von DOMINIK FRONERT
Maximilian Oehl hat in seinem Beitrag Staatenimmunität „revisited“ – nach Den Haag ist vor Den Haag vom 2. März 2015 leidenschaftlich für die Aufweichung der Staatenimmunität plädiert. Statt sich vom Rechtspositivismus leiten zu lassen, müsse der IGH kreative Rechtsfortbildung betreiben um endlich Gerechtigkeit walten zu lassen. Meine Replik auf den Beitrag widmet sich dieser Forderung, ebenso wie dem unterbreiteten Reformvorschlag. Für die Entschädigung der Opfer deutscher Kriegsverbrechen schlage ich eine andere Lösung vor.
Um die Rolle des Internationalen Gerichtshofes bei der Lösung zwischenstaatlicher Rechtsstreitigkeiten zu verstehen, bietet sich zunächst ein Blick auf die Rechtsquellen an. Das höchste Gericht der Vereinten Nationen wendet laut Art. 38 des Statuts Völkervertragsrecht, Völkergewohnheitsrecht und allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze an und kann auf Lehrmeinungen zurückgreifen. Der IGH geht in seiner Entscheidung „Jurisdictional Immunities of the State (Germany v. Italy: Greece intervening)“ vom 3. Februar 2012 lehrbuchmäßig auf alle relevanten Rechtsquellen ein und kommt sodann zu dem Ergebnis, dass im Völkergewohnheitsrecht die Staatenimmunität für hoheitliche Akte (acta iure imperii) weiter gilt. Völkergewohnheitsrecht als die hier entscheidende Rechtsquelle setzt Staatenpraxis, also eine dauernde und einheitliche Übung voraus. Diese Übung muss in dem Bewusstsein geschehen, dass es sich um die Ausführung einer rechtlichen Regel handelt (opinio juris). Vereinfacht gesagt, der Internationale Gerichtshof versucht in den zahlreichen zur Staatenimmunität ergangenen nationalen und regionalen Urteilen eine einheitliche Regel als Ausdruck der Staatenpraxis zu erkennen und diese anzuwenden. Die einschlägigen Gesetze und Gerichtsurteile der Staatengemeinschaft setzen alle auf das Fortbestehen der Staatenimmunität; die zwei Ausnahmen bilden der italienische Kassationsgerichtshof (dazu Gattini; aktuell zum ital. Verfassungsgerichtshof siehe Zimmermann, Fontanelli) und der US Supreme Court hinsichtlich Terrorismusförderung (kritisch Fox).
Der IGH als Fortschrittsmotor?
Beruht diese Methode – das Untersuchen der Staatenpraxis um daraus eine allgemeine Regel zu erkennen – auf einer, wie von Oehl bezeichneten, positivistischen Dogmatik? Verfehlte das Gericht die Chance einen großen Schritt nach Vorne zu gehen?
Ich denke, wer so argumentiert verkennt die Rolle des IGH im internationalen Recht. Die Richter am Internationalen Gerichtshof müssen ihr Mandat im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung ausüben. Sie stehen an der Spitze der globalen Judikative, sind weisungsunabhängig und für neun Jahre von der absoluten Mehrheit der Generalversammlung und des Sicherheitsrates (kein Veto-Recht, Art. 10 II IGH-Statut) in geheimer Wahl gewählt. Die 15 Richterinnen und Richter genießen diplomatische Immunität, ihre Entscheidungen sind verbindlich und unanfechtbar. Bei der Urteilsfindung sind die Richter an die Rechtsquellen aus Art. 38 IGH-Statut gebunden, einer Entscheidung ex aequo et bono (ohne Rechtsquellenbindung) haben noch keine Parteien in der Geschichte des IGH zugestimmt. Die Verantwortung der Richter wiegt umso mehr, da jeder UN-Mitgliedsstaat zugleich Mitglied des IGH-Statuts ist und die Entscheidungen theoretisch nach Art. 94 II UN-Charta mittels Zwangsmaßnahmen, beschlossen durch den Sicherheitsrat, durchgesetzt werden können. Ferner wirken die Urteile des IGH de iure nur zwischen den Parteien (Art. 59 IGH-Statut), jedoch gilt die Analyse des bestehenden Rechts de facto als unangreifbar in der Völkerrechtswissenschaft. Wer über so viel Gewicht verfügt, wird von der Staatengemeinschaft umso genauer beobachtet. Völkerrecht wird primär durch Staaten geschaffen und grundsätzlich entscheiden die Staaten, ob sie sich bei Streitigkeiten über das bestehende Recht der Zuständigkeit des IGH unterwerfen (Art. 36 IGH-Statut). Würde das Gericht übermäßig von seiner Freiheit Gebrauch machen, indem es statt Recht auszulegen, Recht neu kreiert, würde es Gefahr laufen bei zukünftigen Streitigkeiten nicht mehr konsultiert zu werden und seiner Verantwortung im Rahmen der UN-Charta nicht gerecht werden zu können. Denn die Fortentwicklung des Rechts obliegt nach Art. 13 I a) UN-Charta der Generalversammlung, die diese Aufgabe mittels der International Law Commission erfüllt.
