Sechs Fragen an… Prof. Dr. Dr. hc. Ingolf Pernice, Gründer und ehemaliger Forschungsdirektor des Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht

Interview im Rahmen der 60. Assistententagung Öffentliches Recht in Trier

von JUWISS-REDAKTION

Der diesjährige Eröffnungsabend der ATÖR 2020 wird durch ein Streitgespräche von Steve Ritter, Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, und von Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice gestaltet. Ingolf Pernice ist Mitbegründer und ehemaliger Forschungsdirektor des Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht. Er hatte Professuren u.a. an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt a.M. und der Humboldt-Universität zu Berlin inne. Er beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Themen rund um die Digitalisierung, insbesondere wie sich die Öffentlichkeitsbeteiligung unter dem Einfluss der Digitalisierung verändert. Im Vorfeld der Tagung stand er dem JuWiss-Team dankenswerterweise für ein Interview zur Verfügung.

JuWiss: Wann haben Sie sich das erste Mal aus rechtswissenschaftlicher Sicht mit Phänomenen der Digitalisierung auseinandergesetzt? Welches sind – im Vergleich zu anderen technischen Innovationen – Ihrer Einschätzung nach die zentralen Aspekte der Digitalisierung, die das Recht vor neue Herausforderungen stellen? Wo sehen Sie Handlungsbedarf in der Rechtswissenschaft, insb. in Bezug auf die juristische Lehre und Ausbildung?

Pernice: Im Studium 1973 bei einem Seminar über Rechtsinformatik mit Prof. Steinmüller und Prof. Podlech auf einer Ferienakademie in Alpbach/Tirol. Schon hier wurde über die automatische Produktion von Gerichtsentscheidungen diskutiert, allerdings mit gehörigen Vorbehalten sowohl technischer als auch ethischer Natur. Die größte Herausforderung an das Recht bleibt der Schutz der Persönlichkeit angesichts der steigenden Produktion und Speicherung von Daten bei stetig verbesserten Methoden der automatischen Datenanalyse in lernenden Systemen. Die Ausbildung der Juristen muss der Thematik der Datisierung und des Schutzes der Menschenwürde und anderer Grundrechte Raum geben. Ein weiterer Gesichtspunkt, der zunehmend in den Fokus zu nehmen ist, betrifft das veränderte Verhältnis von Staat und Bürger und die Rolle des Staates in der digitalen Konstellation. Digitalisierung kann rechtlich nicht gesteuert werden, wenn die globale Natur der Herausforderungen nicht in Betracht gezogen wird, deren Bewältigung mit den herkömmlichen Instrumenten des staatlichen, europäischen und internationalen Rechts nicht möglich erscheint.

JuWiss: Sie sind zu einem Streitgespräch zum Thema >Staat 2.0 oder der „Staat im Netz“< zu Gast. In der Wirtschaft werden ähnliche Themen der dezentralen Vernetzung, der automatisierten Entscheidungsfindung und der Individualisierung unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ diskutiert. Inwiefern unterscheiden sich die Herausforderungen und die Lösungsansätze, die sich aus den Veränderungen ergeben?

Pernice: In der Industrie 4.0 werden Maschinen intelligent miteinander vernetzt, in Staat und Verwaltung geht es um Menschen und deren Rechte. Sog. cyberphysische Systeme (J.v.Lucke) können Hilfestellung geben bei der Entscheidungsfindung, von der Polizei bis hin zur hohen Politik. Dass Maschinen statt (gewählten) Menschen die Entscheidung über Menschen anvertraut wird, dürfte in allen Fällen, in denen Verantwortung eine Rolle spielt, verfassungsrechtlich ausgeschlossen sein.

JuWiss: Der Titel des Panels VI der diesjährigen Assistententagung lautet „Digitalisierung als internationaler Prozess“. In vielen Bereichen überschreiten digitale Akteure, Daten etc. nationale Grenzen. Inwieweit ist die europäische Ebene daher die geeignetere Regelungsebene, um solche Phänomene rechtlich zu begleiten?

