von TOBIAS BRINGS-WIESEN und CHRISTIAN HELMRICH
An die in Teil 1 geschilderten Panels schloss sich die fast schon traditionelle gemeinsame Arbeit in Workshops an. Zur Auswahl standen den Teilnehmer*innen zehn verschiedene Foren in zwei thematisch gegliederten Arbeitsphasen. Deren Inhalte, alle am Tagungsthema „Dynamiken der Einwanderungsgesellschaft“ orientiert, drehten sich um die unterschiedlichsten aktuellen Probleme – mit praktischen oder wissenschaftlichen, juristischen oder sozialwissenschaftlichen Schwerpunkten.
Aktionismus – Aktuelle Rechtsreformen und -entwicklungen in der Einwanderungsgesellschaft
Im Workshop „Sozioökonomische Integration von Migrant*innen“ wurden zunächst von Alexandra Neukam, Bundesagentur für Arbeit (Regionaldirektion Baden-Württemberg), Bedarf und Angebot an Ausbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten verdeutlicht. Ein Großteil der Migrant*innen sei jung und gebe oftmals keinen Schulabschluss an. Eine formale Berufsausbildung sei vergleichsweise selten (was freilich dadurch relativiert werde, dass die wenigsten Länder ein duales Ausbildungssystem wie das deutsche eingeführt hätten). All diese Zahlen seien jedoch stark herkunftslandabhängig. Insgesamt aber – so Neukam – werde klar, dass das Heranführen der Migrant*innen an Ausbildung und Arbeitsmarkt eine der wichtigsten aktuellen Herausforderungen sei – nicht zuletzt, weil die Ausbildung bzw. Arbeit bei Geflüchteten auch die Traumabewältigung unterstützen könne. Im Anschluss ging Neukam auf die rechtlichen Grundlagen der Aufnahme von Ausbildung und Beschäftigung und deren Abhängigkeit vom jeweiligen Aufenthaltsstatus ein. Sie zeigte auch die zahlreichen Angebote der Bundesagentur für Arbeit auf: von der Kompetenzermittlung über Sprachkurse bis hin zum Ausbildungs- oder Arbeitsplatz. Der sozioökonomischen Integration aus betrieblicher Sicht widmete sich dann Dr. Stefanie Janzcyk, Ressortleiterin Allgemeine Sozial- und Arbeitsmarktpolitik bei der IG Metall und Verwaltungsratsmitglied der Bundesagentur für Arbeit. Sie identifizierte vor allem zwei Problemfelder: Erstens bestehe durch die notwendige Integration von Migrant*innen die Gefahr, dass Sozialstandards allgemein abgesenkt würden. Das zeige z.B. die Debatte um die Mindestlohnausnahmen. Zweitens sperre sich in den Betrieben regelmäßig ein substantieller Anteil der Beschäftigten gegen die Integration von Migrant*innen, insbesondere Geflüchteten. Eine über Jahrzehnte problematische Sozialpolitik treffe nun auf neue Herausforderungen. Das führe oftmals zum Gefühl, vergessen worden zu sein – was wiederum in Ablehnung der Migrant*innen münde. Um dem zu begegnen, schlug Janczyk insbesondere vor: Arbeitgeber*innen sollten eng mit den jeweiligen Betriebsräten zusammenarbeiten und die Einstellung von Geflüchteten nicht in großen Betriebsversammlungen thematisieren, sondern in kleinen Gruppen. Außerdem müssten Begegnungen der bereits Beschäftigten mit Geflüchteten gefördert werden. Anschließend stellte sie zwei Modelle vor, mit denen Geflüchtete in Ausbildung bzw. Arbeit gebracht werden könnten. Die Modelle seien von der IG Metall erarbeitet worden und mit der Bundesagentur für Arbeit abgestimmt. Insbesondere basierten sie ausschließlich auf bereits bestehenden Förderinstrumenten. So solle Arbeitgeber*innen die Beschäftigung von Geflüchteten möglichst niedrigschwellig ermöglicht werden. Die anschließende Diskussion drehte sich in erster Linie um gesellschaftliche Widerstände gegen die sozioökonomische Integration Geflüchteter und verdeutlichte so noch einmal die enorme Praxisrelevanz des Themas.
