von RAFAEL HÄCKI
Zumindest insofern hat Wittgenstein Recht: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Es wäre im besten Fall spekulativ, sich an dieser Stelle aus juristischer Sicht prospektiv über die Folgen der angenommenen Masseneinwanderungsinitiative zu äussern. Innerstaatlich verbleiben drei Jahre, die Einzelheiten in Ausführungsbestimmungen zu regeln und in Kraft zu setzen (Art. 121a Abs. 5, Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV). International dürfen widersprechende Verträge nicht abgeschlossen werden; bestehende widersprechende Verträge sind innert drei Jahren neu zu verhandeln und anzupassen (Art. 121a Abs. 4; Art. 197 Ziff. 9 Abs. 1 BV). Somit stehen sowohl innerstaatliche Umsetzung als auch internationale Wirkung am Ende mehrjähriger politischer Prozesse. Als Staatsrechtler könnte ich zurzeit allenfalls deren Rahmenbedingungen nachzeichnen, nicht aber deren Ausgang skizzieren.
Sinnvoller erscheint mir, retrospektiv die Voraussetzungen der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zu untersuchen. Mein geschätzter Kollege Dominik Elser hat in seinem Beitrag „Wir sind souverän, wir schotten uns ab!“ eine solche Analyse vorgelegt. Allerdings halte ich deren Prämissen für ungenau, die daraus gezogenen Schlüsse für falsch und deren Implikationen für gefährlich.
Freiheitlicher Staat und deliberative Demokratie verlassen sich auf eine funktionierende politische Debatte
In einem ersten Schritt ist die Prämisse zu präzisieren, dass die Verfassung kaum materielle Schranken der Verfassungsgebung kenne. Als materielle Schranken fungieren lediglich die faktische und die rechtliche Durchführbarkeit; einzig Abstimmungen über in der Folge faktisch bzw. rechtlich gar nicht durchführbare Vorlagen sollen verhindert werden. De iure existiert daher – abgesehen von der faktischen Durchführbarkeit – eine einzige materielle Schranke: Revisionen dürfen „zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“ nicht verletzen (Art. 139 Abs. 3, Art. 193 Abs. 4, 194 Abs. 2 BV). Verkürzt: Die Bundesverfassung kennt keine autonomen materiellen Schranken.
So trifft die Ausführung nicht zu, dass in den letzten Jahren verschiedene Initiativen die inhaltlichen Schranken „immer weiter ausgereizt“ hätten. An dieser Stelle muss der Hinweis genügen, dass weder Verwahrungs-, noch Minarett-, noch Masseneinwanderungsinitiative auch nur annähernd in den Bereich zwingender Bestimmungen des Völkerrechts vorgedrungen sind.
So trifft auch die Ausführung nicht zu, dass „die Verfassung“ davon ausgehe, das Stimmvolk werde nicht alles tun, was es staatsrechtlich darf. Initiativen zielen definitionsgemäss auf die Änderung der Verfassung, wobei jederzeit der gesamte Verfassungsinhalt zur Disposition steht. Etwa die Missachtung verfassungsinhärenter Prinzipien und die Verletzung nichtzwingenden Völkerrechts nimmt die Verfassung in Kauf. Insofern erwartet die Verfassung vom Stimmvolk nichts – sie sieht jeder (Teil- oder Total-)Revision mit der Gelassenheit einer Stoikerin entgegen, die weder an Leib noch Leben hängt. Wo aber keine Erwartungen der Verfassung an das Stimmvolk sind, können auch keine solchen enttäuscht werden.
