf zu verweisen, dass sich die genannten Personengruppen in einer „Rückführungsphase“ befinden (vgl. Kluth, S. 8) oder sich hinsichtlich der Zulässigkeit „gestaffelter Existenzminima“ auf die Einschätzung des 8. Senats des Bundessozialgerichts zu stützen bzw. im Falle einer Umverteilung i.S.d. § 1a Abs. 4 AsylbLG-E die Bedeutung des deutschen Staatsterritoriums anhand des Schengenraums zu relativieren (so Thym in seiner Stellungnahme, S. 20 f.).
Das Inkrafttreten des vorliegenden Gesetzesentwurfs vorausgesetzt, ist die Herstellung einer verfassungsmäßigen Situation somit nur in Form einer ausgeprägten Abkehr des Bundesverfassungsgerichts von seiner Rechtsprechung aus 2012 denkbar – eine „Hoffnung“, die der Bundesinnenminister, insofern nachvollziehbar, im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens äußerte (Bundestag, Sitzungsprotokoll vom 30.9.2015, S. 12211).
Fazit zu Teil 1
Der Gesetzentwurf verstößt anhand der avisierten Leistungskürzungen in offensichtlicher Weise gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012. Die Kürzung des „soziokulturellen Existenzminimums“ widerspricht dessen zweitem Leitsatz, die pauschale Adressierung von Personengruppen ohne nachvollziehbare Durchführung einer „Bedarfsprüfung“ bedeutet einen Verstoß gegen dessen dritten Leitsatz. Es bestehen aktuell keinerlei „Anhaltspunkte“ (so aber Thym, S. 21) für eine verfassungsrechtliche Vereinbarkeit der vorgesehenen Regelung.
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