von SASKIA STUCKI
Die jüngst ergangenen „Grundsatzurteile“ des OVG Münster (20 A 488/15 und 20 A 530/15 vom 20. Mai 2016) markieren das vorläufige – und unspektakuläre – Ende eines jahrelangen juristischen Ringens um die Rechtmäßigkeit der Tötung von Eintagsküken bzw. um ein Verbot dieser Tötungsform. Obschon das Ergebnis – Zulässigkeit der Kükentötung de lege lata (und, korrespondierend, Rechtswidrigkeit ihrer behördlich verfügten Untersagung) – aus verfassungsrechtlicher Sicht kaum erstaunt und die nun vorerst eingekehrte Rechtssicherheit bezüglich dieser umstrittenen Frage grundsätzlich begrüßenswert ist, hinterlässt die neue „Küken-Rechtsprechung“ einen schalen Nachgeschmack. Zum einen scheint eine befriedigende Lösung der „Küken-Frage“ weiterhin ausstehend, zumal diese politisch kontroverse Tötungspraxis und die durch sie hervorgerufene tierschutzrechtliche Problematik – die Spannung zum allgemeinen wie auch strafbewehrten Verbot der Tötung „ohne vernünftigen Grund“ (§ 1 S. 2 und § 17 Nr. 1 TierSchG) – unverändert fortbestehen. Zum anderen zeigt die in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck kommende Priorisierung einer reibungslos funktionierenden wirtschaftlichen Nutzbarkeit von Tieren über Belange ihres selbst basalsten Schutzes auch eindrücklich die Grenzen des gegenwärtigen rechtlichen (Nutz-)Tierschutzes auf.
Hintergrund, Verfahren und Urteile
Gegenstand des Rechtsstreits ist die in Brütereibetrieben seit Jahrzehnten gängige Praxis der Vergasung oder Zerkleinerung von (deutschlandweit jährlich 45–50 Millionen) frisch geschlüpften männlichen Küken der Legehennenrassen. Grund für die routinemäßige Tötung dieser „Eintagsküken“ ist, dass für sie im Rahmen der hochspezialisierten Hühnerzucht, in der zur Fleisch- und Eierproduktion jeweils unterschiedliche Mast– und Legezuchtlinien eingesetzt werden, kein gewinnbringender Verwendungszweck besteht, weil sie aufgrund ihres Geschlechts keine Legeleistung und zuchtbedingt eine gegenüber Masthühnern nur reduzierte Fleischleistung erbringen. Während die juristische Fachliteratur schon seit Jahren nahezu einstimmig von der Rechtswidrigkeit dieser Praxis ausgeht, wurde sie behördlicherseits bislang geduldet. Eine Klärung durch die Rechtsprechung ist erst aufgrund einer seit 2013 angestrebten Praxisänderung der nordrhein-westfälischen Behörden eingetreten.
Ausgangspunkt war ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Münster gegen einen Brütereibetreiber wegen Verstoßes gegen § 17 Nr. 1 TierSchG, das trotz Feststellung der tatbestandsmäßigen Rechtswidrigkeit wegen unvermeidbaren Verbotsirrtums eingestellt wurde. In der Folge wies das nordrhein-westfälische Umweltministerium die Kreisordnungsbehörden an, den Brütereien die bisherige Praxis der Kükentötung im Wege einer Ordnungsverfügung künftig zu untersagen. Gegen die hieraufhin erlassenen Untersagungsanordnungen klagten die Brütereibetreiber erfolgreich vor den Verwaltungsgerichten, welche die Verfügungen aufgrund Rechtswidrigkeit aufhoben (VG Minden I & II vom 30.1.2015, bestätigt durch OVG Münster I & II vom 20.5.2016; VG Arnsberg vom 2.5.2016). Weiter wurde in einem von der Staatsanwaltschaft Münster wegen mittlerweile (2016) nicht mehr anzunehmenden Verbotsirrtums erneut eingeleiteten Strafverfahren die Eröffnung eines Hauptverfahrens aus rechtlichen Gründen abgelehnt (LG Münster vom 7.3.2016, bestätigt durch OLG Hamm vom 10.5.2016).