Hingegen lebt meines Erachtens die Schweiz als freiheitlicher, säkularisierter Staat von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann (Böckenförde). Sie setzt eine demokratisch-rechtsstaatliche Gesinnung des Stimmvolkes bei der Verfassungsgebung voraus; diese kann sie aber nicht von sich aus – d.h. durch Rechtszwang und autoritatives Gebot – sicherstellen, ohne ihre Freiheitlichkeit zu verlieren. Der Staat Schweiz ist jedoch nicht mit seiner Verfassung gleichzusetzen. So kann grundsätzlich eine – über die Reduktion des Staats auf die Rechtsordnung (Kelsen) hinausgehende – These der Identität des Staats mit der Verfassung weder aus rechtstheoretischer noch aus rechtsdogmatischer Sicht überzeugen. Aus staatstheoretischer Sicht ignoriert sie die zentrale Rolle der nicht verfassungsrechtlich institutionalisierten Kräfte – insbesondere der (Massen-)Medien als Vierte Gewalt – in einer deliberativen Demokratie. Womit ich zum nächsten Punkt komme:
Volk vs. politisch-gesellschaftliche Kräfte
Zwar trifft die Ausführung zu, dass die politisch-gesellschaftlichen Kräfte wie Parteien und Verbände laut offizieller Parole zur Masseneinwanderungsinitiative überwiegend ein Nein erreichen wollten. Die Medien zeigten aber auf, dass offizielle Parolen nicht zwingend mit durchgehender Ablehnung des Begehrens gleichzusetzen sind. Das offizielle „Nein“ relativiert sich vor dem Hintergrund, dass etwa der Präsident der FDP seine nationale Politkarriere mit einer Initiative „für eine Regelung der Zuwanderung“ (max. 18% Ausländeranteil) gestartet hatte (Ende 2012: 23.3% Ausländeranteil), oder dass etwa einige der mitgliederstärksten Kantonalsektionen des Schweizerischen Bauernverbandes offensiv für ein Ja warben.
Selbst wenn man vorliegend das Auseinanderfallen von offizieller Parole der politisch-gesellschaftlichen Kräfte und möglichem Stimmverhalten deren Mitglieder ausser Acht lässt, gilt es grundsätzlich zu bedenken: Die Volksinitiative ist verfassungsrechtlich gerade als Oppositionsinstrument der Bürgerinnen und Bürger konstruiert, um gegen den Willen der etablierten und institutionalisierten politisch-gesellschaftlichen Kräfte Verfassungsrevisionen erwirken zu können. Es ist somit verfassungsinhärent und gerade bewusst angelegt, dass die Meinung der genannten Kräfte und des Stimmvolkes divergieren können. Auch deshalb halte ich die These, das Schweizer Stimmvolk betreibe Demokratie auf eine Art und Weise, wie das die Verfassung nicht erwartet habe, grundsätzlich für falsch.
So mag die Ausführung zutreffen, dass gemäss Verfassung die politischen Parteien an der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mitwirken. Im öffentlichen Diskurs machen und transportieren aber primär Massenmedien die öffentliche und veröffentlichte Meinung. Im Vorfeld der Abstimmung liessen weder die der Masseneinwanderungsinitiative geneigten Kampagnen gewisser Medienhäuser, noch die mediale Zurückhaltung der Gegner, noch die in Umfragen und Kommentaren immer stärker durchdringende Sympathie des Stimmvolkes eine Annahme als grosse Überraschung erscheinen. Zwar vertraten etwa sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmerorganisationen offiziell ein Nein; mediale Äusserungen von Frau und Herr Schweizer zeigten aber auf, dass die Masseneinwanderungsinitiative durchaus als Mittel angesehen wurde, um in einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld unliebsame Konkurrenz systematisch zu beschränken. Auch unter diesem Blickwinkel kann von enttäuschter Erwartung der Verfassung oder der direkten Demokratie keine Rede sein. Allenfalls hat das Abstimmungsresultat falsche Erwartungen der politisch-gesellschaftlichen Kräfte enttäuscht. Dies führt zu meinem letzten Punkt:
Eine Herausforderung für die politische Debatte über rechtliche Fragen
Aber selbst wenn Dominiks These, dass sich die direkte Demokratie mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative in einer Krise im Sinne einer enttäuschten Erwartung befinde, zutreffend wäre: Diesfalls wäre seinem Beitrag eine seiner zentralen Aussagen entgegenzuhalten: „Wenn eine Erwartung einmal enttäuscht wurde, macht es keinen Sinn an ihr festzuhalten.“ Demnach hätte die skizzierte Erwartung an eine politische Debatte schon lange zuvor aufgegeben und an die Masseneinwanderungsinitiative gar nicht mehr gestellt werden dürfen:
- Sollte nämlich eine Enttäuschung darin erblickt werden, dass das Stimmvolk über rechtliche Fragen entschieden habe, ohne die rechtlichen Konsequenzen genügend zu bedenken: Das gilt grundsätzlich für alle Symbolinitiativen, zuletzt 2009 die Minarettinitiative. Das gilt meines Erachtens ebenso grundsätzlich für vermeintlich klare Begehren in juristisch komplexem Umfeld, etwa für die (nach 20 Jahren immer noch nicht umgesetzte) Alpeninitiative oder zuletzt die Zweitwohnungs-, die Ausschaffungs- und die Abzockerinitiative.
