Von CHRISTOPH GÄRNER und ROMAN FRIEDRICH
Am 1. September 2021 sorgte eine Entscheidung des U.S. Supreme Court zu abortion rights für Aufsehen. In Whole Woman’s Health v. Jackson geht es um das texanische Gesetz „SB8“, das Schwangerschaftsabbrüche bereits ab der 6. Schwangerschaftswoche verbietet. Der Supreme Court hatte über einen auf einstweiligen Rechtsschutz („injunctive relief“) gerichteten Eilantrag zu entscheiden, mit dem das Gesetz in letzter Minute am Inkrafttreten gehindert werden sollte. Der Gerichtshof wies den Antrag zurück. What’s the matter with SB8?
Erklärende Anmerkungen zu Jackson
Das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ist in den USA ein politisch und juristisch umstrittenes Thema. 1973 leitete der U.S. Supreme Court in der legendären Entscheidung Roe v. Wade aus dem 14. Verfassungszusatz ein subjektives Recht der Schwangeren auf einen Abbruch der Schwangerschaft weitestgehend frei von staatlichen Beschränkungen zumindest innerhalb der ersten beiden Trimester (bzw. bis zur Lebensfähigkeit des Fötus bei ca. 24 Wochen) ab. Seit dieser Leitentscheidung sind abortion rights regelmäßig Gegenstand von rechtwissenschaftlichen Debatten und Gerichtsentscheidungen. Für den 2021 Term, der im Oktober beginnt, hat der Supreme Court eine Causa zur Entscheidung angenommen, welche das Recht auf Schwangerschaftsabbruch neu definieren und möglicherweise erheblich einschränken könnte: Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, ein Verfahren über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes des Bundesstaats Mississippi, das Abbrüche nach der 15. Schwangerschaftswoche verbietet. Die unterinstanzlichen Bundesgerichte hinderten das Gesetz aufgrund des offensichtlichen Widerspruchs mit den bisher in der Judikatur gestellten Anforderungen zwar am Inkrafttreten; der seit der Ernennung von Amy Coney Barrett an Stelle von Ruth Bader Ginsburg deutlich konservativer zusammengesetzte Supreme Court könnte seine Judikatur jedoch grundlegend ändern.
Whole Woman’s Health v. Jackson
Am 1. September 2021 sorgte jedoch eine andere im Kontext von abortion rights getroffene Entscheidung des Supreme Court für Aufsehen. In Whole Woman’s Health v. Jackson ging es um das texanische Gesetz „SB8“, das Schwangerschaftsabbrüche im Wesentlichen bereits ab der 6. Schwangerschaftswoche – dem (vermeintlichen) Beginn des fötalen Herzschlags – verbietet. In diesem Verfahren hatte der Supreme Court über einen auf einstweiligen Rechtsschutz („injunctive relief“) gerichteten Eilantrag zu entscheiden, mit dem das Gesetz in letzter Minute am Inkrafttreten gehindert werden sollte. Denn im Unterschied zu Mississippis Gestational Age Act hatten die unteren Instanzen dies im Fall von SB8 zu diesem Zeitpunkt nicht schon selbst getan. Dies hat sich zwar mittlerweile geändert: Ein Bundesgericht (district court) in Texas hat im Verfahren United States v. Texas, das die materielle Verfassungswidrigkeit des SB8 zum Gegenstand hat, die Vollziehung des Abtreibungsverbots (auch durch die Gerichte) einstweilig verboten. Diese Entscheidung wurde aber kurze Zeit später vom United States Court of Appeals for the Fifth Circuit wiederum ausgesetzt, weshalb die Vollziehung des SB8 wieder erlaubt ist. Mittlerweile landete das texanische Gesetz nun auch als Hauptverfahren vor dem Supreme Court, der auch bereits am 1. November darüber mündlich verhandelte. Nach wie vor geht es jedoch nicht um die materielle Verfassungskonformität von SB8, sondern um kuriose prozessuale Fragestellungen, die es aufwirft.
What’s the matter with SB8?
Der große Unterschied zwischen den dem Gesetz Mississippis und SB8 ist, dass sich SB8 eines „kreativen“ Durchsetzungsmechanismus bedient: Das weitgehende Abtreibungsverbot wird hier nicht von staatlichen Behörden durchgesetzt; SB8 ermächtigt vielmehr jede (Privat-)Person, als Klägerin aufzutreten und jede:n auf Unterlassung zu klagen, der oder die eine verbotene Abtreibung vornimmt oder veranlasst, dabei Beihilfe leistet (z.B. durch Bezahlung des Eingriffs) oder vorhat, eine dieser Verhaltensweisen zu setzen (unsere Übersetzung von Tex. Health & Safety Code § 171.208). Diesen Mechanismus verglich allen voran Justice Sonia Sotomayor mit einer Kopfgeldjagd, denn im Falle des Klageerfolgs steht der Klägerin zusätzlich zu den eigenen Prozesskosten eine Art Honorar in Höhe von mindestens 10.000 $ zu; im Falle des Unterliegens muss sie hingegen nicht für die Prozesskosten der Beklagten einstehen.