Der Grundtenor der sich aus dieser Reihe von ähnlich gelagerten, aus den Verwaltungs- und Strafverfahren in NRW hervorgegangenen Urteilen zusammenfügenden „Küken-Rechtsprechung“ lässt sich durch folgende zwei Kernaussagen resümieren:
(1) Die Tötung von Eintagsküken ist gegenwärtig rechtmäßig: Einerseits fehlt es an der Strafbarkeit, die zum einen schon im Hinblick auf das in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltene Erfordernis der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit entfällt, zum anderen aber auch ausscheidet, weil bereits die Tatbestandsmäßigkeit i.S.v. § 17 Nr. 1 TierSchG zu verneinen ist (LG Münster, Rn. 13 ff. und 44 ff.). Andererseits fehlt es in verwaltungsrechtlicher Hinsicht an der Untersagungsmöglichkeit, entweder aus formellen Gründen, weil hierfür von vornherein keine Ermächtigungsgrundlage besteht (so VG Minden I & II, Rn. 29 ff.), oder aus Gründen der eigentlichen materiell-rechtlichen Zulässigkeit der Kükentötung (so OVG Münster I & II, Rn. 38 ff.).
(2) Für ein prospektives Verbot bedürfte es folglich einer Änderung der Rechts- oder Sachlage, d.h. in erster Linie einer neu zu schaffenden Verbotsbestimmung, solange sich jedenfalls die tatsächlichen Verhältnisse nicht dahingehend ändern, dass die Verfügbarkeit wirtschaftlich sinnvoller Alternativen den derzeit noch zu bejahenden „vernünftigen Grund“ für die Kükentötung mit Eindeutigkeit entfallen lässt und ein Verbot damit bereits nach geltender Rechtslage (§ 1 S. 2 und § 17 Nr. 1 TierSchG) greifen würde (vgl. OVG Münster I & II, Rn. 126 und 156; so auch die Ansicht der Bundesregierung). Damit haben die Gerichte einer doch unvermittelten Praxisänderung der Behörden – von der jahrelangen Duldung zum Verbot der Kükentötung bei gleichbleibender Sach- und Rechtslage – einen Riegel vorgeschoben und die Aufgabe einer rechtlichen Neubewertung dieser seit Langem üblichen wirtschaftlichen Praxis dem Gesetzgeber (der zur Zeit mit einem entsprechenden Gesetzesänderungsentwurf befasst ist) zugewiesen (LG Münster, Rn. 29 ff.; OLG Hamm, Rn. 10).
Zum „vernünftigen Grund“ für die Tötung von Eintagsküken
Dreh- und Angelpunkt des Rechtsstreits um ein Verbot ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Kükentötung selbst, von der deren Untersagungsfähigkeit maßgeblich abhängt (erst deren Rechtswidrigkeit würde die grundsätzlich taugliche Ermächtigungsgrundlage des § 16a Abs. 1 S. 1 TierSchG aktivieren) und die wiederum nach dem Vorliegen eines „vernünftigen Grundes“ i.S.v. § 1 S. 2 TierSchG zu beurteilen ist. Als zentrale materielle Rechtsfrage schält sich entsprechend jene nach dem „vernünftigen Grund“ für die Kükentötung heraus. Zur Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs ist im Einzelfall eine am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierte, umfassende Güterabwägung zwischen den betroffenen Nutzungs- und Schutzinteressen vorzunehmen, wodurch letztlich die „Ziele des ethisch begründeten Schutzes von Tieren und menschliche Interessen … miteinander in Einklang gebracht werden [sollen]“ (OVG Münster I & II, Rn. 53).
Nach der nahezu einhelligen Literaturmeinung fehlt es für die Tötung von Eintagsküken an einem „vernünftigen Grund“, weil sie ausschließlich aus ökonomischen Gründen erfolgt, die aber für sich nicht zur Ausfüllung dieses Begriffs hinreichen.
Dem entgegen steht die neue Rechtsprechung: Während sich das VG Minden (aufgrund der ohnehin fehlenden Ermächtigungsgrundlage) noch kaum mit der materiell-rechtlichen Zulässigkeit der Kükentötung befasste und das LG Münster (Rn. 44) einen „vernünftigen Grund“ (nur) in strafrechtlicher Hinsicht (i.S.v. § 17 Nr. 1 TierSchG) bejahte, hat nun zuletzt das OVG Münster einen „vernünftigen Grund“ auch i.S.d. Generalklausel des § 1 S. 2 TierSchG und damit die allgemeine Rechtmäßigkeit der Kükentötung festgestellt (Rn. 82). Hierbei waren vornehmlich wirtschaftliche Aspekte von tragender Bedeutung. So hielt das Gericht fest:
„Den für die Tötung der Küken sprechenden Gesichtspunkten kommt bei der Abwägung aller relevanten Aspekte der Vorrang vor dem Schutz der Küken zu. Auf Seiten des Tierschutzes fällt dabei besonders ins Gewicht, dass den Küken durch die Tötung unumkehrbar der größtmögliche Schaden für ihre körperliche Unversehrtheit zugefügt wird. … Dem stehen auf Seiten des Klägers vor allem wirtschaftliche Interessen gegenüber. Diese wiegen jedenfalls wegen der grundgesetzlich gewährleisteten Berufsfreiheit besonders schwer“ (OVG Münster I & II, Rn. 82).