- Sollte nämlich eine Enttäuschung darin erblickt werden, dass die politische Debatte versagt habe, weil eine Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte die Nein-Parole beschlossen und die Abstimmung verloren hat: Bereits die allererste, u.a. von Antisemiten lancierte Schächtverbotsinitiative wurde 1893 entgegen der Empfehlung von Bundesrat und Parlament angenommen. In jüngerer Vergangenheit lieferten 2004 die Verwahrungsinitiative und 2009 wiederum die Minarettinitiative Paradebeispiele dafür, dass überwiegende Ablehnung durch politisch-gesellschaftliche Kräfte (siehe hier bzw. hier) und in Meinungsumfragen keineswegs auf eine Ablehnung an der Urne schliessen lassen.
Nach dem Gesagten ist die These, dass sich die direkte Demokratie nun mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative in einer Krise im Sinne einer enttäuschten Erwartung befinde, falsch. Vielmehr sehe ich die direkte Demokratie spätestens seit Annahme der Verwahrungsinitiative 2004 vor eine Herausforderung gestellt. Nicht nur für grundsätzlich falsch, sondern auch für gefährlich halte ich daher den Schluss, die Erwartung an die politische Debatte sei nun halt enttäuscht worden, weshalb es nicht sinnvoll sei, weiterhin daran festzuhalten. Weil das Stimmvolk die rechtlichen Konsequenzen bei der Masseneinwanderungsinitiative nicht genügend bedacht habe, soll es ab nun die rechtlichen Konsequenzen bei Initiativen grundsätzlich ausser Acht lassen?! Hafächääs! Vielmehr sehe ich die ideale politische Debatte als regulative Idee, welcher sich die praktische politische Debatte soweit möglich annähern muss. Gelingt das in bestimmten Fällen weniger gut, so muss dies doch gerade Ansporn zur weiteren Verbesserung der praktischen politischen Debatte sein (erste Ansätze dazu an erwähnter Stelle). Keinesfalls darf ein solcher Mangel aber Anlass bieten, um aus Enttäuschung fundamentale Anforderungen an die praktische politische Debatte für Makulatur zu erklären.
Nach der Initiative ist vor der Initiative
Bei allen Differenzen über Krisen und Herausforderungen – einig gehe ich insofern, als die politische Debatte im Rahmen von Volksabstimmungen qualitative Defizite aufweist. Hier nur soviel: Weitergehende Beiträge der Berner Fraktion zum Thema sind auf diesem Blog in absehbarer Zeit nicht auszuschliessen…
8 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Vielen Dank für deine Entgegnung, Rafael. Ich lese deinen Beitrag als notwendige Ergänzung meiner Thesen, denn soviel Widerspruch ist zwischen uns nicht. (Jetzt folgt emsiges Zurückkrebsen:)
Die falschen Schlüsse und gefährlichen Implikationen sind meinem undeutlichen Ausdruck verschuldet. Ich wollte keineswegs sagen, das Stimmvolk solle künftig die rechtlichen Konsequenzen bei Initiativen grundsätzlich ausser Acht lassen. Im Gegenteil: Die funktionierende politische Debatte über rechtliche Fragen muss wieder hergestellt werden. Sonst funktioniert unser politisches System nicht. Sonst drohen die politischen Mitbestimmungsrechte eingeschränkt zu werden. Genau davor wollte ich in meinem Beitrag eigentlich warnen: Das Instrument Volksinitiative funktionierte, und sollte nicht eingeschränkt werden. Das hätte ich deutlicher machen müssen.
