von NIKOLAS KLAUSMANN

Die Erdgaspipeline Nord Stream 2 ist seit September 2021 fertiggestellt. Trotzdem darf sie nicht in Betrieb genommen werden. Erst hat die Bundesnetzagentur (BNetzA) darüber zu entscheiden, ob die Voraussetzungen einer hierfür notwendigen Zertifizierung vorliegen. Die Behörde prüft dabei, ob die energierechtlichen Entflechtungsvorgaben durch die Pipelinebetreiberin – die Nord Stream 2 AG – eingehalten sind. Darüber hinaus ist entscheidend, ob die Inbetriebnahme der russischen Gasleitung die Versorgungssicherheit Deutschlands und der Europäischen Union (EU) gefährdet. Die Behördenentscheidung darf mit Spannung erwartet werden ­– zumal sich kürzlich die wahrscheinlich bald an der Bundesregierung beteiligte Annalena Baerbock (Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen) gegen eine Zertifizierung aussprach. Daneben könnte das Zertifizierungserfordernis aber auch noch nachträglich durch gerichtliche Entscheidungen entfallen. Die Lage um die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 ist damit vor allem eines – unübersichtlich und komplex.

Schweinswal, Stockente und Haubentaucher

Im Jahr 2018 erteilte das Bundesamt für Schifffahrt und Hydrologie die Genehmigung zum Bau des umstrittenen Infrastrukturprojekts. Ein Jahr später erließ auch die zuständige Behörde in Dänemark den letzten noch fehlenden baurechtlichen Bescheid. Damit stand der baulichen Vollendung der Pipeline 2 nichts mehr im Wege. Bestanden war die sich aus Schweinswal, Stockente und Haubentaucher ergebende Bewährungsprobe (Wolf, ZUR 2007, 24). Bis zur Inbetriebnahme der Erdgaspipeline, welche durch die Ostsee vom russischen Ust-Luga bis nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern führt, wird es aber dennoch etwas dauern. Und das, obwohl die Betreiberin vor wenigen Tagen bekannt gab, den ersten Leitungsstrang bereits mit Gas befüllt zu haben. So meinen Kritiker*innen des Projekts – jüngst prominent Baerbock –, dass die Entflechtungsvorgaben des Energierechts einer Zertifizierung der Pipeline entgegenstehen. Die Folge dessen wäre für die Nord Stream 2 AG schwerwiegend. Der Betrieb wäre dann eine Ordnungswidrigkeit, welche ein Bußgeld in bis zu dreifacher Höhe des durch die Zuwiderhandlung erlangten Mehrerlöses nach sich ziehen kann (§ 95 Abs. 2 S. 1 EnWG).

Im Rahmen des Zertifizierungsverfahrens wird behördlich bestätigt, dass Netzinfrastruktur, zu der auch Gasleitungen zählen, regulierungskonform betrieben wird. Es handelt sich dabei um eine Vorgabe, die es bei entsprechenden Projekten parallel zu anderen Genehmigungserfordernissen zu beachten gilt. Der Europäische Gesetzgeber regelte im Rahmen seiner Liberalisierungspolitik um die Jahrtausendwende die Entflechtung von Transport und Handel von Strom und Gas: Erstmals schrieb im Jahr 1998 die Erdgasbinnenmarktrichtlinie (RL 1998/30) vor, dass Netze, betrieben durch ein vertikal integriertes Unternehmen, hinsichtlich Rechtsform, Organisation und Entscheidungsgewalt unabhängig von den übrigen Tätigkeitsbereichen des Unternehmens sein müssen. Dieser wirtschaftspolitische Gedanke wurden durch das zweite und dritte Binnenmarktpaket der EU in den Jahren 2003 (RL 2003/55) und 2009 (Rl 2009/73) weiter vorangetrieben, vor allem indem die Umsetzungsspielräume der Mitgliedstaaten verringert wurden. Grund des Regulierungsregimes ist, dass es sich bei Netzinfrastrukturen um natürliche Monopole handelt. Betreibern kommt daher eine besondere Marktstellung zu, welche sich leicht zum Nachteil von Verbrauchern ausnutzen lässt.

Entflechtungsvorgaben als Hürde

Die Nord Stream 2 AG hat zunächst versucht sich dieser Regulierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln zu entziehen (siehe hier und hier). Denn die Vorgaben stellen aus Betreibersicht Hemmnisse und Hürden dar. Zum Wohle eines funktionsfähigen Wettbewerbs auf dem Energiebinnenmarkt beschränken sie unternehmerische Freiheiten empfindlich und bürden Netzbetreibern Verpflichtungen auf. So wurde im Jahr 2019 eine Nichtigkeitsklage (Art. 296 AEUV) gegen die Änderung der RL 2009/73 angestrengt, welche erst deren sachlichen Anwendungsbereich vergrößerte, um letztlich auch Leitungsinfrastruktur zwischen der EU und Drittstaaten zu erfassen. Die Klage wurde erstinstanzlich durch den EuG als unzulässig wegen Fehlens unmittelbarer Betroffenheit abgewiesen. Eine Entscheidung des EuGHs steht aus. Jedenfalls dessen Generalanwalt hat aber der Auffassung des EuG vor wenigen Tagen widersprochen. Gleichzeitig erhob die Nord Stream 2 AG eine Schiedsklage vor dem Permanent Court of Arbitration, in der sie auf Basis der Energy Charter Treaty (ECT) sicherzustellen versucht, dass die geänderte RL 2009/73 nicht auf sie angewendet wird. Die EU hätte den Grundsatz der fairen und angemessenen Behandlung missachtet und dadurch Art. 10 Abs. 1 ECT verletzt. Auch hier ist es noch zu keiner Entscheidung gekommen. Zuletzt erfolgte ein dritter Anlauf: Im Januar letzten Jahres beantragte die Nord Stream 2 AG bei der BNetzA eine Regulierungsbefreiung (§ 28b EnWG) – ohne Erfolg.