Im Workshop „Das Integrationsgesetz und andere aktuelle Gesetzesänderungen im deutschen Aufenthalts- und Asylrecht – Historie, Debatten, Auswirkungen“ gab Anna-Lena Schuster aus dem Arbeitsstab der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration einen Einblick in die Genese des Anfang August in Kraft getretenen Integrationsgesetzes als vorerst letzten Reaktionsbaustein der Bundesregierung. Sie wies darauf hin, dass der Gesetzgeber geleitet von der Einsicht einer faktischen Bleibeperspektive vieler Betroffener erstmalig ernsthaft deren Integration ins Zentrum seiner Maßnahmen gestellt habe. Mit dem Ergebnis zeigte Schuster sich hingegen nur bedingt zufrieden, da angesichts des hohen Beratungstempos ein Input staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen kaum sinnvoll möglich gewesen sei und dem Gesetzgeber in der Sache letztlich einige Fehler unterlaufen seien, die es zeitnah auszubessern gelte. Kerstin Becker vom Paritätischen Wohlfahrtsverband kritisierte, dass die Änderungen durch die Fokussierung von Sanktionen im Falle einer vermeintlich fehlenden Integrationsbereitschaft nicht nur unberechtigterweise den Eindruck vermittelten, dass die Menschen mehrheitlich keinen Wunsch nach Integration hätten, sondern auch die wahren praktischen Probleme des Arbeitsmarktzugangs und der Ausbildung unberücksichtigt ließen. Die Unterscheidung der Menschen am Maßstab einer „guten Bleibeperspektive“ versperre für eine Mehrheit der Betroffenen den Zugang zu Integrationsmaßnahmen und verweise sie auf den ungleich schwierigeren Weg einer „nachholenden Integration“. Besonders positionierte sich Becker gegen die neue Vorschrift zur Wohnsitzauflage (§ 12a AufenthG): Die praktischen Konsequenzen durch deren Rückwirkung konnten in Gesprächen mit den Bundesländern – mit Ausnahme von NRW – zwar weitgehend abgefedert werden, gleichwohl gehe man hinsichtlich der gesetzlichen Verpflichtung zur Wohnsitznahme im nach dem Königsteiner Schlüssel zugewiesenen Bundesland von der Rechtswidrigkeit der Vorschrift aus. Bernward Ostrop von der Caritas verwies darauf, dass das eigentliche Integrationshindernis auch nach dem Gesetz weiterhin in der Verfahrenslänge liegen werde. Im Besonderen bezog Ostrop Stellung zur neuen Ausbildungsduldung (§ 60a Abs. 2 S. 4 ff. AufenthG): Diese sei in ihrem Ansatz eine gute Idee; problematisch sei jedoch, dass die Regelung durch rechtlich fragwürdige Vollzugshinweise des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, die auch vom Bundesministerium des Innern aufgegriffen worden seien, de facto leer liefe. In der Gruppe diskutierten die Teilnehmer*innen anschließend die Frage der Operationalisierbarkeit des Kriteriums der „guten Bleibeperspektive“ und die Notwendigkeit eines weiteren Umdenkens des Gesetzgebers im Hinblick auf das Thema Integration. Schuster hingegen riet dazu, sich angesichts der aktuellen Grundstimmung innerhalb der Bundesregierung besser auf weitere Verschärfungen vorzubereiten.
Die Akteure in der Einwanderungsgesellschaft
Der Workshop „Aktion kontra Aktionismus – effektive Rechtsvertretung in dynamischer Zeit“ befasste sich mit den Herausforderungen an die rechtsberatende Praxis durch sich verändernde rechtliche und gesellschaftliche Umstände. Maria Bethke, Diakonie Hessen-Nassau, und Rechtsanwalt Dr. Jonathan Leuschner nahmen die Teilnehmer*innen mit auf einen Rundgang durch einige der wichtigsten aktuellen Gesetzesänderungen im Asyl- und Migrationsrecht: von der Verlängerung der Verpflichtung, in der Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen (§ 47 AsylG), über die bundesweite Verteilung von unbegleiteten Minderjährigen (§§ 42a ff. SGB VIII) und die Sanktionen bei „Nichtbetreiben des Verfahrens“ (§ 33 AsylG) bis hin zur temporären Aussetzung des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten (§ 104 Abs. 13 AufenthG) in Verbindung mit der geänderten Entscheidungspraxis des BAMF – um nur einige wenige zu nennen. So wurde deutlich, dass das Asyl- und Migrationsrechts in weiten Teilen Verschärfungen erfahren hat, auf die die rechtsberatende Praxis reagieren muss. Als positive Entwicklungen führten Bethke und Leuschner – nicht unwidersprochen – die Ausbildungsduldung und das temporäre Aussetzen der Vorrangprüfung in den meisten Agenturbezirken (§ 32 Abs. 5 BeschV) an. Bethke und Leuschner beließen es jedoch nicht bei einem Überblick über die Gesetzeslage, sondern bezogen auch die Verwaltungspraxis mit ein. Thematisiert wurden z.B. das Ausbildungsniveau der Entscheider*innen und Dolmetscher*innen, die Trennung von Anhörung und Entscheidung sowie die Clusterbildung zur Verfahrensbeschleunigung. Das alles, so Bethke und Leuschner, führe zu einer „Pulverisierung von Standards“. Abschließend wurde auf die „neuen“ Akteure auf dem Gebiet der Beratung Geflüchteter eingegangen, insbesondere Ehrenamtliche. Für die Zukunft regten die Referentin und der Referent an, sich noch stärker zu vernetzen, mehr Schulungen für Ehrenamtliche anzubieten, „strategische Gerichtsverfahren“ in den Blick zu nehmen und eine „zentrale Beschwerdestelle“ einzurichten, um einen genaueren Überblick über problematische Entwicklungen erlangen zu können. Während des gesamten Rundgangs reicherten die anwesenden Rechtsanwält*innen die Ausführungen der Referentin und des Referenten mit eigenen Einschätzungen und praktischen Erfahrungen an. Deutlicher lässt sich der herausragende Wert der Vernetzung wohl kaum darstellen.