Du hast recht, meine Schlussfolgerungen beissen sich mit meiner Aussage „Wenn eine Erwartung einmal enttäuscht wurde, macht es keinen Sinn, an ihr festzuhalten.“ Damit meinte ich folgendes: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Kultur der politischen Debatte in der Schweiz in einem desolaten Zustand ist. So desolat, dass kleine Reparaturen nicht ausreichen; das wäre unzureichendes Festhalten an der enttäuschten Erwartung. Die Debatte muss vielmehr grundlegend neu aufgestellt werden. Und zwar mit dem Ziel, wieder so zu funktionieren, dass „problematische“ Volksinitiativen – solche mit massiven Umsetzungsschwierigkeiten, materielle Schranken hin oder her – seltener angenommen werden. Das wäre also ein Festhalten an der Erwartung, aber mit grosser Geduld: Es wird lange dauern, bis die Debattenkultur wieder besser funktioniert.
Und zu den gesellschaftlichen Kräften: Wenn eine grosse Mehrheit der zivilgesellschaftlichen und Wirtschafts-Organisationen dieselbe Parole beschliessen, aber die Abstimmung verlieren, hat unser Staat ein Problem. Natürlich ist der Staat mehr als seine Verfassung: Er ist in erster Linie ein Organisationsgefüge einer Gesellschaft. Dafür dass sich die Gesellschaft geordnet in den politischen Prozess einbringen kann, sollten die „gesellschaftlichen Kräfte“ sorgen. Diese Ordnungswirkung haben sie –hoffentlich nur vorübergehend – verloren. Ich teile deine Ansicht, dass diese Organisationen zum Teil eine Parole beschlossen haben, hinter der sie nicht wirklich standen. Gerade der FDP war ihre Nein-Haltung nicht zu glauben. Aber auch das ist ein Debatten-Problem: Die Organisationen, die Ordnung in die öffentliche Debatte bringen sollten und mit ihren Parolen eine Leitwirkung entfalten sollten, konnten dies nicht.
Die übrigen Differenzen besprechen wir in einer Kaffeepause, soviel offline muss sein.
Als Hintergrund:
Ich sehe die Herausforderung im Kern darin, dass die Schweiz leider kein liberaler Staat ist, sondern eine republikanische Auffassung vorherrscht, wonach im Zweifelsfall das Demokratie- dem Rechtsstaatsprinzip vorgeht. Das im Titel überzeichnete Selbstbild des Stimmvolkes als ungebändigter Souverän teile ich nicht. Ich sehe den Souverän einer Demokratie definitionsgemäss als an gewisse materielle Prinzipien gebunden an. Politisch ist das zurzeit aber nur äusserst schwer zu verkaufen.
So hat es die SVP im letzten Jahrzehnt geschafft, die politische Debatte an sich zu reissen und nach ihrem Geschmack zu gestalten. Heute gibt sie fast widerspruchslos den Sprachgebrauch vor. Insbesondere herrscht gerade in den (ehemals staatstragenden und teils noch) bürgerlichen Parteien Angst davor, der Überhöhung des Souveräns entgegenzutreten. Offenbar herrscht die Auffassung vor, es sei politischer Selbstmord, die Auswüchse der heiligen Kuh „direkte Demokratie“ auch nur in entferntester Weise zu kritisieren oder den sakrosankten Volkswillen begründet zu hinterfragen. Jegliche Versuche in die Richtung, den Souverän selbst zur Beachtung grundlegendster Pfeiler seiner eigenen Rechtsordnung zu bewegen, scheinen so zum Vornherein zum Scheitern verurteilt. Besonders eindrücklich hat sich dies bei den Reformversuchen der Volksinitiative nach einigen problematischen Initiativen (Verwahrung, Einbürgerung, Minarett, Ausschaffung) gezeigt: Diverse Alibivorschläge wurden ausgearbeitet und jeweils mit dem ausdrücklichen Hinweis präsentiert, dass sie die direktdemokratischen Rechte nicht oder nur äusserst minim tangieren würden. Der Direktor des Bundesamts für Justiz sah sich gezwungen, als grossen Vorteil dieser Vorschläge herauszuheben, dass sie in keinem der erwähnten problematischen Fälle irgendeine Wirkung erzielt hätten und daher das Stimmvolk auch nicht einschränken würden. Wenn aus Angst vor dem Volk aber nur untaugliche Lösungsversuche zur Diskussion gebracht und deren Wirkungslosigkeit als Hauptargument vorgebracht wird, liegt in der politischen Diskussion einiges im Argen. Wie auch im Beitrag durchdringen dürfte, sehe ich auch daher irgendwelche Reformen – sprich Ausweitungen – der materiellen Schranken grundsätzlich nicht als Option.
