von GRETA BÖCKMANN, SANDRA ISBARN und VERA MÖLLER
Am 21. Juli 2015 urteilte das Bundesverfassungsgericht zu dem schon während des Gesetzgebungsprozesses höchst umstrittenen Betreuungsgeld. Dabei stellte der 1. Senat klar, dass dem Bund keine Gesetzgebungskompetenz für die im Jahre 2013 eingeführte Geldleistung zusteht. Diese Beurteilung lag auf der Hand. Zu der drängenden verfassungsrechtlichen Frage nach der Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 6 Abs. 1 GG schwieg das Gericht weitgehend. Dies ist vor dem Hintergrund der Maßstäbe eines Normenkontrollverfahrens nachvollziehbar. Allerdings hätte es ihm durchaus zu- und auch gut zu Gesicht gestanden, sich hier klarstellend zu äußern. Denn dieser Frage wird im Hinblick auf den nun zu erwartenden partiellen Auf- und Ausbau von Landesbetreuungsgeldern früher oder später nachzugehen sein. Hier versäumte das Gericht durch seine Zurückhaltung, bereits einen Wegweiser für künftige Gesetzgebungsverfahren aufzustellen.
Im Einzelnen: Zwar ist das Betreuungsgeld dem Bereich der öffentlichen Fürsorge nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG zuzuordnen und damit Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes. Es fehlt nach Auffassung des Gerichts aber an der Erforderlichkeit der Regelung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG. Das von der Freien und Hansestadt Hamburg angestrebte Normenkontrollverfahren war damit erfolgreich. Die §§ 4a – 4d Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG), die bereits vor Inkrafttreten heftige und zunehmend unsachliche Diskussionen über ihre Zulässigkeit und Sinnhaftigkeit ausgelöst hatten, sind nichtig. Zurück bleibt, neben einer angeschlagenen CSU, eine Klarstellung über die Gesetzgebungskompetenzen im föderalen Bundesstaat.
Das Betreuungsgeld als Leistung der öffentlichen Fürsorge
Sehr knapp und prägnant bejaht das Bundesverfassungsgericht die Zuordnung der Regelungen zum Kompetenztitel der öffentlichen Fürsorge. Der Begriff in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG sei nicht eng auszulegen und setze nicht notwendig eine akute Bedarfslage voraus. Ausreichend sei eine besondere Situation potenzieller oder zumindest typisierend bezeichneter Bedürftigkeit, auf die der Gesetzgeber reagiere. Die Belastung von Familien mit Kleinkindern und der regelmäßig in dieser Altersphase besondere Aufwand erfülle – im Einklang mit der insbesondere von Bayern vorgebrachten Argumentation – diese Voraussetzungen, ohne dass geprüft werden müsse, ob Bezieher_innen im Einzelfall wirtschaftlich bedürftig seien. Der Kritik Hamburgs, die Zahlung einer Geldleistung für die Nichtinanspruchnahme bestimmter öffentlich geförderter Maßnahmen könne nicht als Regelung öffentlicher Fürsorge angesehen werden, folgt das Gericht nicht.
In keiner Hinsicht erforderlich
Mit einer dezidierten Begründung, die gleichsam für die sonstigen Regelungsgegenstände des Art. 74 Abs. 1 GG wegweisend sein dürfte, prüft es die drei Alternativen des Art. 72 Abs. 2 GG und sieht keine als erfüllt an.
Die in der Gesetzesbegründung als vermeintlich tragendes Kriterium angegebene Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verneint der 1. Senat deutlich. Sowohl dort als auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren konnte letztlich keine tragfähige Grundlage angegeben werden, inwieweit das Betreuungsgeld dazu erforderlich sei. Die Lage in den Bundesländern habe sich trotz unterschiedlicher Betreuungsquoten in öffentlichen Einrichtungen nicht in erheblicher, das Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt. Daneben führten die in den Ländern Bayern, Sachsen und Thüringen gezahlten Landeserziehungsgelder, die nicht auf das Betreuungsgeld angerechnet werden, ohnehin zu einem bundesweit uneinheitlichen Förderniveau.
Auch der vom Bund durch das Kinderförderungsgesetz (KiFöG) seit einigen Jahren vorangetriebene und finanziell geförderte Ausbau der Kindertagesbetreuung habe nicht zur Folge, dass mit dem Betreuungsgeld eine Alternative zur Verfügung stehen müsse. Die stärkere Förderung der Kleinkindertagesbetreuung durch Dritte im Gegensatz zur häuslichen Betreuung sei kein spezifisch föderaler Nachteil. Gerade ein solcher sei allerdings notwendig, um die Erforderlichkeit zu begründen, andere soziale Ungleichheiten dagegen unbeachtlich. Gleichfalls bezwecke die Geldleistung nicht, etwaige Engpässe bei der Verfügbarkeit öffentlicher Betreuungsplätze zu beheben oder alternativ eine private Betreuung zu finanzieren, zumal die Frage, ob kein Betreuungsplatz zur Verfügung stehe, nicht Tatbestandsvoraussetzung sei. Die Bundesregierung selbst verneint diesen Anspruch und betont in ihrer Gesetzesbegründung die Anerkennungsfunktion der Leistung. Weitere vorgebrachte Argumente, das Betreuungsgeld schaffe echte Wahlfreiheit bei Eltern oder solle dafür sorgen, dass diese einen Betreuungsbedarf nicht geltend machen, verwirft das Gericht.
