„Schatz, haben wir noch eine Perspektive?“ Die Polarisierung von Versammlungen – und ein möglicher Ausweg

von CHRISTIAN ERNST

Christian ErnstDer G20-Gipfel hinterlässt viele Fragen und eindeutige Antworten fehlen häufig noch. Dies liegt auch daran, dass oftmals der Umgang mit diesen Fragen schon bemerkenswert vereinfacht ist: Während manche auf den grundrechtlichen Schutz von Versammlungen hinweisen und sich von den Behörden drangsaliert fühlen, betonen andere die Brutalität der Krawalle und reagieren auf Kritik an der Polizei mit Unverständnis. Aus einem bestimmten Blickwinkel lassen sich für beide Standpunkte zwar tatsächliche Umstände anführen. Regelmäßig leidet die Nachbetrachtung des Wochenendes aber an Unterkomplexität – und zwar im besten Sinne des Wortes. Wie kann das Versammlungsrecht hierauf reagieren? Es braucht neutrale und objektive Versammlungsbeobachter.

Die Fragen des Gipfelwochenendes

Die offenen Fragen, die sich nach dem Gipfelwochende im Hinblick auf Versammlungen stellen, beginnen schon bei den Kooperationsgesprächen zwischen Versammlungsbehörde und Anmeldern. Eines der Kooperationsgespräche zwischen den Anmeldern des Camps Stadtpark/Entenwerder und der Versammlungsbehörde etwa wurde nach wenigen Minuten wieder abgebrochen, obwohl das Bundesverfassungsgericht gerade Vorgaben für eine Durchführung des Camps herausgearbeitet hatte. Wie konnte es dazu kommen? Die Schuldzuweisungen erfolgten im Anschluss wechselseitig. Wie hat sich das Ziel der Versammlungsbehörde, nämlich kategorisch jede Übernachtung in Camps zu verbieten, um mögliche Rückzugsorte für Straftäter zu verhindern, auf die Kooperationsgespräche ausgewirkt?

Es wäre interessant zu erfahren, warum es im Rahmen der Kooperationsgespräche nicht möglich war, das Heiligengeistfeld im Herzen Hamburgs als Platz für die Abschlusskundgebung einer Versammlung mit mehreren 10.000 Menschen tatsächlich bereitszustellen. Die Nutzung des Platzes war – unter anderem – deshalb nicht gestattet worden, weil auf dem Heiligengeistfeld zeitgleich Bauarbeiten stattfanden. Die längerfristigen Sanierungsarbeiten sollten erst am Montag nach dem Gipfel abgeschlossen sein. Ließ sich dieser Arbeitsplan mit mehreren Monaten Vorlauf tatsächlich nicht derart ändern, dass der Platz schon einige Tage früher wieder benutzbar war?

Die Versammlung unter dem markigen Titel „Welcome to Hell“ am Donnerstagabend wurde nach etwa 300 Metern gestoppt. Da nicht alle Teilnehmer des schwarzen Blocks ihre Vermummung abgelegt hatten, wollte die Polizei diesen vom Rest der Versammlung abtrennen. Unklar ist insofern, ob es eine Absprache zwischen Versammlungsbehörde und Anmeldern hinsichtlich tolerierter Vermummungsformen gab, über die sich die Versammlungsbehörde vor Ort hinwegsetze. Konnte man ein Einschreiten gegen den Schwarzen Block auf hinreichende Gesetzesverstöße stützen, insbesondere angesichts der zwangsläufigen Konsequenzen für den Rest der Versammlung? Dazu gab es erneut gegenseitige Vorwürfe. Und wieso wurden gegenüber dieser Versammlung keinerlei Auflagen erteilt, wenn doch auf deren Riskopotenzial immer wieder hingewiesen wurde? Einige Beobachter vermuten, dass die Versammlungsbehörde auf Auflagen verzichtete, weil sie ein frühes Ende der Versammlung geplant hatte.