Im Workshop „Die Rolle internationaler Menschenrechtsforen und ihrer ‚Kläger‘ als Akteure in der europäischen Einwanderungsgesellschaft“ diskutierten die Teilnehmer*innen mit Rechtsanwältin Julia Kraft, Barrister Stephanie Motz und Rechtsanwalt Carsten Gericke die Bedeutung strategischer Prozessführung in ihrer gestaltenden, aber auch begrenzenden Wirkung für rechtliche und gar politische Entwicklungen anhand der Erfahrungswerte der Praktiker*innen vor dem EGMR, dem CAT- und dem CEDAW-Ausschuss. Kraft stellte fest, dass die Anstrengung eines Beschwerdeverfahrens vor dem EGMR in der deutschen Anwaltschaft weiterhin Seltenheitswert habe, dass dessen Wirkung auf die deutschen Richter aber – gerade in Konstellationen, in denen Rechtsschutz auf dem nationalen Rechtsweg nicht mehr zu erlangen ist – nicht zu unterschätzen sei. Motz verwies darauf, dass es erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Foren gebe, die es unbedingt zu beachten gelte – zum einen in rechtlicher Hinsicht, was Verfahrensvoraussetzungen und Entscheidungswirkung betreffe; zum anderen aber auch in praktischer Hinsicht in Bezug auf Fragen der Außenwahrnehmung der Verfahren. Gericke erläuterte am Beispiel von „Push Backs“ in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla das Vorgehen in Fällen der strategischen Prozessführung unter Mitarbeit des ECCHR. Er machte deutlich, dass ein solches strategisches Vorgehen über die bloße Skandalisierung hinausgehe und trotz seiner oftmals langwierigen Dauer das Potenzial habe, Änderungen zu erreichen, die auf dem politischen Wege national undenkbar wären. Dabei ermögliche die Einbindung in ein Netzwerk starker Partner es nicht nur, Problemen bei der Beweisführung zu begegnen, sondern auch gemeinsam die passende Kommunikationsstrategie zu verfolgen. Im Plenum diskutierten die Teilnehmer*innen des Workshops u.a. die Wirkung politischer Brisanz von Themen auf die Entscheidungspraxis der Foren und deren Nutzen für die strategische Prozessführung sowie die Relevanz der Gefahr des „bad precedents“ auf die Entscheidungen der Praktiker*innen.
Der Blick in den Spiegel: 10 Jahre Netzwerk Migrationsrecht – und nun?
Nach den Workshops fand sich das Netzwerk am Samstagabend in einer Fishbowl-Diskussion zum Thema „10 Jahre Netzwerk Migrationsrecht: ‚Out of the box‘: Netzwerkarbeit weiterdenken“ ein. Die Mitglieder des Netzwerks blickten gemeinsam mit den übrigen Teilnehmer*innen zurück und identifizierten die Vorteile des Status quo: Die flache Hierarchie, die niedrigschwelligen Methoden des unkomplizierten und schnellen Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis und die Funktion des Netzwerks als Treff- und Ausgangspunkt gemeinsamer Projekte wurden als die prägenden und zu erhaltenden Merkmale identifiziert. Gleichwohl erkannte man auch Optimierungspotenzial: In einer gewandelten Landschaft von Institutionen und Initiativen, die sich dem Thema Migration widmen, müsse das Netzwerk auch zum Teil neu vernetzt werden. Dazu wurde mehrfach angeregt, das Netzwerk noch einmal geographisch und fachlich breiter sowie in alle Richtungen bewusst inklusiver aufzustellen. Ein potentieller Ausbau der Netzwerkaktivitäten in die Bereiche strategischer Prozessführung und/oder (rechts-)politischer Intervention wurde hingegen kritisch diskutiert. Obgleich sich die Mitglieder einer gemeinsamen Haltung bewusst zeigten, favorisierte die Mehrheit der Anwesenden eine subtilere Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse, die durch die Mitglieder und ihr Wirken individuell erfolgen solle.
