von DOMINIK ELSER
Die Schweiz hat mit 50.3% die Masseneinwanderungsinitiative angenommen. Soviel ist bekannt, doch was heisst das jetzt alles? Die Einwanderung mit Kontingenten zu steuern, verletzt das Abkommen über die Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU. Verstösst die Schweiz gegen diesen Vertrag, können auch andere Bilaterale Abkommen fallen. Dies würde die schweizerische Integration in den europäischen Binnenmarkt rückgängig machen.
Will sich die Schweiz also mutwillig abschotten und ihren eigenen Wohlstand gefährden? Die 1’463’954 Schweizerinnen und Schweizer, die für die Initiative stimmten, meinten wahrscheinlich etwas anderes.
Die Verfassung verlässt sich auf eine funktionierende politische Debatte
Bei Abstimmungen über Volksinitiativen wird das „Schweizer Volk“ zum direktdemokratischen Verfassungsgeber. Die Verfassung kennt dabei kaum materielle Schranken. Zur Erinnerung: Die Bundesverfassung kennt keine Ewigkeitsklausel. Grundsätzlich kann jederzeit der gesamte Verfassungstext revidiert werden (Art. 192 ff. BV).
Die Verfassung geht davon aus, das Stimmvolk werde nicht alles tun, was es staatsrechtlich darf – mit anderen Worten, es werde seine verfassungsrechtlichen Befugnisse nicht vollends ausschöpfen. In den letzten Jahren haben verschiedene Initiativen die inhaltlichen Schranken immer weiter ausgereizt – die Stichworte Verwahrung, Minarette und Ausschaffung dürften genügen.
Die Bundesverfassung könnte durchaus die materiellen Schranken erweitern und damit unabänderliche Inhalte von der Verfassungsrevision ausnehmen. Das Problem dabei ist eines der politischen Machbarkeit: Jede Verfassungsänderung muss dem Stimmvolk vorgelegt werden, auch wenn das Parlament die Änderung beschliesst (Art. 194 Abs. 1 und Art. 140 Abs. 1 Bst. a BV). Dasselbe Stimmvolk, das problematische Initiativen annimmt, müsste also seine Kompetenzen beschränken.
Das Volk stimmt Ja, obwohl fast alle gesellschaftlichen Kräfte Nein sagen
In der Schweizerischen Demokratie ist ein Spannungsverhältnis angelegt: Die Volksinitiative ist ein juristisches Instrument mit einer politischen Funktion. Durch die Möglichkeit, den Verfassungstext zu ändern, können gesellschaftliche Kräfte ihre Argumente einbringen und so ihre Interessen verfolgen. Das Stimmvolk soll sich die verschiedenen Argumente anhören können und gestützt darauf entweder „JA“ oder „NEIN“ auf den Stimmzettel schreiben.
Dennoch darf nicht vergessen werden, dass mit jeder angenommenen Volksinitiative der höchste Erlass der Schweizer Rechtsordnung angepasst wird. Der politischen Debatte obliegt es, den Stimmbürger an seine Funktion als Verfassungsgeber zu erinnern. In dieser Debatte nehmen die Parteien eine wichtige Rolle ein. Oder wie die Verfassung in Artikel 137 sagt: „Die politischen Parteien wirken an der Meinungs- und Willensbildung des Volkes mit.“
Die Masseneinwanderungsinitiative stammt von der SVP, ein 27-köpfiges Initiativkomitee zeichnete dafür verantwortlich. Auf der Gegenseite standen all jene gesellschaftlichen Gruppen, die ein Nein zur Abstimmungsvorlage erreichen wollten. Laut der offiziellen Parolen waren das die anderen politischen Parteien, die Kantonsregierungen, der Städteverband, Gewerbe, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Industrieverbände und wohltätige Organisationen. Sie allesamt wollten – laut offizieller Parole – ein Nein erreichen. Es gelang ihnen nicht.
Eine Krise der politischen Debatte über rechtliche Fragen
Befindet sich die direkte Demokratie also in einer Krise? Ja, mit einer Präzisierung: Es ist eine Krise der politischen Debatte über rechtliche Fragen. Gemäß einer Idee von Jasper Finke müssen Krisen vom Bild der Ausnahme entfernt werden. Die Ausnahme suggeriert einen Grundsatz, zu dem wir zurückkehren können. Stattdessen versteht Jasper die Krise als eine enttäuschte Erwartung. Wenn eine Erwartung einmal enttäuscht wurde, macht es keinen Sinn an ihr festzuhalten. Was heisst das für die Schweiz?