Pernice: Im europäischen Binnenmarkt, der jetzt als „digitaler Binnenmarkt“ ausgebaut wird, ist es unausweichlich, zahlreiche Themen durch europäische Regelungen anzugehen. Die Datenschutzgrundverordnung ist ein gutes Beispiel, trotz aller Kritik. Ebenso kann auch der Schutz des Urheberrechts sinnvoll nur europäisch geregelt werden. Wenn um der Cybersicherheit willen Zertifizierungs- oder auch technische Normen für Hard- und Software und Haftungsregelungen erlassen werden müssen, ist die europäische Ebene ebenfalls der richtige Handlungsrahmen. Die Regelung muss stets auf der Ebene erfolgen, wo das Problem, die Herausforderung auftritt. Daher reicht oft auch die europäische Ebene nicht aus, selbst wenn schon wegen der Bedeutung des europäischen Marktes unsere Regelungen, wie etwa die DSGV, auf andere Märkte ausstrahlen, oft sogar global als Bezugspunkt oder Modell gelten. Über eine enge transatlantische Zusammenarbeit hinaus wird man einen globalen Ordnungsrahmen schaffen müssen, um Digitalisierung einschließlich des Umgangs mit künstlicher Intelligenz angemessen regeln zu können, insbesondere im Blick auf einen wirksamen Schutz der Grund- und Menschenrechte.

 

JuWiss: Sie sind Mitbegründer des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG), das sich einen Open Science Ansatz auf die Fahnen geschrieben hat. Wo bestehen Ihrer Meinung nach Vor- und Nachteile für die Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure und anderer Disziplinen in die rechtswissenschaftliche Forschung? Wie hat sich Ihrer Erfahrung nach gerade in Bezug auf die Digitalisierung die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften gestaltet? Kann die Rechtswissenschaft hier überhaupt aus sich heraus einen Beitrag leisten?

Pernice: Open Science verstehen wir als Wissenschaft, die offen ist für die Fragen der Gesellschaft und für den engen Dialog mit den gesellschaftlichen Akteuren; vor allem aber geht es um die Öffentlichkeit und Nutzung der Forschungsergebnisse: Veröffentlichungen, die im Sinne von „open access“ auch online zugänglich sind, aber auch die ungehinderte Zugänglichkeit der genutzten Datenbasis und empirischen Erhebungen, auf die sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen, sind das Ziel. Es ist wegen des rechtlichen Rahmens und mancher anderer Gründe nicht leicht zu erreichen. In ihrer Umsetzungsstrategie zur Digitalen Agenda plant die Bundesregierung aber „die bessere Nutzbarmachung von Forschungsdaten mit dem Ziel der Stärkung des deutschen Wissenschafts- und Innovationssystems durch eine Nationale Forschungsdateninfrastruktur“. Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist ein anderes Bemühen, das das HIIG kennzeichnet. Die vier Direktoren, aber auch die Postdocs, die anderen wissenschaftlichen Mitarbeiter und Doktoranden sowie die studentischen Hilfskräfte vertreten verschiedene Disziplinen, von der Philosophie, der Kommunikations-, Politik- und Sozialwissenschaft über die Informatik und Wirtschaftsinformatik bis zur Rechtswissenschaft. Gemeinsame, disziplinübergreifende Projekte kennzeichnen die Arbeit; ein dauernder interdisziplinärer Austausch in diversen Foren prägen den Alltag und bereichern die einzelnen Arbeiten. Die Rechtswissenschaft kann hier „aus sich heraus“, vor allem aber im Dialog mit den anderen Disziplinen, einen wertvollen Beitrag leisten; in vielen Fragen ist ihre Perspektive unerlässlich, wenn es um tragfähige Ergebnisse geht.

JuWiss: Als eines der Vorteile der Digitalisierung im Öffentlichen Recht wird die Ermöglichung und die Erweiterung der demokratischen Teilhabe genannt. Zu den Utopien der Anfangsjahre gesellen sich mittlerweile Schreckenszenarien, in denen Filterblasen die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen und social bots den politischen Meinungskampf manipulieren. Sie haben sich auch mit e-Democracy und Beteiligungsmöglichkeiten in der Internetgesellschaft beschäftigt. Inwiefern bietet die Digitalisierung eine Chance für politische Teilhabe und wo fordert sie unsere demokratischen Prozesse heraus?

