Den Internationalen Gerichtshof beim Wort nehmen

von JULIAN UDICH

5 : 7 QuerformatAm 24.4.2014 haben die Marschallinseln gegen alle neun Staaten, die bestätigt (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Indien, Pakistan, Nordkorea) oder offiziell geleugnet (Israel) über Atomwaffen verfügen, Klagen beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eingereicht. Die Staaten sollen ihre Verpflichtung zu Abrüstungsverhandlungen verletzt haben. Zumindest in drei Verfahren wird der Gerichtshof auf diesen Vorwurf zu antworten haben.

Seit dem ersten Einsatz von Atomwaffen 1945 bemühen sich viele Gruppierungen um Abrüstung auf politischen Wegen, beispielsweise die Doomsday Clock (1947), die IPPNW (1980) oder die Initivative Global Zero (2008). Auch auf Ebene der Vereinten Nationen wird die atomare Nichtverbreitung und Abrüstung beständig gefördert. Die Marschallinseln wollen diese politischen Kampagnen – selbst von einer US-Anwaltskanzlei und einer pathosreichen Kampagne begleitet – um eine rechtlich verbindliche Antwort des IGH erweitern.

Nichtverbreitungsvertrag verlangt Abrüstungsverhandlungen

Die völkerrechtliche Basis für die Regulierung von Atomwaffen ist der Nichtverbreitungsvertrag (Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, NPT) von 1968. Dieser erkennt als Status quo das Recht von 5 Staaten (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China) an, Atomwaffen zu besitzen und verpflichtet alle anderen Staaten, keine Atomwaffen zu entwickeln oder zu erwerben. Im Gegenzug verpflichtet Art. VI NPT die Staaten, die Atomwaffen besitzen, das nukleare Aufrüsten zu beenden, in good faith über die Abrüstung zu verhandeln und letztlich zu einem Vertrag über vollständige Abrüstung unter internationaler Kontrolle zu gelangen.

Der Deal ist somit einfach: Nichtatomwaffenstaaten haben zwar das Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie (Art. IV NPT – ein Streitpunkt um das Atomanreicherungsprogramm des Irans), beanspruchen jedoch keine Atomwaffen. Umgekehrt, und so lesen es die Marschallinseln, ergebe sich aus Art. VI NPT für die Atomwaffenstaaten die Pflicht, sich auch tatsächlich um Abrüstung zu bemühen.

IGH-Gutachten von 1996: Keine Handlungs-, sondern Ergebnispflicht

Der Text des Vertrages scheint zunächst geduldig. Allerdings hatte der IGH 1996 in einem Gutachten über die Legalität des Einsatzes von Nuklearwaffen zu urteilen. In dieser vielfach kritisierten Entscheidung ließ der IGH aus politischer Rücksichtnahme im Ergebnis offen, ob es außergewöhnliche Situationen geben könnte, in denen das Völkerrecht einem Staat den Rückgriff auf Atomwaffen nicht verwehren dürfe (Rn. 97).

Gleichsam zur Kompensation äußerte er sich im Anschluss zu Art. VI NPT, woran die Marschallinseln den Gerichtshof nun in ihren Klagen festhalten wollen. Der IGH formulierte, aus Art. VI entspringe eine konkrete Pflicht, namentlich:

The legal import of that obligation goes beyond that of a mere obligation of conduct; the obligation involved here is an obligation to achieve a precise result – nuclear disarmament in all its aspects – by adopting a particular course of conduct, namely, the pursuit of negotiations on the matter in good faith.“ (Rn. 99)

Die Marschallinseln tragen nun vor, alle Atommächte hätten durch fehlende bzw. unzureichende Abrüstung, Blockade von Verhandlungen für eine Atomwaffenkonvention und Ablehnung der – unverbindlichen – Resolutionen der Generalversammlung zur Abrüstung diese Pflicht, sich tatsächlich in good faith um Abrüstung zu bemühen, verletzt (bspw. Klage GB, Rn. 101-113, Klage Indien, Rn. 57-64).

Zulässigkeit: Unterwerfung, Vorbehalte und Zustimmung

Der Gerichtshof wird sich jedoch voraussichtlich nicht gegenüber allen Atommächten mit dieser Frage auseinandersetzen müssen: bislang sind nur die Verfahren gegen Großbritannien, Indien und Pakistan offiziell registriert (die anderen Klagen finden sich hier). Das liegt daran, dass die Jurisdiktion des IGH nur begründet ist, wenn Staaten abstrakt im Voraus durch eine vertragliche Klausel oder eine Unterwerfungserklärung (Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut) oder durch Zustimmung zu einem konkreten Verfahren ihr Einverständnis erklären.

Von den Beklagten haben nur Großbritannien, Indien und Pakistan allgemeine Unterwerfungserklärungen abgegeben. Zwar haben alle Staaten – zulässigerweise – zu ihren Erklärungen Einschränkungen erklärt, über die gestritten werden wird. So erklärt Indien relativ weit Streitigkeiten über „resistance to aggression“ als unzulässig. Die britische Klage wird zulässig sein (so auch hier a.E.), da die von Großbritannien geforderte Jahresfrist seit ihrer Unterwerfung eingehalten wurde und keine weiteren einschlägigen Vorbehalte erklärt wurden. Auch die pakistanische Erklärung enthält bei unbefangener Betrachtung keine offenkundig passenden Vorbehalte.