Es führte weiter aus, dass der maßgebende Grund für die Tötung der Küken zwar durchaus ökonomischer Natur sei, „weil sie nicht das Ziel des Erzeugungsprozesses bilden und lebend keinem anderen wirtschaftlich lohnenden Zweck förderlich sind“ (Rn. 99 f.). Solchen Erwägungen der Wirtschaftlichkeit – unter Berücksichtigung der „strukturellen ökonomischen Grundbedingungen, die nach den gegebenen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen die Voraussetzung sind für eine Teilhabe am funktionierenden Wirtschaftsleben“ (Rn. 92) – sei bei der Abwägung gegen ethische Aspekte indes weder die Berechtigung abzusprechen noch von vornherein ein geringeres Gewicht beizumessen (Rn. 83 ff.). In Anbetracht der Alternativlosigkeit der Kükentötung (Rn. 127) – weder die Aufzucht der männlichen Küken noch der Einsatz eines Zweinutzungshuhns seien gegenwärtig wirtschaftlich vertretbar (Rn. 101 ff.) und auch das Verfahren zur In-Ovo-Geschlechtsbestimmung ist technisch noch nicht zur Marktreife fortgeschritten – könne dem individuellen Brütereibetreiber eine Untersagung nach Ansicht des Gerichts derzeit billigerweise nicht zugemutet werden (Rn. 113) (den „Umstand, dass es derzeit keine wirtschaftlich sinnvolle Alternative für die Tötung der Eintagsküken gibt“, stellte im Übrigen auch das LG Münster [Rn. 46] als entscheidungserheblich in die Abwägung ein).
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Verständnisfrage:
`[Weil BlaBla …] könne dem individuellen Brütereibetreiber eine Untersagung nach Ansicht des Gerichts derzeit billigerweise nicht zugemutet werden`
^ Was heißt hier „billigerweise“?
Das Gericht berücksichtigt in der Abwägung auch die beschränkten Handlungsmöglichkeiten des individuellen Brütereibetreibers, die Problematik der Tötung von Eintagsküken tatsächlich zu beheben, weil es hierzu im Prinzip eines Handelns des gesamten Produktionszweigs bedürfte und letztlich auch einer Bereitschaft der KonsumentInnen, eine Preiserhöhung beim Eierkauf hinzunehmen.
Die entscheidenden Passagen finden sich in Rn. 104 und 113 des Urteils:
„Darüber hinaus kommt es für die Abwägung zur Beurteilung des Vorliegens eines vernünftigen Grundes maßgeblich auf die individuelle Situation des Klägers an, nicht auf die Handlungsmöglichkeiten der gesamten Branche der Erzeugung und Vermarktung von Eiern sowie Geflügelfleisch. Der Kläger ist mit seiner Brüterei als Erzeuger von Küken tätig und bedient mit den Küken eine Nachfrage. Er steuert Art und Umfang dieser Nachfrage nicht und entscheidet nicht über die Vermarktung alternativer Produkte. Die Querfinanzierung der Aufzucht der männlichen Küken und ihre Vermarktung setzen ein Zusammenwirken oder ein Überwinden der einzelnen Stufen der Erzeugung der Küken bis hin zum Absatz der Eier bzw. des Fleisches an Endverbraucher voraus. Das kann der Kläger letztlich nicht entscheidend beeinflussen. Dafür, was billigerweise von ihm im Interesse des Schutzes der männlichen Küken erwartet werden kann, kommt es nicht darauf an, ob das Halten der männlichen Tiere von der gesamten Branche der Geflügelwirtschaft einschließlich des Handels rechnerisch mittels einer Umlegung der dadurch entstehenden (Mehr-)Kosten auf den Endverkaufspreis von Eiern oder Mastgeflügel finanziert werden kann, sondern darauf, welche Möglichkeiten er hat. Übernimmt er selbst die Aufzucht und Vermarktung der männlichen Küken, kommt zu dem hierfür entstehenden Aufwand zwecks Schaffung einer Querfinanzierung durch den Eierpreis noch derjenige für das Halten von Legehennen und den Absatz der Eier hinzu.“ (Rn. 104)
„Der Aufwand für das Halten der männlichen Küken ist aufgrund seiner Höhe, der mangelnden Rentabilität und der übrigen abwägungsrelevanten Umstände dem Kläger derzeit nicht zuzumuten“ (Rn. 113)