Im Gegensatz zu den Maßnahmen des KiFöG zum Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen oder beispielsweise dem Elterngeld könne das Betreuungsgeld ebenso wenig als erforderlich zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit angesehen werden. Diese sonstigen Alternativen des Art. 72 Abs. 2 GG habe allerdings bereits der Gesetzgeber nicht angenommen. Es diene nicht gleichbedeutend mit dem KiFöG dazu, einheitliche Basisnormen zu schaffen, so dass Eltern im gesamten Bundesgebiet gleiche Voraussetzungen für eine qualitätsorientierte Kinderbetreuung vorfinden und damit am Arbeitsleben flexibel teilnehmen könnten. Auch das Elterngeld habe starke, mit dem Betreuungsgeld nicht vergleichbare Arbeitsmarkteffekte.
Wo ein politischer Verknüpfungswillen für ein Gesamtkonzept ist, entsteht nicht immer eine zwingende Unteilbarkeit
Das in der Verhandlung so eingehend diskutierte Vorliegen eines Gesamtkonzeptes verwirft das Bundesverfassungsgericht mit klaren Worten. Sowohl eine gewisse inhaltliche und konzeptionelle Verbindung als auch ein politischer Verknüpfungswillen oder die Zweckmäßigkeit einer gemeinsamen Regelung reichten nicht aus, um eine Unteilbarkeit der Maßnahmen des KiFöG mit dem Betreuungsgeld herzustellen und damit die Gesetzgebungskompetenz zu begründen. Jede Fürsorgeleistung müsse für sich genommen den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen. Anderes gelte nur bei einer objektiven Untrennbarkeit dergestalt, dass die Leistungen sachlich unteilbar seien und andernfalls ihre Tragfähigkeit oder Verfassungsmäßigkeit verlören. Das Fehlen des Betreuungsgeldes ändere aber nichts an der Tragfähigkeit der Regelungen des KiFöG.
Kein unbegrenzter Einschätzungsspielraum
Zuletzt belegt das Gericht anhand der Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG die eigene Prüfungskompetenz. Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich tatsächlicher Entwicklungen bei der Konzeption und Ausgestaltung von Gesetzen bedeute keine Freistellung von verfassungsrechtlicher Kontrolle. Im Gegenteil bezweckten die Reformen der Norm in den letzten zwei Jahrzehnten – hin zu einer Erforderlichkeitsklausel –, dass die vormalige Bedürfnisklausel im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung in ihren Anforderungen konzentriert, verschärft und präzisiert werden sollte, um die Justiziabilität zu verbessern.
Einem in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argument der Bayerischen Staatsregierung für einen Einschätzungsspielraum des Bundesgesetzgebers, dass das Betreuungsgeld „lediglich“ eine Geldleistung sei, die den Kompetenzbereich der Länder nicht spezifisch beeinträchtige, folgt das Bundesverfassungsgericht nicht. Erstens sei nicht ersichtlich, dass staatliche Geldleistungen die Gesetzgebungskompetenz der Länder weniger berührten. Und zweitens ließen die bislang gewonnenen Erkenntnisse doch den Schluss zu, dass die Leistung die Gestaltungsmöglichkeiten für die Erziehung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren berührten und entsprechende Landeskonzepte in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigten. Darauf hatte insbesondere der Hamburger Senator Detlef Scheele in der mündlichen Verhandlung hingewiesen.
(Nur) kurze Erwägungen zu den Grundrechten
Die juristisch und gesellschaftspolitisch dringendere Frage, ob das Betreuungsgeld gegen Grundrechte verstößt, weil es möglicherweise Fehlanreize für bestimmte Familiengruppen setzt oder unzulässig bestimmte geschlechtsspezifische Rollenbilder fördert, hatte das Bundesverfassungsgericht nach seiner Verneinung der Bundesgesetzgebungskompetenz nicht zu entscheiden und lässt die entsprechenden Fragen der Antragstellerin Hamburg bewusst offen. Dennoch finden sich inzident in der Prüfung der Gesetzgebungskompetenz kurze Erwägungen zu grundrechtlichen Fragen in den Entscheidungsgründen.
So fragt sich der Senat, ob Art. 6 Abs. 1 GG in seiner schutzrechtlichen Dimension dazu führe, dass die Gewährung der Geldleistung doch zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erforderlich sein könnte, verneint dies aber mit der Begründung, ein konkreter Anspruch auf bestimmte Leistungen lasse sich aus diesem Gebot nicht herleiten. Auch Gleichheitsgründe führten zu keiner anderen Beurteilung, stehe das Angebot der öffentlich geförderten Kinderbetreuung doch allen Eltern offen und ein Verzicht darauf erfolge freiwillig, ohne dass es dafür einer verfassungsrechtlichen Kompensation bedürfe.