Empowerment und Selbstorganisation von Flüchtlingen und Migrant*innen in der Einwanderungsgesellschaft
Das vierte Panel öffnete die Tagung am Sonntag für die unmittelbare Perspektive von Migrant*innen. Larry Moore Macaulay stellte die Idee und das Wirken des von ihm gegründeten und als Chefredakteur geleiteten Refugee Radio Network vor. Dessen Ziel sei es, Geflüchteten eine Stimme und die Chance zu geben, ihre persönliche Geschichte selbst zu erzählen, um so deren soziale Isolation zu beenden und den Eindruck von und den gesellschaftlichen Narrativ über Migrant*innen zum Besseren zu verändern.
Eine andere Form der Selbstorganisation und des Empowerments präsentierte Ashti Amir von der Schweizer Initiative Syriaid, einer u.a. von syrischen Migrant*innen gegründete Gruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Leid der syrischen Binnenflüchtlinge durch gezielte Hilfsaktionen vor Ort zu lindern. Amir verdeutlichte auch, dass es wichtig sei, vor Ort Fehlinformationen zu korrigieren und den Menschen ein realistisches Bild von den Chancen einer Flucht nach Europa zu vermitteln. Beide Referenten machten deutlich, dass Empowerment insofern eine Medaille mit zwei Seiten sei: dem Dialog in der neuen Community und der Kontakt zu den Menschen „zu Hause“.
The elephant in the room: What fate for the European migration area?
Zum Abschluss der Tagung widmeten sich Caoimhe Sheridan von ECRE, Dr. Violeta Moreno-Lax von der Queen Mary University London und der Referent für Migrationspolitik Christoph Tometten im Büro des MdB Volker Beck in einer Podiumsdiskussion der Frage, welche Motive und Leitlinien die EU-Flüchtlingspolitik in der Zukunft prägen sollten und werden. Moreno-Lax kritisierte, dass durch die GEAS-Krise „Zwang“ als Leitmotiv eingeführt, durch die von der EU gewählten Eilmaßnahmen normalisiert und durch die neuen Reformpakete weiter institutionalisiert werde. Es müsse zu einem Umdenken kommen – zurück zu einer Beachtung der Menschenrechte und der Würde der Schutzsuchenden unter strenger Beachtung aller Elemente der Rechtsstaatlichkeit, allem voran der Möglichkeit der Schutzsuchenden, von ihren Rechten effektiv Gebrauch zu machen. Sheridan übte Kritik an mehreren Elemente des aktuellen und wohl zukünftigen acquis des GEAS: dem allgemein strafbewehrten Ansatz, der Auslagerung von Verantwortlichkeit unter fortgehender Etablierung des Grundsatzes der „sicheren Drittstaaten“, dem Mangel an Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und die unangebracht personell-differenzierenden Ansätze in der Integration von Schutzsuchenden. Tometten schloss sich diesen Punkten an und gab darüber hinaus zu bedenken, der politisch fragwürdige EU-Türkei-Deal führe nicht nur zu einer Erosion individueller Rechte und demokratischer Verfahren, sondern könne auf lange Sicht andere Bereiche des Menschenrechtsschutzes in Mitleidenschaft ziehen. In der abschließenden Diskussion waren sich die Teilnehmer*innen einig, dass es zum einen einer neuen Art des öffentlichen Diskurses bedürfe, der nicht „von oben herab“, sondern plausibel und auf Augenhöhe das Phänomen Migration erkläre und den Menschen verdeutliche, dass es sich bei Menschenrechten nicht um Sonderrechte von Schutzsuchenden, sondern unser notwendiges gesellschaftliches Fundament handele. Zum anderen diskutierte das Plenum die Chancen der Schaffung neuer Anreize für Mitgliedstaaten zur Förderung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.
Die 11. Tagung des Netzwerks Migrationsrecht im kommenden Herbst 2017 wird sich voraussichtlich den Herausforderungen des Rechts durch Massenmigration widmen.