Dass manche Beteiligte in all diesen Fällen ein provozierendes Verhalten erkennen wollen, ist nicht gänzlich fernliegend. Die versammlungsrechtliche Begleitung einer Versammlung findet eben nicht nur auf der Straße statt, sondern auch schon in den vorhergehenden Gesprächen. Diese Probleme können nicht ohne die weitreichenden und tatsächlichen Befugnisse der Versammlungsbehörde betrachtet werden. Sie kann Auflagen mittels Verwaltungsakt erlassen. Rechtsmittel dagegen haben regelmäßig keine aufschiebende Wirkung. Die Möglichkeiten einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, sind tatsächlich begrenzt durch das fixe Datum der Versammlung. Und die Behörde hat genügend Möglichkeiten diese Zeitspanne durch die Gestaltung eigener Verfahrensbeiträge zu verkürzen. Ob es Monate oder Jahre später noch zu einem Erfolg mit einer Fortsetzungsfeststellungsklage kommt, hilft dem Anmelder in der Sache nicht weiter.

Das persönliche Moment der Verwaltung

Es erhärtet sich mehr und mehr der Eindruck, dass die Versammlungsbehörde ihren Freiraum verwendet, um eigennützige Interessen zu verfolgen und weniger die gesamte Bandbreite öffentlicher Interessen. Bezeichnenderweise wird bei Versammlungsbehörde und Anmeldern häufig von zwei Seiten gesprochen, die sich konfrontativ gegenüberstehen. Dass die Anmelder und Teilnehmer einer Versammlung eine individuelle persönliche Motivation aufweisen, ist legitim. Auch das Handeln der Behörden in Versammlungsangelegenheiten scheint aber häufig von Zielen beeinflusst zu sein, die man sonst Individuen zuschreiben würde, z.B. das Erzeugen oder Bewahren eines kompromisslosen Eindrucks, um Dritte abzuschrecken. Solche Motive können zwar für staatliches Handeln relevant sein, sie dürfen aber nicht zum einzig entscheidenden Faktor werden.

Praktisch besteht hier häufig das Problem, dass die Staatsgewalt zwar frei von persönlichen Motiven und ausschließlich dem öffentlichen Interesse verpflichtet sein soll, konkrete Amtswalter aber ihre persönliche Einbindung in die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben nicht ausreichend abstrahiert betrachten können. Insbesondere eine strikte Einordnung in unterschiedliche Lager und das Entstehen von (auch körperlich) konfrontativen Situationen kann zu einer einseitigen Fokussierung auf den Widerstreit von Interessen führen. Insofern sind an Träger öffentlicher Gewalt höhere Anforderungen zu stellen – einerseits weil sie nicht wie Grundrechtsträger autonom und nach freiem Willen handeln, sondern öffentliche, normativ vorgegebene Zwecke verfolgen, andererseits weil die Rechtfertigungslast für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit beim Staat liegt. Dabei ist die Versammlungsbehörde wie jede andere Behörde auch dem Untersuchungsgrundsatz, der Beratung des Bürgers sowie der Unvoreingenommenheit und Objektivität verpflichtet. Das Verwaltungsverfahren im Versammlungsrecht hat sich mittlerweile in vielen Fällen zu einem rigoros kontradiktorischen Verfahren gewandelt. Und eine der beiden Parteien hat hier überlegene rechtliche und tatsächliche Befugnisse.