Prüfungsmaßstab der Bundesnetzagentur

Nun hat die Nord Stream 2 AG im September 2021 – also doch – die Zertifizierung als sogenannter „unabhängiger Transportnetzbetreiber“ bei der BNetzA beantragt (§§ 4a und 4b EnWG). Ein Schritt, der auch als Abkehr von einer durch das Unternehmen lange und beharrlich vertretenen Rechtsauffassung eingeordnet werden kann. Die Behörde hat nach Einleitung des Verfahrens nun vier Monate Zeit, um einen Entscheidungsentwurf zu erstellen. Materielle Voraussetzung der Zertifizierung ist, dass die Schweizer AG, deren Anteile jedoch zu 100 Prozent der russischen öffentlichen Aktiengesellschaft Gazprom gehören, „selbständig“ ist. Die Verbindung zwischen Netz (Nord Stream 2 AG) und vertikal integriertem Unternehmen (Gazprom) soll hierfür auf ein Minimum reduziert sein. Im Detail regeln die §§ 10a bis 10e EnWG wie dies sicherzustellen ist. Der Gesetzgeber nimmt hierbei vor allem auf die finanziellen, personellen, technischen gesellschaftsrechtlichen Mittel Bezug, die einem unabhängigen Transportnetzbetreiber ausreichend zur Verfügung stehen sollen. Diesen Vorgaben nachzukommen wird für die beiden Unternehmen wohl kein unüberwindliches Hindernis darstellen, wenn auch vielleicht (schmerzhafte) Umstrukturierungen erfordern.

Prüfungsmaßstab des Bundeswirtschaftsministeriums

Ist aber gerade ein solcher Transportnetzbetreiber Antragsteller, welcher der Kontrolle von Personen aus Drittstaaten unterliegt, ist ein positiver Bescheid durch die BNetzA nur dann zu erteilen, wenn zusätzlich das BMWi feststellt, dass die Zertifizierung nicht die Sicherheit der Gasversorgung Deutschlands und der EU gefährdet. Diesbezüglich hat das BMWi neben Rechten und Pflichten der EU und Deutschlands gegenüber dem entsprechenden Drittstaat auch „andere besondere Umstände des Einzelfalles und des betreffenden Drittstaats“ (§ 4b Abs. 3 S. 2 EnWG) zu beachten. Ebenfalls ist eine Stellungnahme der Europäischen Kommission zu dem Vorliegen der Zertifizierungsvoraussetzungen einzuholen. Das Gutachten des BMWi stellt dabei eine „politische“ ex ante Bewertung der Versorgungssicherheit Deutschlands und der EU im Falle der Inbetriebnahme der Infrastruktur dar (obgleich die BNetzA betont, dass das gesamte Verfahren kein „politisches“ sei). Es handelt sich jedenfalls um eine äußerst komplexe Prüfung, die eine Vielzahl an wertenden Entscheidungen umfasst. Es kann daher an dieser Stelle nur sehr schwer im Voraus abgesehen werden wie das BMWi argumentieren und entscheiden wird.

Finale Feststellungen

Auch wenn nicht vorweggenommen werden kann, wie die Behördenentscheidung ausfallen wird, so können doch mehrere Feststellungen getroffenen werden: Jedenfalls die aktuelle gesellschaftsrechtliche Struktur Gazproms und der Nord Stream 2 AG dürfte zunächst gegen eine Zertifizierung sprechen. Allerdings bestehen wohl hier Möglichkeiten für die Unternehmen, den Anforderungen des europäischen und deutschen Energierechts nachzukommen. Auch dürfte im Rahmen der Begutachtung durch das BMWi die Frage relevant werden, wie sehr sich Gazproms – und damit Russlands – Einfluss als heute schon wichtigster Gasimporteur Deutschlands durch die Inbetriebnahme weiter intensivieren wird. Werden möglicherweise gefährliche Abhängigkeiten geschaffen? Andere oft genannten Argumente gegen die Pipeline finden dagegen im Rahmen der Behördenprüfung gerade keinen Eingang. Das sieht der Rechtsrahmen nicht vor. Zu denken ist hier etwa an die eskalatorische außenpolitische Rolle Russlands in der Ukraine und Syrien oder die Tatsache, dass fossile Erdgasinfrastrukturen in einer treibhausgasneutralen Zukunft Investitionsruinen darstellen könnten.

 

Klausmann, Nikolas, Nord Stream 2 am Scheideweg, JuWissBlog Nr. 99/2021 v. 8.11.2021, https://www.juwiss.de/99-2021/.

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Annalena Baerbock, Energierecht, Entflechtung, Erdgas, Nord Stream 2, Regulierung, Russland, Treibhausgasneutralität
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