Pernice: Die Digitalisierung hat die Medienlandschaft verändert; insofern ist von einem zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit die Rede. In der vernetzten Gesellschaft kann jeder Sprecher sein, und jeder ist zugleich Leser/Zuhörer. Klassische Medien verlieren ihre Macht und Privilegien im Meinungskampf, aber sie nutzen ihrerseits die digitalen Foren und gewinnen neue Aufmerksamkeit und Einfluss. Was die Bedrohung durch Filterblasen oder Echokammern betrifft, ist der Nachweis einer echten Gefahr nicht erbracht. Manipulation durch Desinformationskampagnen, social bots oder andere Mißbräuche von sozialen Netzwerken oder der von ihnen (illegal?) erlangten Daten sind eine Bedrohung der Demokratie; ebenso gefährlich sind Hassreden und Drohungen im Internet, die Ängste schüren und das politische Klima vergiften. Gegenstrategien werden entwickelt und müssen implementiert werden, damit die Vorteile der Digitalisierung für die Demokratie voll zum Tragen kommen können. Dabei darf die Freiheit der Meinungsäußerung und des Internets nicht unzulässig beschränkt und vor allem Grenze zur Zensur nicht überschritten werden.

Die Digitalisierung erlaubt eine bislang ungekannte Transparenz staatlichen Handelns, eine große Vereinfachung und größere Bürgernähe der Verwaltung und eine bislang unbekannte Möglichkeit der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am Verwaltungshandeln; sie verändert damit das Verhältnis der Bürger zum Staat. Verwaltung wird wirklich öffentliche Verwaltung, der Staat mutiert vom Herrscher zum Partner und Dienstleister. Neue Instrumente demokratischer Abstimmung auf digitaler Basis bis hin zu digitalen Wahlen sind denkbar und müssen erprobt werden. Tragende Grundsätze, wie derjenige der Öffentlichkeit der Wahlen, wie ihn das BVerfG im Wahlcomputer-Urteil entwickelt hat, sind dabei zu berücksichtigen. Mit dem Fortschritt der Technologie wie auch der digitalen Kompetenz der Bevölkerung dürften sich aber Lösungen finden, die der Sicherheit und Manipulationsresistenz der herkömmlichen Urnenwahl nicht nachstehen.

 

JuWiss: Gibt es noch etwas, was Sie der jungen Wissenschaft im Öffentlichen Recht mit Blick auf die Digitalisierung mit auf den Weg geben möchten?

Pernice: Der Vorteil der „jungen Wissenschaft im Öffentlichen Recht“ hinsichtlich der Digitalisierung liegt darin, dass sie mit der Technologie von klein auf vertraut und mit ihr zusammen aufgewachsen ist. Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, das, was die Verfassung an grundlegenden Werten und Prinzipien verbürgt, von der Achtung der Menschenwürde bis zur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie für das digitale Zeitalter zu übersetzen und damit effektiv zu gewährleisten. Wenn eine neue Anwendung oder Technologie besonders „cool“ oder auch gewinnbringend für die Entwickler, ja sogar für die Nutzer ist, muss sie doch erst auf ihre Vereinbarkeit mit diesen Werten und mit dem geltenden – oder künftigen – Recht geprüft werden. Noch besser wäre eine enge Zusammenarbeit der Entwickler und Juristen mit dem Ziel, nicht nur „privacy by design“, sondern auch „security by design“, ja sogar Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit „by design“, wie Paul Nemitz das fordert, in den Entwicklungs- und Herstellungsprozess der Technologie einfließen zu lassen.

Dabei erscheint klar, dass hier ein auf den Staat oder Europa bezogener Ansatz nicht genügt. Selbst eine transatlantische Verständigung ist längst nicht mehr ausreichend. Die Gestaltung der Digitalisierung ist eine globale Herausforderung, und gerade Juristen sind gefordert, wenn es um die Entwicklung eines Rahmens geht, der demokratisch legitime Regelungen auf globaler Ebene ermöglicht.

 

Die Fragen stellten Judith Sikora und Nico Schröter

 

Zitiervorschlag: Interview mit Ingolf Pernice im Rahmen der 60. Assistententagung Öffentliches Recht, JuWissBlog Nr. 18/2020 v. 03.03.2020, https://www.juwiss.de/18-2020/

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

 

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