Hingegen erscheint es mir unter Umständen erfolgsversprechender, bei den formellen Schranken – d.h. der freien politischen Willensbildung und Willensäusserung – anzuknüpfen. Ich denke, hier liegt einiges Potential brach, um dem Stimmvolk vor der Abstimmung klar zu machen, worüber es genau abstimmt und was jeweils die möglichen Folgen einer Annahme/Ablehnung sein dürften.
So, ich schreibe jetzt hier etwas, was ich eigentlich nicht schreiben wollte:
Wie kommt ihr eigentlich auf die Idee, dass die politische Debatte nicht funktioniert hat?
Das Einzige, was ihr dafür aufbringt, ist das Ergebnis der Abstimmung. D. h.: Hätten 0,3% weniger Schweizer „falsch“ abgestimmt, dann htte die politische Debatte funktioniert?
Ich will hier niemandem persönlich vor den Karren fahren, aber ich finde die hier und woanders (hallo Stefan!) vertretenen Positionen geradezu herablassend. Jeder singt das hohe Lied der Deomkratie nur, wie es zu linken Positionen passt und danach muss dem Volk aber eins mit dem Rechtsstaatsprinzip gegeben werden, dass es wieder spurt?
„Hingegen erscheint es mir unter Umständen erfolgsversprechender, bei den formellen Schranken – d.h. der freien politischen Willensbildung und Willensäusserung – anzuknüpfen. Ich denke, hier liegt einiges Potential brach, um dem Stimmvolk vor der Abstimmung klar zu machen, worüber es genau abstimmt und was jeweils die möglichen Folgen einer Annahme/Ablehnung sein dürften.“
Die beiden Teile dieses Absatzes scheinen nicht zueinander passen zu wollen: Der erste sagt nur leicht rechtlich verblümt: Ei, wenn das Volk falsch abstimmt, dann nehmen wir ihm halt die Abstimmung weg. Der zweite gibt die Möglichkeiten wieder, die auch jetzt schon bestehen und bestanden haben. Oder soll der Stimmbürger demnächst vor der Kabine etwas unterzeichnen wie: „Vorsicht! Sollten Sie bei dieser Initiative mit ‚ja‘ stimmen, könnte dies erhebliche negative Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und unser Ansehen in der Welt haben. Wollen Sie das wirklich?“
Lieber Christoph. Du hast den problematischen Kern unserer Aussagen – ich nehme Rafael und mich mal riskanterweise zusammen – richtig erkannt: In einer Demokratie ist das Ergebnis einer demokratischen Abstimmung immer richtig (Rousseau lässt grüssen, soweit ich mich erinnern mag.)
Unsere Idee eines „falschen“ Ergebnisses hat nichts mit rechts und links zu tun, sondern mit den Abstimmungskampagnen im Vorfeld: Das Stimmvolk stimmt über Symbole, Ängste und Probleme ab. Dabei vergisst es, dass es mit Volksinitiativen den Verfassungstext ändert. Es ist eine Rechtsetzungsvorlage mit rechtlichen Konsequenzen. Die politische Debatte hat versagt, weil sie den Konnext zwischen politischen Haltungen und rechtlichen Vorlagen nicht mehr genügend herstellt. Der Bundesrat hat beispielsweise die Auswirkungen auf die Bilateralen Verträge nicht betont im Abstimmungskampf, weil er dem Volk nicht drohen wollte. Dabei wäre Kenntnis der Konsequenzen doch unabdingar für gute Entscheidungen.
Lieber Dominik
Ich muss dir widersprechen: Nach meiner Erfahrung ist sich das Stimmvolk sehr wohl bewusst, dass mit Volksinitiativen der Verfassungstext ändert.
Ich habe im Vorfeld der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative mit verschiedensten Leuten (die meisten davon Nicht-Juristen) eingehend debattiert und dabei den Eindruck gewonnen, dass gerade durch die offene Formulierung des neuen Verfassungstextes, der relativ viel Raum für eine pragmatische gesetzgeberische Umsetzung belässt, die Chancen und Risiken der Initiative als verkraftbar bzw. akzeptabel eingeschätzt wurden. Mein Eindruck ist bis heute, dass sich die StimmbürgerInnen der möglichen Konsequenzen eines Ja’s durchaus bewusst waren.
