von JAN-PHILIPP KRUSE
Selbst komplexe, interdisziplinär verzweigte Debatten blitzen manchmal komprimiert in den Fragen der Praxis auf: „Sollte eine Richterin ganz nüchtern oder nicht doch eher einfühlsam entscheiden?“ wäre so eine unscheinbare, zu einfach gestellte und zugleich monadische Frage, in der sich die einschlägigen Alltagsintuitionen zum Rechtsgefühl plötzlich gegenüberstehen.
Wie Terry Maroney im Verlauf der als Kolloquium bezeichneten Tagung RECHT FÜHLEN berichtet, hätten sich solche Vereinseitigungen bis heute nicht erledigt, sondern würden in Form von psychoregulatorischen Maximen der Urteilsfindung überdauern – der Richter, der sich ungeachtet all der Dystopien, die etwa einen richtenden Computer fürchten, trotzdem bemüht, seine Emotionen außen vor zu lassen; umgekehrt könnte man an spätromantische Tendenzen der Rechtswissenschaft denken, wie sie zum Beispiel für das 19. Jahrhundert dokumentiert sind.
Das Vorhaben, die dahinter steckende Opposition von Vernunft und Gefühl schon konzeptuell zu überwinden, steht daher nicht umsonst am Anfang der zweitägigen Konferenz. Bertram Lomfeld hat die ja auch in der Philosophie und Psychologie zirkulierende Forschung hierzu passgenau aufs Recht zugeschnitten und zum Auftakt entsprechend nach „Gefühle[n] und Gründe[n] im Recht“ gefragt.
Ästhetische Urteile
Dabei verweist gerade das spezifische Interesse am Recht wiederum auf allgemeine Fragen und vertieft diese, geht es doch um die Logik des Urteil(en)s. Thomas Hilgers exploriert diesen Zusammenhang, wenn er in seinem Vortrag über Kants „Kritik der Urteilskraft“ dessen Begriff eines ästhetischen Urteils rekonstruiert. „Aber was hat das jetzt mit dem Thema zu tun?“ lautet insofern eine unvermeidliche Nachfrage. Es hat etwas damit zu tun, weil zentrale Bestimmungen Kants frappierend zu dem passen, was man vom Rechtsgefühl ahnt. Wie bei der Erfahrung von Kunst stehen die Kategorien und Kräfte des juridischen Urteils wenigstens nicht von vornherein fest, sondern ‚spielen‘ miteinander. Es liegt eben keine Subsumption von Tatbeständen unter starre Deutungsformen vor, die notfalls auch von der schon angesprochenen Fiktion eines alexithymen Rechtsroboters bestritten werden könnte – sondern eine Lust an derjenigen Fügung des Materials, die als angemessen erscheint (wer Freude an Verschachtelungen hat, könnte das auch verwickelt ausdrücken und sagen, dass Kants Theorie des Urteils jenes Passungsgefühl beschreibt, das seine Theorie passend erscheinen lässt).
Aus diesen Anknüpfungspunkten, den systematischen und philologischen, lässt sich in der Tat eine klarere Forschungsagenda gewinnen. Rechtsgefühl wäre aus ihrer Warte nicht mehr Sammelbegriff und Chiffre für irgendwelche Empfindungen, die auch beim Richten irgendwie auftauchen, sondern das distinkte Losungswort für eine komplexe Theorie des Urteils.
Pathologien der Moderne
Nicht zuletzt der Rekurs auf Kant legt nahe, sein Augenmerk auf die Zeit um 1800 und damit die Diskursgeschichte des Begriffs „Rechtsgefühl“ zu lenken (Johannes Lehmann), durchs Schlüsselloch des Rechtsgefühls einen Blick auf die Formierung der Moderne und umgekehrt von den Zumutungen einer entfremdeten Moderne auf es zurück zu wagen.
Die Erfindung (oder Entdeckung?) der „Paranoia querulatoria“ als die Pathologie eines übersteigerten Rechtsgefühls (Rupert Gaderer) ist so eine Perspektive, welche die Entstellungen gesellschaftlicher Rationalisierung am Beispiel des Rechtsgefühls aufzeigt und uns so vom Gerichtssaal geradewegs in Kafkas „Schloss“ versetzt. Die historische Analyse ist wie so oft unheimlich aktuell: Wer erinnert sich nicht an die hessischen Steuerfahnder, denen Querulanz zu attestieren versucht worden ist?
Wie bei der Vernunft selbst muss man sich vom Standpunkt der Postmoderne vielleicht fragen, ob das Rechtsgefühl im Angesicht seiner von Herrschaftslinien durchfurchten Geschichte überhaupt noch zu retten ist. Eine dieser Linien identifiziert Sandra Schnädelbach mit gendertheoretischen Mitteln im 19. Jahrhundert. Gefühle müssten, so das Dispositiv, nicht rundheraus abgelehnt, wohl aber – mit einem glücklichen Anachronismus gesprochen – gemanagt werden; das vermöge der männliche Richter, nicht die angeblich zu flatterhafte Frau.