Das Schweizer Stimmvolk betreibt Demokratie auf eine Art und Weise, wie das die Verfassung nicht erwartet hat. Es entscheidet über rechtliche Fragen, ohne die rechtlichen Konsequenzen genügend zu bedenken. Wenn eine Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte die Nein-Parole beschliesst und die Abstimmung verliert, hat die politische Debatte versagt. Gute Argumente waren vorhanden. Parteien, Verbände und andere Organisationen waren vorhanden. Dennoch konnte die SVP eine Mehrheit hinter ihrer Initiative versammeln.
Nach der Initiative ist vor der Umsetzung
Aus staatsrechtlicher Sicht kann man bedauern, dass Volksinitiativen nicht mehr so verwendet werden, wie sie ursprünglich gedacht waren. Aber die enttäuschte Erwartung ist hinzunehmen. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative war keine Ausnahme, kein Ausrutscher. Die politische Debatte hat nicht so funktioniert, wie sie früher funktioniert hat, und wird es auch nicht wieder. Der Weg aus der Krise geht vorwärts: Wir müssen eine neue Sprache finden, eine neue Debattenkultur prägen. Dies ist schwierig, es wird Jahrzehnte dauern.
Was die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative unmittelbar für die Schweiz bedeutet, wird sich erst in ihrer Umsetzung zeigen. Die Initiative bestimmt das Verfahren zur Umsetzung gleich selbst. Die neuen Verfassungsbestimmungen geben dem Parlament eine Frist von drei Jahren für die „Ausführungsgesetzgebung“. Danach soll die Regierung gesetzgeberisch tätig werden. Der neue Art. 121a Abs. 1 BV ist einigermassen deutlich formuliert: „Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.“ Alles Weitere wird sich in den nächsten drei Jahren zeigen.
Es ist zu hoffen, die politische Debatte funktioniere in der Umsetzungsphase besser als im Abstimmungskampf.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
„Wenn eine Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte die Nein-Parole beschliesst und die Abstimmung verliert, hat die politische Debatte versagt.“
Unter dieser Prämisse sollte man in Zukunft vielleicht die „gesellschaftlichen Kräfte“ über Verfassungsänderungen abstimmen lassen. Ich finde, hier passt das zugegebenermaßen etwas abgedroschene Zitat Brechts: Wenn das Volk die Regierung enttäuscht, wäre es dann nicht gut, sie löste es auf und wählte ein anderes? Vielleicht waren die Abstimmenden ja ggf. bereit auch negative Folgen hinzunehmen? Nach einer Art „dolus eventualis“.
Ich sehe hier auch keine Art „letzte Grenzen“ überschritten. Das Schweizer Volk (bei „Stimmvolk“ höre ich immer „Stimmvieh“) hat beschlossen, dass die Schweiz Zuwanderung selbst steuern soll, nicht die Abschaffung der Demokratie oder den Ausnahmezustand. In der Initiative heißt es: „Die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländerinnen und Ausländer sind auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz […] auszurichten.“ Ich sehe also in der konkreten Durchführung noch nicht das Ende aller Tage. Ggf. setzt man die Kontingente unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen so hoch an, wie sie gerade de facto stattfinden.
M. E. sind die politischen seismischen Wellen dieser Abstimmung größer, als es – bei „geschickter“ Umsetzung – die tatsächlichen Folgen sein werden. Dass die EU jetzt aus Trotz – und mehr kann es bei verständiger Würdigung auch der europäischen Interessen nicht sein – verschiedene Abkommen auf Eis legt, schadet beiden Seiten und ist m. E. unangemessen. Zum Vergleich: In der Ukraine sterben Menschen und die EU kann sich nicht einmal zu Sanktionen hinreißen lassen.
“Wenn eine Mehrheit der gesellschaftlichen Kräfte die Nein-Parole beschliesst und die Abstimmung verliert, hat die politische Debatte versagt.”>>> Stimme dem Vorredner/Poster zu; mEn hat die politische Debatte nicht grundsätzlich versagt – vielleicht ist der Ausgang der Abstimmung auch einfach nur Sinnbild für die Entfremdung (wo wir wieder bei Brecht wären) der Politik/der „gesellschaftlichen Kräfte“ vom Volk.