Vielleicht bin ich da zu selektiv, aber mir geht es vor allem um diejenigen, die meinten, ihr Ja helfe gegen hohe Mieten und volle Züge. Das waren sicher nicht alle Befürworter, aber bei diesem knappen Mehr wohl eine ausschlaggebende Gruppe. Diese Phänomene mit Ausländerkontingenten und Gefährdung der wirtschaftlichen Integration in Europa bekämpfen zu wollen, ist absurd; diese Massnahmen sind nicht einmal geeignet für diesen Zweck. Und in dieser Hinsicht hat die politische Debatte versagt.
Lieber Christoph
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin nicht der Ansicht, dass das Volk in dieser oder anderen Abstimmungen „falsch“ abgestimmt hat. Insofern bin ich völlig einig mit dir: Man mag mit dem Resultat einer Abstimmung persönlich zufrieden sein oder nicht, je nachdem, ob sich die eigene Meinung durchgesetzt hat oder nicht. Keinesfalls darf aber ein Abstimmungsresultat auf Grundlage der eigenen Präferenzen als „richtig“ oder „falsch“ angesehen werden. Wer sich auf das Wagnis der direkten Demokratie einlässt und sich gemäss den vordefinierten Regeln daran beteiligt, hat das Resultat vorbehaltlos zu akzeptieren, wenn die Regeln eingehalten worden sind. Das Stimmvolk hat gesprochen, Punkt. Ich halte es daher für falsch, wenn als Reaktion auf einige rechtsstaatlich und in der Umsetzung problematische Ergebnisse von Abstimmungen etwa die materiellen Schranken für Volksinitiativen verändert werden sollten, um zukünftig den Abstimmungsgegenstand in bestimmten Bereichen einzuschränken. Ebenso wenig darf auf irgendeine andere Weise dem Volk eine Abstimmung „weggenommen“ werden. Ich hoffe, dies ist im Beitrag auch ersichtlich. Kein Verständnis habe ich darum z.B. auch dafür, dass etwa die Linke nach verlorenen Abstimmungen gerne Demonstrationen für eine „offene Schweiz“ o.ä. organisiert.
Hingegen haben mir einige Abstimmungen im letzten Jahrzehnt den Eindruck vermittelt, dass dem Volk im Vorfeld die Bedeutung der Abstimmungsfrage und die rechtlichen Konsequenzen einer Annahme oder Ablehnung allzu oft nur ungenügend bewusst zu sein schienen. Ich führe das darauf zurück, dass die Volksinitiative gegenwärtig nur höchst selten von Bürgerinnen und Bürgern als Rechtsetzungsinstrument, sondern hauptsächlich von Parteien als Wahlkampfinstrument ergriffen wird. Abgestimmt wird zwar über eine rechtliche Frage (Verfassungsrevision), diese dient aber nur als Anknüpfungspunkt, um im Abstimmungskampf politische Programme zu präsentieren. Wenn überhaupt behaupten Initianten und Befürworter rechtliche Folgen A, während Gegner rechtliche Folgen B behaupten. In diesem juristischen Vakuum muss der Stimmbürger jeweils seine Meinung bilden.
Bei der Masseneinwanderungsinitiative sah die Situation vereinfacht so aus: Die Gegner haben im Abstimmungskampf ausgeführt, ein Ja sei mit dem bilateralen Freizügigkeitsabkommen (FZA) nicht vereinbar; eine allfällige Kündigung des FZA führe aufgrund der Guillotineklausel zur Kündigung der gesamten Bilateralen Verträge I. Dem hielten die Gegner entgegen, die Initiative verlange lediglich eine Neuverhandlung mit der EU über Anpassungen der Personenfreizügigkeit, nicht aber eine Kündigung der Bilateralen Abkommen. Über den gegenseitigen Vorwurf, die rechtlichen Konsequenzen verfälscht darzustellen respektive zu verschleiern, kam die politische Diskussion wie so oft nicht hinaus. Eine nachvollziehbare Darstellung, inwiefern welche rechtlichen Konsequenzen drohen respektive inwiefern die gegnerische Darstellung unzutreffend wäre, fehlte. Ergebnis: Am 9.2. stimmten 50,3% der Abstimmenden der Masseneinwanderungsinitiative zu; eine Woche später haben sich in einer repräsentativen Umfrage aber 74% gegen eine Kündigung der Bilateralen ausgesprochen (bloss 19% dafür). Quo vadis? Über die rechtlichen Folgen kann ich selbst auch als Öffentlichrechtler weiterhin nur mutmassen, was ich im Beitrag einleitend auszudrücken versucht habe.