In solchen Konstellationen wäre es eigentlich Aufgabe der Gubernative, ausgleichend aktiv zu werden. In Hamburg hat der Innensenator als Dienstvorgesetzer der Versammlungsbehörde jedoch im Gegenteil von vornherein öffentlich klargestellt, dass gerade im Hinblick auf Versammlungen die Polizei das letzte Wort haben soll und er sich nicht einmischen wird. Dieses Räumen des Feldes durch die Behördenspitze ermöglichte, dass die Hamburger Polizei ihr kompromissloses Vorgehen, gerichtet auf die Demonstration von Stärke, zum entscheidenden Handlungsmotiv küren konnte. Dieses Vorgehen ist umso erstaunlicher, als das Verwaltungsrecht heutzutage immer stärker auf Transparenz, Mitsprache- und Beteiligungsrechte sowie das Herstellen von Konsens ausgerichtet ist. Dass gerade im Bereich des elementar demokratischen Versammlungsrechts ein zunehmend autoritärer Umgang mit den Grundrechtsträgern Einzug hält, ist bemerkenswert rückständig.

Das Modell der Versammlungsbeobachtung

Das Verfahren in Versammlungsangelegenheiten sollte zukünftig durch eine objektive und neutrale Beobachterperspektive erweitert werden. Hierzu drängt schon die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit. Eine umfangreiche Verfahrensbeobachtung könnte organisatorisch durch eine unabhängige Stelle mit Beauftragtenstatus erfolgen. Dieser könnten verschiedene Personen zugewiesen sein, von denen jeweils drei eine bestimmte Versammlung begleiten. Es sollte sich dabei um Personen handeln, die fachlich einschlägiges Wissen haben, so etwa Verwaltungsrichter und von der Rechtsanwaltskammer zu bestimmende Fachanwälte für Verwaltungsrecht. Abgeordnete dürften dafür nur in Betracht kommen, wenn die Personen von allen Fraktionen unterstützt werden, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass der Prozess politisch instrumentalisiert wird.

Diese Personen müssten bei den Kooperationsgesprächen anwesend sein und könnten gegebenenfalls auch vermitteln. Das Kooperationsgebot wäre damit zugleich stärker institutionalisiert. Sollte es hingegen zukünftig nicht gelingen, dem Kooperationsgespräch eine stärkere konsensuale Funktion zuzuweisen und damit einen spürbaren Gewinn für die Durchführung der Versammlung zu erzielen, könnte bald der Punkt erreicht sein, an dem die Legitimität der Anmeldepflicht des § 14 VersG in Frage steht, da Art. 8 Abs. 1 GG das Recht auf Versammlung ausdrücklich ohne Anmeldung gewährt.

Während der Versammlung müssten die Beobachter in der Einsatzzentrale anwesend sein und dieselben Bilder sehen und Meldungen hören wie die behördlichen Entscheider. Ihre Aufgabe wäre es nicht, in der Hektik des Einsatzes mit den Behördenvertretern über die juristische Bewertung zu diskutieren. Diese müssten sich auch nicht bei den Versammlungsbeobachtern rückversichern. Die Zuständigkeit – formell und in der Sache – verbliebe vollumfänglich bei der Versammlungsbehörde. Es geht lediglich darum, dass neutrale und objektive aber auch fachlich versierte Beobachter im Nachhinein über das Geschehen berichten können. Sie sind damit Sachwalter des öffentlichen Interesses an einer möglichst umfangreichen und gleichzeitig rechtmäßigen Durchführung der Versammlung. Berichten könnten sie im Rahmen eines Verwaltungsprozesses, dem Parlament oder notfalls der Allgemeinheit.

Eine Versammlungsbeobachtung dürfte nicht bei jeder Versammlung notwendig sein. Hierfür wären auch nicht ausreichend Ressourcen vorhanden. Um sicherzustellen, dass die richtigen Versammlungen begleitet werden, könnte man vorsehen, dass jeder der Beteiligten diese anfragen kann und die beobachtende Stelle hierüber entscheidet. Daneben wäre auch ein Anordnungsrecht des Senats vorzusehen.

Die Erfahrungen, die Hamburg in den letzten Tagen zum wiederholten Male machen musste, verlangen angesichts der beschriebenen Rahmenbedingungen nach einer disziplinierenden Wirkung (für alle Beteiligten) und einem Element der Befriedung. Der konfrontativen Grundausrichtung muss eine objektive und neutrale Versammlungsbeobachtung entgegengestellt werden. Dass es so nicht weiter gehen kann, sollte mittlerweile jedem klar geworden sein.

