von TATJANA VIŠAK
Jedes Jahr werden weltweit mehr als 65 Milliarden Landtiere für den menschlichen Verzehr getötet; dazu kommen noch mehr Fische und Meerstiere. Auch die Milch- und Eierproduktion geht mit dem Töten von Tieren einher. So werden die männlichen Küken der Legehennen direkt geschreddert oder vergast, weil sie keine Eier legen und sich für die Fleischproduktion nicht so gut eignen. Da es sich bei der Ernährung mit tierlichen Produkten nicht um eine Notwendigkeit handelt, sondern vielmehr Gewohnheit und geschmackliche Vorzüge eine Rolle spielen, und da den betroffenen Tieren im Allgemeinen ein moralischer Stellenwert zugesprochen wird, drängt sich folgende Frage auf: Ist das Töten von Tieren für diese Zwecke gerechtfertigt? Um diese Frage zu beantworten, muessen wir aus tierethischer Perspektive wissen: schadet der Tod dem Tier?
Was macht mein Leben gut für mich?
Beim Bestimmen des Übels des Todes geht es darum, Leben unterschiedlicher Länge im Hinblick auf Lebenszeit-Wohlergehen zu vergleichen. Ob ein längeres Leben besser gewesen wäre, hängt also davon ab, ob es dem Individuum mehr Lebenszeit-Wohlergehen gebracht hätte. Wohlergehenstheorien gehen in der Regel davon aus, dass das Wohlergehen zu jedem Zeitpunkt entweder positiv, negativ oder neutral ist und dass sich das Lebenszeit-Wohlergehen additiv aus den Niveaus des Wohlergehens zu den einzelnen Zeitpunkten zusammensetzt. Was genau das Leben eines Individuums zu einem bestimmten Zeitpunkt gut oder schlecht für dieses macht, ist umstritten. Dem Hedonismus zufolge ist mein Leben besser für mich, je mehr angenehme Erfahrungen und je weniger unangenehme ich habe. Gemäß der Wunscherfüllungstheorie geht es dem Individuum besser, je mehr die eigenen Wünsche befriedigt sind und je weniger davon unerfüllt (d.h. frustriert) sind. Anderen Theorien zufolge geht es beim Wohlergehen darum, bestimmte objektive Güter, wie Erfolg, Freundschaft und Gesundheit, zu realisieren.
Vereitelt der Tod die Erfüllung meiner Wünsche?
Schadet es nun einem Küken, direkt nach dem Schlüpfen geschreddert zu werden und, wenn ja, warum? Anhänger der Frustrationstheorie meinen, der Tod schade dem Individuum genau dann, wenn er das Erfüllen von Wünschen frustriere. Der Tod des Kükens wäre demnach schlecht, wenn das Küken Wünsche hätte, deren Erfüllung der Tod verhindere, z.B. den Wunsch, weiter zu leben oder den Wunsch, morgen Körner zu fressen. Wohlergehen wird demnach mit dem Befriedigen von Wünschen gleich gesetzt, und wenn bereits bestehende Wünsche unerfüllt bleiben, gilt das als schlecht für das Individuum. Da Küken aber vermutlich keine oder nur wenige und schwache auf die Zukunft gerichtete Wünsche haben, schadet der Tod dem Küken dieser Theorie zufolge nicht oder kaum, da er eben wenige oder keine Wünsche frustriert. Diese Theorie impliziert aus den gleichen Gründen, dass der Tod einem menschlichen Embryo oder Baby nicht oder kaum schadet. Der Tod wäre demnach für die meisten nicht-menschlichen Tiere und für menschliche Embryonen und Babys weniger schlecht als für normale menschliche Erwachsene und vielleicht sogar überhaupt nicht schlecht.
Der Frustrationstheorie liegt die Intuition zugrunde, dass der Tod von normalen menschlichen Erwachsenen schlechter für diejenigen ist, deren Leben er beendet, als der Tod von nicht-menschlichen Tieren oder auch von menschlichen Babys. Kritiker stimmen zu, dass der Tod von Erwachsenen in der Regel schlechter für Andere ist, weil Erwachsene in der Regel schon mehr in das Leben Anderer integriert sind, und dass deren Sterbensprozess, wegen dem Wissen um den nahenden Tod, leidvoller sein kann. Diese Überlegungen, so die Kritiker, sollen aber bei der Bestimmung des Übels des Todes für das betreffende Individuum außen vor gelassen werden, da es weder um den Sterbensprozess als solchen gehe noch um die Frage, wie Andere vom Tod eines Individuums getroffen sind.