Der Ruf der Gerechtigkeit
Es steht außer Frage, dass das Leid der griechischen und italienischen Opfer deutscher Kriegsverbrechen schwer wiegt. Dies gilt umso mehr vor der unzweifelhaft unzureichenden Entschädigungspraxis der Bundesrepublik, da kann ich Maximilian Oehl nur zustimmen. Doch Vorsicht ist geboten, wenn wir völkerrechtliche Regeln vor dem Hintergrund einzelner Ungerechtigkeiten umschreiben. Das Völkerrecht gilt universell, es bindet und verpflichtet alle Staaten. Würde folglich die Staatenimmunität für die Ansprüche der italienischen und griechischen Opfer gelockert, käme dies einem Dammbruch gleich. Die Kriegsverbrechen (mindestens) der vergangenen 100 Jahre würden zum Prozessgegenstand von Hunderttausenden von Opfern. Ist unser innerer Kompass und der Ruf nach Rechtsprechung als eine „der Gerechtigkeit verschriebene, normative Tätigkeit“ (Oehl) noch so standfest, wenn die Opfer (und ihre Nachfahren) der Angriffe auf Dresden, Hiroshima und Nagasaki ihre Ansprüche geltend machen? Denn ist die Staatenimmunität erst einmal durchbrochen, obliegt die Feststellung, ob es sich bei den acta iure imperii um Kriegsverbrechen handelt, wieder den nationalen Gerichten. Aus gutem Grund ist es allgemeine Praxis nach einem internationalen bewaffneten Konflikt zwischenstaatliche Entschädigungsabkommen abzuschließen (sog. lump sum agreements) um alle Ansprüche abschließend zu regeln. Denn Frieden braucht Rechtsfrieden, auch wenn das individuelle Streben nach Entschädigung hinter das kollektive Gut der Friedenssicherung zurücktritt.
Staatenimmunität als Gegenmaßnahme im Recht der Staatenverantwortlichkeit?
Der Gedanke, das Recht der Staatenimmunität mit dem Recht der Staatenverantwortlichkeit zu verknüpfen (Richter Bennouna und Oehl), ist nicht wirklich neu (siehe Salomon). Unabhängig davon, ob die Aufhebung der Staatenimmunität eine rechtmäßige Gegenmaßnahme wäre (etwa bezüglich der Verhältnismäßigkeit, Art. 51 ILC Artikel, und der Fortdauer der Verletzungshandlung, Art. 52 Nr. 3 (a) ILC Artikel), stellt sich die Frage, wie sich die gerichtliche Durchsetzung dieser Regel gestalten ließe? Gerade der Rechtfertigungsgrund der finanziellen Leistungsfähigkeit böte reichlich Spielraum für Interpretation.
Im Ergebnis würden weiterhin nationale Gerichte versuchen, mithilfe dieses Konstrukts die Immunität anderer Staaten aufzuheben. Wir stünden vor den gleichen Problemen wie bei allen anderen vom IGH verworfenen Immunitätsausnahmen: der Gefahr der Fragmentierung der Rechtsprechung und der daraus folgenden Einladung zum „forum shopping“ der Kläger. In einer verknüpften Weltwirtschaft wäre kein staatliches Vermögen vor dem individuellen Ehrgeiz einzelner Gerichtshöfe sicher und es würde ein Wettlauf der Vollstreckung drohen.
Last resort: der gute Wille
Kommt die Bundesrepublik also unbescholten mit ihrer Entschädigungspraxis davon? Der damalige Außenminister Westerwelle hat das IGH Urteil mit den Worten kommentiert, die Bundesregierung habe das Leid der Opfer „stets voll anerkannt“. Diesen Worten müssen Taten folgen. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein reiches Land. Sie hat ein Interesse an einer vollständigen Aufarbeitung der Vergangenheit und einem friedlichen Miteinander mit unseren europäischen Partnern. Ich plädiere dafür für eine Erweiterung des Gesetzes zur Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Bisher sind ehemalige Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter arbeiten mussten, von der Entschädigung ausgeschlossen (§ 11 III StiftG). Ferner ist eine eigene Bundesstiftung für die ex gratia Entschädigung deutscher Kriegsverbrechen erforderlich um u.a. die Opfer der Massaker von Civitella (Italien), Distomo und Lidoriki (Griechenland) zu berücksichtigen.