Theoretisch könnten die Staaten den IGH auffordern, aus politischer Zurückhaltung davon abzusehen, über die Klagen zu verhandeln. Stärker könnte zudem der Einwand wirken, der IGH dürfe das Verfahren gegen die drei Staaten nicht führen, weil er notwendigerweise implizit über Rechte dritter Staaten – der anderen Atommächte – entscheiden müsse. Jedenfalls formal lässt sich das entkräften, indem der Gerichtshof zwar für alle Atommächte eine Pflicht zu Verhandlungen konturieren kann, aber nur das tatsächliche Verhalten der beklagten Staaten beurteilt, ohne das Verhalten der nicht beklagten Staaten zu bewerten. Die Verfahren gegen Großbritannien, Indien und Pakistan sind daher voraussichtlich zulässig (so auch hier).

Die anderen sechs Staaten (USA, China, Frankreich, Russland, Nordkorea, Israel) haben keine Unterwerfungserklärungen abgegeben, so dass der Gerichtshof die Klagen bislang den Staaten nur zugestellt hat, um ihre Zustimmung zum Verfahren ad hoc zu erbitten, Art. 38 Abs. 5 IGH-Statut. Deren Erteilung ist unwahrscheinlich, insofern bleiben die Klagen eine ambitionierte politische Stellungnahme der Marschallinseln.

Welche Erfolgsaussichten haben die Klagen?

Materiell werfen die Marschallinseln den Staaten, die laut NPT Atomwaffen besitzen dürfen (USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China) vor, ihre Verhandlungspflichten aus Art. VI NPT verletzt zu haben. In den Klagen wird jeweils detailliert aufgeschlüsselt, wie – nach den verfügbaren Informationen – die Atomwaffenarsenale der jeweiligen Staaten zusammengesetzt sind (bspw. USA, Rn. 24-99). Außerdem werden Beispiele genannt, inwiefern die jeweiligen Staaten statt internationale Verhandlungen zu fördern, diese blockierten (bspw. GB, Rn. 65-80). Aus diesem Verhalten folgern die Marschallinseln, die beklagten Staaten hätten ihre Pflichten zu Verhandlungen über nukleare Abrüstung ebenso verletzt wie ihre Pflicht zur Beendigung eines „nuclear arms race“ (bspw. GB, Rn. 100ff.).

Gegenüber Pakistan, Indien und (theoretisch) auch Nordkorea und Israel ist die Begründung aufwendiger, da diese den NPT nicht ratifiziert bzw. behaupten gekündigt zu haben. Die Klägerin behauptet insofern, es gebe eine Verpflichtung zu Abrüstungsverhandlungen auch aus dem alle Staaten bindenden Völkergewohnheitsrecht (Klage Indien, Rn. 41ff.). Während normalerweise Gewohnheitsrecht durch ausreichende Staatenpraxis und -rechtsüberzeugung nachzuweisen ist, versuchen die Marschallinseln, den IGH an seiner bereits zitierten Aussage aus dem Nuklearwaffengutachten festzuhalten (Klage Indien Rn. 43). Die Passage aus dem an sich unverbindlichen Gutachten (Rn. 99 und Tenor 2.f) kann so gelesen werden, dass eine solche gewohnheitsrechtliche Pflicht schon 1996 existierte.

Die Klage der Marschallinseln wird den IGH somit zum Schwur zwingen: Entweder erklärt der Gerichtshof, dass entgegen dieser früheren Formulierung doch keine (gewohnheitsrechtliche) Pflicht zu substantiellen Abrüstungsverhandlungen besteht, oder er müsste die politisch mutigere Entscheidung treffen, tatsächlich zu erklären, welche konkreten Anforderungen die Abrüstungspflicht und insbesondere die Pflicht zu Verhandlungen in good faith an alle Staaten stellt. Das Verhalten Großbritanniens, gegen das als einziger Atomwaffenstaat nach dem NPT die Klage zulässig ist, obwohl es vergleichsweise wenige Waffen besitzt, sowie das Verhalten Indiens bzw. Pakistans als Nichtvertragsstaaten des NPT wären dann an diesen Anforderungen zu messen. Der Gerichtshof dürfte dabei vermeiden, ausdrücklich auch den anderen Atomwaffenstaaten eine Pflichtverletzung vorzuwerfen.

David gegen Goliath und der „Civilizer of Nations“

Welche Gründe – außer der eigenen Geschichte – die Marschallinseln bewegt haben, diese ungewöhnlichen und durchaus mutigen Klagen einzureichen, ist unbekannt. Jedenfalls die drei Klagen gegen Großbritannien, Indien und Pakistan haben gute Aussichten, bis zur Begründetheit fortzuschreiten, und es wird davon abhängen, wieviel politischen Mut eine Mehrheit der Richterinnen und Richter der IGH aufbringt, um konkrete Pflichten zu Abrüstungsverhandlungen aus dem NPT oder Gewohnheitsrecht herzuleiten. Sollte es dazu kommen, sehen sich die Atomwaffenstaaten zumindest politischem Druck ausgesetzt. Zwar darf man die tatsächlichen Auswirkungen eines eventuellen Urteils nicht überschätzen. Zwei Dinge beweisen die Klagen jedoch: Das Vertrauen, dass auch ein kleiner, wenig mächtiger Staat sich auf dem Boden des Völkerrechts gegen mächtigere Staaten Erfolg verspricht (siehe dazu diese spöttisch-kritische Anmerkung). Und das Vertrauen, dass dem Völkerrecht auch heute eine „zivilisierende“ Wirkung zukommt.

Abrüstung, Atomwaffen, Großbritannien, Internationale Streitbeilegung, Internationaler Gerichtshof, Julian Udich, Marshallinseln, Nichtverbreitung, NPT, Völkerrecht
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