Christian Ernst, G20, öffentliches Interesse, Polizei, Versammlungsbeobachter, Versammlungsrecht
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3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Benjamin Rusteberg
    13. Juli 2017 09:46

    Lieber Christian, vielen Dank für den anregenden Beitrag. Eine Nachfrage hätte ich, die sich zwar nur mittelbar auf Deinen Vorschlag bezieht, mir aber schon bei meinem eigenen Beitrag zu dem Camp-Verbot aufgefallen war und, wie ich glaube, gerade für das Versammlungsvorfeld nicht unerheblich ist: Wie sieht eigentlich in HH genau die Abgrenzung bzgl. der Kompetenzen zwischen Polizeivollzugsdienst und dem aus, was in Flächenländern die allgemeine Ordnungsverwaltung wäre, bei Euch in HH als wohl die Bezirksämter anstatt der Gemeinden?
    Sind die Genehmigungen für Versammlungen in bezug auf G20 direkt über die Vollzugspolizei gelaufen? Ist das auch sonst der Fall oder sind sonst die Bezirksämter zuständig? Oder hat das eh alles der Innensenator an sich gezogen, womit das ja rechtlich in Hamburg nicht mehr wirklich zu unterscheiden wäre?
    Bis auf die allgemeine Kompetenzzuweisung an den Innensenator – der ja wohl beides ist, Polizei und Ordnungsbehörde – bin ich bei meinen Recherchen leider nicht wirklich weiter gekommen. Ich halte die Frage aber für nicht unwesentlich, weil die Logiken zwischen Vollzugspolizei und „Zivil“-Verwaltung m.E. doch häufig andere sind. Dies setzt freilich voraus, dass sich die Ordnungsbehörden nicht freiwillig in die Abhängigkeit der speziellen Sachkompetenz der Vollzugspolizei in Bezug auf die Durchführung der Versammlung begeben.

    Antworten
    • Christian Ernst
      13. Juli 2017 13:01

      Lieber Benjamin, in Hamburg besteht grds eine Unterteilung in Bezirksämter und Fachbehörden. Die einzelnen Bezirksämter können auch Ordnungsbehörde i.S.d. SOG sein (vgl. § 4 Abs. 1 VerwBehG, § 2 BezVG). Danach obliegt einem Bezirksamt die Ordnungsverwaltung, wenn die Aufgabe nicht wegen übergeordneter Bedeutung oder ihrer Eigenart einer einheitlichen Durchführung bedarf. Ist danach das Bezirksamt zuständig, kann die Vollzugspolizei nach allgemeinen Grundsätzen eine Eilfallkompetenz in Anspruch nehmen. Für das Versammlungsrecht bestimmt die Anordnung über Zuständigkeiten im Versammlungsrecht, dass die Behörde für Inneres und Sport zuständig ist. Innerhalb der Behörde sind die Aufgaben nach dem VersG der bei der Polizei (Amt in der Behörde für Inneres und Sport) ansässigen Versammlungsbehörde zugewiesen (die sich allerdings ebenfalls „Behörde“ nennt).

      Antworten
      • Benjamin Rusteberg
        13. Juli 2017 13:27

        Lieber Christian, ganz herzlichen Dank. Wenn ich das richtig verstehe, erfolgt die endgültige Zuteilung zur Polizei dann also nur noch über Innenrecht.
        Davon ganz abgesehen wäre es nach den Erfahrungen des Wochenendes m.E. vielleicht tatsächlich sinnvoll, über eine „Entpolizeichung“ der Versammlungsbehörde nachzudenken. So hätte man schon einmal eine weitere Stelle zwischen Grundrechtsträger und Vollzugsdienst geschaltet, die im Idealfall auch als eine Art Mittler zwischen den beiden dienen könnte.

        Antworten

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