Dass es sich hierbei rückblickend offensichtlich um den Versuch einer Kompensation handelt, die sich gegen einen Verlust u.a. an empfundener Bedeutung wendet, der bereits eingesetzt hatte, eröffnet einen besonders interessanten Aspekt in der Diskussion ums Rechtgefühl, den man mit einem anderen, Freud’schen Anachronismus als psychodynamische Ichfunktion fassen könnte. Das Urteil schafft Ordnung und (frei nach Hölderlin) unterteilt: in der Kunst, indem es die Elemente, die sich gerade nicht dem Schematismus des Alltags fügen, (abwägend und stets vorläufig) organisiert; im Recht, wo die chaotische Fülle und Kontingenz des Lebens auf verallgemeinerbare Paragraphen trifft; in der Bewältigung der Moderne, deren stahlhartes Gehäuse diejenigen, die nicht Schritt halten können, so verbiegt, als wären ihre spitzkantigen Gartenzäune auf einmal weich geworden – die Hypertrophie des Rechtsgefühls als Überforderungssymptom.
Urteilskraft als Alternative?
Gleichzeitig gibt die konzeptuelle Renaissance des Rechtsgefühls Anlass zur Hoffnung.
So entzündet sich gegen Ende der Veranstaltung, unterirdisch verbunden mit den Vorträgen Susanne Kauls (Die teleologische Suspension des Rechtsgefühls) und Dagmar Ellerbrocks (Gefährliche Gefühle – gerechte Gefühle?), sogar noch einmal ganz unmittelbar ein Optimismus: Ist Recht ohne Gewalt denkbar? Vorstellungen einer Aufhebung des Rechts zugunsten versöhnlicher Gefühle oder eines gefühlvollen Rechts, das nicht so falsch liegen könne wie eine kalte, kalkulierende Vernunft, scheinen diesen abgeschiedenen Winkel der Theoriegeschichte aufzurufen.
Man kann es nicht zuletzt daran sehen, dass neben dem diskursanalytischen auch der späte Foucault bemüht wird (Florian Schmidt: Rechtsgefühl und Subjektkonstitution).
Das reflektierende Urteil, wie Kant es nennt, entgeht der Vernunftkritik, die das 20. Jahrhundert so maßgeblich geprägt hat, sofern es ja gerade nicht auf „blinder Subsumtion“ (Adorno), sondern auf der Entfaltung seiner Momente beruht, die diesen gerecht zu werden vermag.
Es dürfte jedenfalls auch mit jener unerhörten Sprengkraft zusammenhängen, dass die Frage nach dem Rechtsgefühl in so verschiedenen Disziplinen wie der Rechts- und Geschichtswissenschaft einerseits und der Ästhetik, Literatur- und Kunstwissenschaft andererseits produktiv verhandelt wird. Ungeachtet aller Unterschiede zeichnet sich auf der Berliner Tagung für einen Augenblick so etwas wie eine am phänomenalen Anker des Rechtsgefühls orientierte Theorie des Urteils ab – die Hoffnung (und auch das ist wiederum ein Anwendungsfall des Urteilens) auf eine Fügung, welche die verschiedenen Perspektiven koordiniert anstatt zu zerfasern.
Unverbindlichkeit des Urteils
Auf der anderen Seite hat, um noch einmal auf Kant zurückzukommen, das Urteil bereits dort einen prekären, höchst spannungsvollen Status. Es ist gewissermaßen nicht verbindlich und gleichzeitig entscheidend. Die Güte etwa eines Kunstwerks könnten wir bloß ansinnen: Stell Dich mal hierhin, sieh es mal so, bedenke den Kontext. Wer sich unserer Meinung dennoch nicht anschließen mag, würde sich ultimativ dem Verdacht aussetzen, am Ende gar kein Mensch zu sein. Trotzdem verfügten wir in diesem Fall gerade nicht über die Handhabe, die Kant in einer berühmten Passage der ersten Kritik („der reinen Vernunft“) zelebriert: unser Gegenüber argumentativ dazu zu bringen, „gestehen“ zu müssen.
Das Risiko der Unverbindlichkeit erweist sich, wie man wohl sagen darf, denn auch als größte, wenn auch in Schach gehaltene Gefahr fürs Kolloquium. Wo aber die Funken schlagen und die Ansätze zueinander finden, kann man die Umrisse einer erneuerten, polyphonen Theorie des Rechtfühlens ausmachen, oder, wie es im Musical heißt: Once more, with feeling.
[styledbox type=“general shaded“ align=“right“] Am 5. und 6. Juni veranstaltete der Berliner Sonderforschungsbereich 626 in Kooperation mit dem Dilthey Fellowship „Homo contractualis“ (WWU Münster) unter Federführung von Sigrid Köhler, Sandra Schnädelbach, Florian Schmidt und Sabine Müller-Mall ein interdisziplinäres Kolloquium zum Thema RECHT FÜHLEN veranstaltet. Es war aufgeteilt in die drei Sektionen Richten zwischen Vernunft und Gefühl, Sind Rechtsgefühle gefährlich? sowie Lust am Recht.[/styledbox]
Jan-Philipp Kruse ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Verfassungstheorie, Institut f. Politikwissenschaft, TU Dresden,lebt in Berlin und forscht u.a. zur Geschichte und Gegenwart Kritischer Theorie, zu Fragen der Normativität, des Urteilens und der Semantik.