Vor diesem Hintergrund weist die politische Debatte für mich qualitative Defizite auf. Die Garantie der politischen Rechte schützt die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe (Art. 34 Abs. 2 BV). Dies bedingt aber mindestens, dass das Stimmvolk – insbesondere auf Basis einer nachvollziehbaren Darstellung der rechtlichen Konsequenzen- seinen Willen frei bilden und seine Stimme unverfälscht abgeben kann. Hier gilt es für mich (formell) anzusetzen.
Der Hinweis auf den Rechtsstaat schliesslich ist meinem persönlichen Staatsbild geschuldet, wonach Demokratie und Rechtsstaat sich gegenseitig bedingen. Allzu oft werden sie aber im Rahmen von Volksinitiativen als Gegensätze dargestellt: Hier der unhinterfragbare Volkswille, dort die abgehobene Meinung der „Totengräber der Demokratie“ bzw. anderen Professoren, vor denen „gewarnt“ wird – u.a. mein Chef (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2009-49/artikel-2009-49-intern.html) bzw. Dominiks Chef (http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2012-40/vor-diesen-professoren-wird-gewarnt-die-weltwoche-ausgabe-402012.html). So wurde etwa im Abstimmungskampf soweit ersichtlich nicht thematisiert, dass die Ausschaffungsinitiative zwingend die automatische Ausschaffung von Ausländern wegen teils geringfügigen Rechtsverstössen oder bloss sozial unerwünschtem Verhalten eingeführt, wofür sie jeweils Grundrechte verletzen und zentrale Verfassungsprinzipien (insb. Verhältnismässigkeit) ausser Kraft setzen muss. Für mich ist das paradox. Auch in diesem Sinne sehe ich eine Herausforderung für die direkte Demokratie und Verbesserungspotential für die politische Debatte.
Ok, mit Deinen und Dominiks Erläuterungen lichten sich gerade einige Wälder, die bei mir bisher mangels Erleben der Schweizer Öffentlichkeit recht blickdicht waren.
Gerade Deine – Rafaels – Einlassung scheint mir aber auch völlig unabhängig von Volksinitiativen ein Symptom der politischen Debatte im Allgemeinen zu sein. Auch in der misstrauischsten aller Demokratien hier in Deutschland lesen wohl die wenigsten Wahlprogramme. Auch hier werden Wahlentscheidungen aufgrund diffuser Zugehörigkeitsgefühle getroffen, kommen Wahlkampf-talkshows kaum über Phrasen hinaus, Erkenntnisgewinn nahe gleich null.
Hier sehe ich aber auch einen großen Vorteil des Schweizer Systems: Anders als in Deutschland kann sich niemand darauf zurückziehen, das hätten die blöden Politiker entschieden. Zwar kann man sich auch in der Schweiz noch darüber streiten, ob die Politiker die Initiative „gut“ umgesetzt haben, aber das „ob“ und seine bereits jetzt – ohne, dass ein Politiker die Chance hatte, etwas zu tun – eingetretene Imageschaden und die – ich bleibe dabei – kindischen Strafaktionen der EU kann selbst der Uneinsichtigste Stimmbürger, der ein `ja` anbekreuzt hat, nicht von sic weisen.
Deine Umfrage zeigt m. E., dass 74% der Befragten (ich gehe von einer repräsentativen Umfrage auch unter denjenigen aus, die gar nicht abgestimmt haben!) nun entweder von vornherein gegen die MEI waren oder zwar eine Begrenzung der Zuwanderung wollen, aber „nur“ eine Neuverhandlung und keine Kündigung der Verträge.