Vielen Dank Dominik für die Erläuterung der verfassungsrechtlichen Hintergründe von Volksabstimmungen in der Schweiz! Und um Dein Ziel, politische Debatten zu befeuern, zu verfolgen, hier einige Anmerkungen zu Deinem Beitrag: 🙂
Gerade in Deutschland hat die schweizer Zuwanderungsabstimmung eine breite Diskussion über Sinn und Unsinn direkter Demokratie eingeleitet. Die Grünen konnten sich hierzulande vor Jahren für direkte Abstimmungen über Atompolitik oder „ähnliche“ Fragen erwärmen, Pirat(enparteimitglied) Christoph Lauer geißelte nun vor Kurzem die auf openpetition.de durchgeführte Unterschriftenaktion gegen ZDF-Moderator Markus Lanz als Pervertierung der guten Idee der Partizipation. Offenbar legt sich gerade hierzulande die erste Begeisterung über direktdemokratische Elemente, weil Parteien befürchten, dass dabei mitunter auch Ergebnisse nach schweizer Vorbild herauskommen könnten.
Fakt ist: Öffnet man einmal das Tor zur direkten Demokratie, lässt es sich nicht mehr schließen. Frei nach der von Acemoglu/Robinson in ihrem Werk „Warum Nationen scheitern“ aufgestellten These vom Tugendkreis inklusiver politischer (und wirtschaftlicher) Institutionen werden solche Instrumente – sind sie einmal etabliert – in immer größerem Umfang eingesetzt. Und das ist auch richtig so: Denn sollen an Stelle des Volkes irgendwelche mehr oder weniger nebulösen „gesellschaftlichen Kräfte“ entscheiden, welche Fragen relevant sind und welche nicht?
Gesellschaftliche Kräfte – warum muss ich in diesem Zusammenhang immer an das Bild der Räterepublik denken? – verfolgen zunächst Eigeninteressen, die nicht zwingend mit dem gesamtstaatlichen Interesse deckungsgleich sein müssen. Das trifft für Parteien (auch wenn schweizer und deutsche Verfassung disbezüglich eine optimistischere Zwecklbestimmung enthalten) ebenso zu wie für Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder sonstige NGOs. Daher muss das Volk selbst das Recht haben zu bestimmen, welche Fragen es direkt entscheiden möchte an Stelle ihrer gewählten Repräsentanten. Um Konflikte mit dem Verfassungsrecht auszuschließen, ist natürlich – da unterscheidet sich die Rechtslage in der Schweiz in der Tat immens von der deutschen – eine Ewigkeitsklausel in der Verfassung überaus sinnvoll, wenn nicht gar notwendig. Und um die Vereinbarkeit einer zur Abstimmung gestellten Einzelfrage mit der Ewigkeitsklausel vorzeitig prüfen zu können, ist auch an die Einführung einer Art „Vorabentscheidungsverfahren“ zum Verfassungsgericht zu denken.
In keinem Fall sollte man aber einen festen Katalog von Volksentscheiden zugänglichen Fragen festlegen, nach dem Gusto der gesellschaftlichen Kräfte.
Schließlich empfinde ich es nicht als bedenklich, dass im Falle der schweizer Abstimmung die Mehrheit der „gesellschaftlichen Kräfte“ mit ihrem „NEIN!“ nicht durchgedrungen ist: Ein Debattenversagen läge nur dann vor, wenn diese Kräfte nicht hätten zu Wort kommen können. Ohne die Debatte in der Schweiz detailiert verfolgt zu haben, bin ich aber überzeugt, dass sie hinreichend Chancen hatten, für ihre Ansicht zu werben. Offenbar waren nur ihre Argumente nicht stark genug oder ihre Vertreter nicht überzeugend. Das mag aus politischer Sicht bedauerlich sein. Ein Verlust demokratischer oder rechtsstaatlicher Kultur ist es mit Sicherheit nicht. Denn ob das Volk die verfassungsrechtlichen Konsequenzen nicht hinreichend berücksichtigt hat, ist eine kaum zu beweisende Hypothese. Wir haben uns aber sehr daran gewöhnt, dem Volk per se zu misstrauen – was ich widerum bedenklich finde.