Alle Anhänger der Frustrationstheorie akzeptieren wohl die Wunscherfüllungstheorie im Hinblick auf Wohlergehen; aber umgekehrt gilt nicht, dass alle Anhänger der Wunscherfüllungstheorie die Frustrationstheorie akzeptieren. Auch wenn man davon ausgeht, dass frustrierte Wünsche schlecht und erfüllte Wunsche gut für ein Individuum sind, braucht man nicht nur die vor dem Tod existierenden Wünsche zu berücksichtigen. Man kann auch Wünsche und deren Erfüllung berücksichtigen, die das Individuum noch gehabt hätte, wenn es nicht zum betreffenden Zeitpunkt gestorben wäre. Das bringt uns zur Vorenthaltungstheorie.
Nimmt der Tod mir eine gute Zukunft weg?
Die Vorenthaltungstheorie besagt, dass das Übel des Todes nicht durch das Frustrieren von Wünschen, sondern durch das Vereiteln von Wert (d.h. Wohlergehen) bestimmt werde. Diesem Kriterium zufolge sei der Tod genau dann schlecht für ein Küken, wenn ihm dadurch Wohlergehen vorenthalten bleibe, welches es noch erfahren hätte, wenn es nicht zu besagtem Zeitpunkt gestorben wäre. Wenn das Küken also noch ein langes Leben mit positivem Wohlergehen gehabt hätte, dann schade der Tod zum Zeitpunkt Z dem Küken. Dies gelte ganz unabhängig davon, ob das Küken zum Zeitpunkt Z irgendwelche auf die Zukunft gerichteten Wünsche habe. Dieser Theorie zufolge ist der Tod eines Individuums in der Regel schlechter, je früher er eintritt, was manche plausibel, andere aber gegenintuitiv finden. Wenn dahingegen das zukünftige Leben des Kükens nach dem Zeitpunkt Z schlecht gewesen wäre, dann wäre der Tod zum Zeitpunkt Z für das Küken gut. Schlecht für das Küken wäre dann allerdings, dass wir solche Umstände in denen positives Wohlergehen unmöglich ist, überhaupt erst schaffen.
In welchem Sinne „meine“ Zukunft?
Hierbei muss auf eine Komplikation hingewiesen werden. Manche Autoren argumentieren, dass das zukünftige Wohlergehen, welches ein Küken noch erfahren wird, wenn es nicht zum Zeitpunkt Z stirbt, dem Küken nur dann zugute komme, wenn eine entsprechende Verbindung bestehe zwischen dem Küken zum Zeitpunkt Z und dem Küken zum späteren Zeitpunkt Z*, an dem es das Wohlergehen erfahren würde. Ist das Küken zu beiden Zeitpunkten also im relevanten Sinne das gleiche Küken? Wenn nicht, dann wäre es ja gar nicht sein Wohlergehen im relevanten Sinne, welches der Tod dem Küken wegnehmen würde und der Verlust dürfe daher nicht voll als Verlust für das Küken angerechnet werden.
Das mag zunächst seltsam erscheinen: Warum sollte das Küken nicht über die Zeit hinweg im relevanten Sinne eine Einheit bilden? Ob es dies tut, hängt aber davon ab, was hier die relevante metaphysische Einheit ist: Ist es eine Kontinuität körperlicher, seelischer oder psychologischer Art? Je nach relevanter Verbindung weisen die zeitlichen Phasen des Kükens diese auf, oder eben nicht. So wird zum Beispiel argumentiert, dass eine Kontinuität psychologischer Art beim Küken nicht gegeben sei, da das Küken keine auf die Zukunft gerichteten Intentionen habe, die zu einem späteren Zeitpunkt erfüllt würden, und da es auch keine Erinnerungen an weit zurück liegende Erlebnisse habe. Ist die relevante Verbindung geschwächt oder fehlt sie ganz, müsse der Verlust entsprechend diskontiert werden und falle das Übel des Todes für die entsprechenden Individuen – also für menschliche Babys, Embryonen und viele nicht-menschliche Tiere – geringer aus.
Fazit
Für die Implikationen dieser Theorien zum Übel des Todes ist es relevant, welche Fähigkeiten das betreffende Tier hat. Ist das Tier überhaupt ein Subjekt von Wohlergehen? Gängigen Theorien zufolge ist dies der Fall, wenn das Tier zumindest leidensfähig ist. Es besteht Konsens, dass zumindest Saugetiere, Vögel und viele Fische leidensfähig sind. Über das „Jetzt“ hinausgehende Wünsche und Erinnerungen, welche sich beispielsweise in Zukunftsplanung und Lernfähigkeit zeigen, werden manchen Tierarten, z.B. Elefanten, Schimpansen, einigen Vogelarten und Meeressäugern, zugeschrieben. Da die Vorenthaltungstheorie meiner Meinung nach richtig ist, schade ich einem Wesen, wenn es durch mein Handeln weniger Wohlergehen hat, als es ansonsten in seinem Leben gehabt hätte.
Der Beitrag enthält Abschnitte aus Višak, T. (2017). “Dürfen wir Tiere Töten?“, in: Ach, J.S., Borchers, D. (Hrsg.), Handbuch Tierethik, Metzler Verlag.