Warum aber macht diese eigenwillige Konstruktion das SB8 viel schwieriger justiziell angreifbar? Sie bereitet erhebliche Probleme bei der Frage, wer im gegenständlichen Verfahren überhaupt passivlegitimiert sein könnte. Als beklagte Partei käme in einem ersten Schritt grundsätzlich der Bundesstaat Texas selbst in Betracht. Doch aufgrund einer (fragwürdigen) Auslegung des 11. Verfassungszusatzes und der daraus abgeleiteten sovereign immunity doctrine sind direkte Klagen von Privatpersonen gegen einen Bundesstaat vor Bundesgerichten nicht zulässig.
Stattdessen behilft man sich in solchen Verfahren gegen Rechtsakte der Bundesstaaten, die potentiell gegen Bundes(-verfassungs-)recht verstoßen, mit folgender prozeduralen Konstruktion: Man klagt anstelle des Staates den mit dem Vollzug des jeweiligen Gesetzes zuständigen state official (häufig z.B. der jeweilige Attorney General des Bundesstaates). Dadurch wird ihm oder ihr verboten, das (vermeintlich) bundesrechtswidrige Gesetz zu vollziehen – die sogenannte Ex parte Young-Ausnahme. Im Dobbs-Fall konnten die Beschwerdeführer:innen den zuständigen Beamten, den State Health Officer of the Mississippi Department of Health, eben Herrn Dobbs, dahingehend klagen, dass das Gericht diesem die (weitere) Vollziehung des Gesetzes verbietet.
Ein Vorgehen nach dieser etwas umständlichen, aber bewährten Methodik war im Fall von SB8 jedoch nicht möglich: Eine:n state official, der das Gesetz zu vollziehen hat, gibt es wegen der auf Privatinitiative basierenden Konstruktion gerade nicht. Die Beschwerdeführer:innen griffen stattdessen auf eine Gruppe von Richter:innen in Texas zurück (daher auch die Verfahrensbezeichnung „Whole Woman´s Health ea v Austin Reeve Jackson, Judge, ea“), da über Klagen gemäß SB8 vor texanischen Gerichten verhandelt würde und deren Richter:innen als state officials in Betracht kämen. Das Problem: Die ex parte Young-Ausnahme wurde bisher – soweit ersichtlich – nur auf Verwaltungsorgane als state officials angewendet. Alternativ führte der Eilantrag auch eine einzelne Privatperson als Beklagten an, doch diese habe nach eigener Aussage noch nicht einmal die Absicht, eine Klage gemäß SB8 zu erheben. Dieses Problem stellt sich im bereits erwähnten Verfahren United States v. Texas deshalb nicht mehr, weil Klagen der Bundesregierung gegen einen Bundesstaat direkt möglich sind.
Die Entscheidung des Supreme Courts
Den Supreme Court konnten diese Versuche, die Passivlegitimation auf anderem Wege abzuleiten, nicht überzeugen. Er räumte zwar – mit fünf zu vier Stimmen – ein, dass die Antragsteller „serious questions regarding the constitutionality of the Texas law“ aufgeworfen hätten, doch sei „unclear“, ob die ex parte Young-Ausnahme gegenüber Richter:innen greife, die Verfahren gemäß SB8 allenfalls zu entscheiden hätten. Er wies den Eilantrag daher aus formalen Gründen als unzulässig zurück. Die vier Richter:innen in der Minderheit – darunter Chief Justice John Roberts – sahen dies anders. Sie erkannten das verfahrensrechtliche Problem zwar ebenfalls an, hätten aber aufgrund der evidenten Verfassungswidrigkeit dieser Regelung, der Intensität der Beschränkung der Grundrechte der betroffenen Personen und dem Missbrauchspotential, das diese Konstruktion zur Umgehung gerichtlicher Kontrolle in sich birgt, dem Eilantrag dennoch stattgegeben und SB8 vorläufig am Inkrafttreten gehindert. Insbesondere die Argumentation von Justice Stephen Breyer, bei der Suche nach einer zuständigen Behörde nicht zu formalistisch zu sein und stattdessen Behörden, die zwar nicht selbst für die Vollziehung zuständig sind, aber wahrscheinlich oder gar notwendigerweise im Zuge solcher Verfahren tätig werden müssen, als beklagte Parteien zuzulassen, hat unseres Erachtens einiges für sich. Der Ansatz erinnert an den aus dem europäischen Unionsrecht (etwa iZm Art 7 Abs 2 EuGVVO) bekannten Gedanken, die Zuständigkeit eines Gerichts uU auch nach der Sachnähe bestimmen zu können.
Während die Gerichtsmehrheit beteuerte, dass sie keine inhaltliche Aussage über die Verfassungsmäßigkeit von SB8 treffe und offen sei für „procedurally proper challenges to the Texas law”, vermuten manche, dass das Gericht Dobbs praktisch schon vorgegriffen und die zentrale Aussage von Roe unterminiert habe. Während dieses Verdikt möglicherweise verfrüht ist, wird mit Spannung zu erwarten sein, ob der Staat Texas sein (derzeit) klar verfassungswidriges Gesetz dauerhaft immunisieren können wird. Die Antworten auf diese Fragen wird der Supreme Court in den beiden hochkarätigen anhängigen Fällen Jackson und Dobbs im aktuellen Term (und somit spätestens nächsten Juni) geben.
Gärner, Christoph, Roman Friedrich, Whole Woman’s Health v. Jackson: Abortion rights erneut auf dem Prüfstand?, JuWissBlog Nr. 98/2021 v. 9.11.2021, https://www.juwiss.de/98-2021/.
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