Keine Übergangsregelungen
Das Anordnen einer Übergangsregelung hält der Senat – wohl angesichts der übersichtlichen Bezugsdauer von höchstens 22 Monaten – nicht für notwendig. Vielmehr soll etwaigen Erfordernissen des Vertrauensschutzes durch das geltende Recht Rechnung getragen werden. Damit gilt nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die aufgrund der nichtigen Normen des BEEG ergangen sind, unberührt bleiben. Eine bestandskräftige Bewilligung des Betreuungsgelds kann damit nur unter den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X zurückgenommen werden, sofern die zuständigen Behörden dies tatsächlich anstreben sollten.
Weitgehend Erleichterung, die bayerische CSU zeigt sich bockig
Nach der Entscheidung sind die Ansichten weiterhin geteilt. Innerhalb der meisten Parteien herrscht offensichtlich Freude und Erleichterung, die ungeliebte politische Altlast los zu sein. Man hofft, dass die „Betreuungsgeldmilliarde“ nun mit in den Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen fließen kann. Erinnert sei an den Wochen andauernden Streik des Kita-Personals in eben jenen öffentlichen Einrichtungen, um eine bessere Bezahlung und Anerkennung für seine Arbeit zu erreichen. Dort wäre das Geld tatsächlich sinnvoll angelegt. Die CSU dagegen möchte an der Leistung festhalten, jedenfalls in Bayern und gern auch weiterhin aus Bundesgeldern. Die Bundesregierung hat dem bereits eine Absage erteilt, so dass das Betreuungsgeld auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein politischer Streitpunkt bleibt. Möglicherweise hätten einige klarstellende Ausführungen zu den grundrechtlichen Anforderungen die Diskussionen verkürzt oder entschärft.
Dieser Beitrag setzt den im April auf dem JuWissBlog erschienen Beitrag „Bundesgesetzgebungskompetenz qua Gesamtkonzept?“ fort.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Liebe Autorinnen
Wenn ich das lese, frage ich mich wirklich, was schief läuft in diesem Land: „Die juristisch und gesellschaftspolitisch dringendere Frage, ob das Betreuungsgeld gegen Grundrechte verstößt, weil es möglicherweise Fehlanreize für bestimmte Familiengruppen setzt oder unzulässig bestimmte geschlechtsspezifische Rollenbilder fördert,…“
Ist das Euer Ernst? §§ 4a bis 4d BEEG sehen vor, dass „Eltern“ in der Zeit vom 15. Lebensmonat bis zum 36. Lebensmonat ihres Kindes einkommensunabhängig Betreuungsgeld beziehen können, sofern für das Kind keine Kitas in Anspruch genommen werden. Hierin eine Form von Diskriminierung erkennen zu wollen oder gar „Fehlanreize“ zu unterstellen ist grotesk. Dass Eltern ihre Kinder zu Hause erziehen ist der Regelfall und ihr naturgegebenes von Art. 6 GG geschütztes Recht. Der Staat nimmt seinen staatlichen Auftrag zum Schutz der Familie wahr, wenn er Eltern darin finanziell unterstützt.
Der vernunftbegabte Mensch vermag weder in einer Schwangerschaft, noch in der Geburt, noch in der anschließenden Stillzeit, sowie der Pflege und Erziehung der eigenen Kinder eine verwerfliche Manifestierung irgendwelcher Rollenbilder erkennen, sondern schlicht und ergreifend naturgegebene Aufgabenwahrnehmung.
Und mal ganz im Ernst: Welche Frau gibt ernsthaft (v.a. in Zeiten von Mindestlohn) ihren Beruf für lapidare 100 € bzw. 150 € pro Monat auf? Das ist weniger, als was Müttern nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zusteht! Hier von „Anreizen“ zu sprechen, ist einfach nur noch ideologische Verblendung.
Dass das Gesetz formal für beide Elternteile gilt, schließt eine Diskriminierung nicht aus. Denn auch faktisch unterschiedliche Wirkungen eines solchen Gesetzes können eine (mittelbare) Diskriminierung darstellen. Und die ganz überwiegende Mehrheit der Menschen, die das Betreuungsgeld in Anspruch nimmt, sind nun einmal Frauen.
Schwangerschaft, Geburt und Stillen sind biologisch bei der Mutter verortet, ja… Aber auch die Pflege und Erziehung, die beide Partner gleichermaßen wahrnehmen könnten, werden immer noch mehrheitlich von Frauen wahrgenommen. Das entspricht durchaus dem traditionellen Rollenbild der Mutter und Hausfrau.
Und die Verfestigung genau solcher überkommener Rollenbilder durch staatliche Maßnahme wertet das BVerfG schon seit Langem als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 2 GG. Vgl. nur die Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot für Frauen von 1992: „Überkommene Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für Frauen führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden.“
Offen ist nur, ob das Betreuungsgeld tatsächlich ursächlich für das Fernbleiben vom Arbeitsmarkt ist. Vielleicht ist bei vielen Paaren das oftmals höhere Gehalt des männlichen Parts ausschlaggebend. Womit wir bei einem anderen Gleichstellungsthema wären! 🙂