von SASKIA STUCKI
Wenngleich die zuvor in Teil I dieses Beitrags analysierten Urteile aus verfassungsrechtlicher Sicht im Ergebnis durchaus Zustimmung finden dürften, ist die vom OVG Münster zur Herleitung eines „vernünftigen Grundes“ entwickelte Argumentationslinie, in der sich letztlich die in einem Fehlen wirtschaftlich sinnvoller Alternativen begründete „wirtschaftliche Notwendigkeit“ der Kükentötung als durchgreifendes Rechtfertigungsnarrativ herauskristallisiert, aus tierschutzrechtlicher Sicht in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig.
Kritik
Wenngleich die Urteile aus verfassungsrechtlicher Sicht im Ergebnis durchaus Zustimmung finden dürften, ist die vom OVG Münster zur Herleitung eines „vernünftigen Grundes“ entwickelte Argumentationslinie, in der sich letztlich die in einem Fehlen wirtschaftlich sinnvoller Alternativen begründete „wirtschaftliche Notwendigkeit“ der Kükentötung als durchgreifendes Rechtfertigungsnarrativ herauskristallisiert, aus tierschutzrechtlicher Sicht in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig.
Zunächst lag der Entscheidung eine unzureichende, da einseitige Substantiierung der konkreten Abwägungskonstellation zugrunde: Während das Gericht im Rahmen der zur Eruierung eines „vernünftigen Grundes“ gebotenen Abwägung zwischen menschlichen Nutzungs- und tierlichen Schutzinteressen die betroffenen Tierschutzaspekte bloß kursorisch in wenigen Worten umriss (OVG Münster I & II, Rn. 82), erwog es die gegenläufigen, in erster Linie wirtschaftlichen Belange in extenso (Rn. 83–143). Dadurch dürfte das Gericht m.E. aber den besonders prekären Charakter des vorliegenden Konfliktverhältnisses nicht ausreichend gewürdigt haben: Einerseits ist auf Seiten des Tierschutzes sowohl in qualitativer (Intensität: Tötung als schwerwiegendster Eingriff; zeitliches Element: Tötung unmittelbar am ersten Lebenstag; (niederes) Tötungsmotiv: Nutzlosigkeit) wie auch in quantitativer Hinsicht (45–50 Millionen Küken/Jahr) von einer größtmöglichen Betroffenheit auszugehen. Andererseits stehen dem zwar in erster Linie „nur“ ökonomische Interessen gegenüber, die in ihrer Gesamtheit allerdings für den individuellen Brütereibetreiber ebenfalls von großem Gewicht sind. Zugleich schließen sich diese konkurrierenden, beiderseits schwerwiegenden Belange gegenseitig praktisch aus, bedeutet ein Verbot der Kükentötung doch das faktische Ende des bisherigen Brütereigeschäfts. Angesichts dieser „Entweder-oder-Situation“ wären weiterführende Überlegungen anzustellen gewesen, inwiefern Erwägungen der Wirtschaftlichkeit Tierschutzaspekte im unversöhnlichen Kollisionsfall auszuschalten vermögen.
Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Belange des Tierschutzes vom Gericht lediglich nominell, nicht aber substanziell berücksichtigt wurden. Denn es bleibt schwer ersichtlich, wie eine Produktionsweise, die von vornherein darauf angelegt ist, die Hälfte der produzierten Tiere als Abfall zu entsorgen, mit der ethischen Grundkonzeption des TierSchG sowie einem Eigenwert des Tieres (dem in diesem Fall im Grunde nicht einmal ein bloß instrumenteller Wert zukommt) vereinbar sein soll und hier insofern von einem durch das Rechtsinstrument des „vernünftigen Grundes“ herzustellenden „Kompromiss“ oder „Ausgleich“ (vgl. OVG Münster I & II, Rn. 53 und 55) die Rede sein kann. Vielmehr geht mit der Argumentation des OVG Münster eine erhebliche Aufweichung des ethischen Tierschutzes einher, der im spezifischen Kontext der als zulässig befundenen Kükentötungspraxis bis auf Weiteres – und zur Gänze – wirtschaftlichen Sachzwängen weichen muss.
An dieser Stelle setzt denn auch der zweite Kritikpunkt ein: Mit ihrer impliziten Quintessenz – Wirtschaftlichkeit geht dem Tierschutz im Zweifelsfall vor – lässt die neue „Küken-Rechtsprechung“ eine denkwürdige Abkehr von den bisher durch Rechtsprechung und Lehre entwickelten Leitsätzen zum „vernünftigen Grund“ vermuten. Hierbei ist zum einen das Widerspruchspotenzial zum „Hennen-Urteil“ des BVerfG zu bedenken: In diesem Urteil stellte das BVerfG im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens die Nichtigkeit zweier Bestimmungen der Hennenhaltungsverordnung aufgrund Unvereinbarkeit mit dem TierSchG fest. Es führte hierzu aus:
„Generell gilt, daß niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf (§ 1 Satz 2 TierSchG). Hieraus sowie aus dem in § 1 Satz 1 TierSchG niedergelegten Grundsatz des ethisch begründeten Tierschutzes folgt, daß nicht jede Erwägung der Wirtschaftlichkeit der Tierhaltung aus sich heraus ein „vernünftiger Grund“ im Sinne des § 1 Satz 2 TierSchG sein kann. Notwendig ist vielmehr … ein Ausgleich zwischen den rechtlich geschützten Interessen der Tierhalter einerseits und den Belangen des Tierschutzes andererseits. … Mit beiden Bestimmungen werden die … Belange des ethisch begründeten Tierschutzes über die Grenze eines angemessenen Ausgleichs zurückgedrängt“ (BVerfG, Urteil vom 6.7.99 – 2 BvF 3/90, Rn. 139 f.).
Zum anderen wendet sich die neue „Küken-Rechtsprechung“ auch gegen die gefestigte „rein ökonomische Gründe reichen nicht“-Doktrin, wonach „[ö]konomische Gründe allein … zur Ausfüllung des Begriffs ‚vernünftiger Grund‘ nicht geeignet [sind]“ und bei Anlegung eines ausschließlich ökonomischen Maßstabs die Grundkonzeption des Tierschutzgesetzes als eines ethisch ausgerichteten Tierschutzes ausgehebelt würde (OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.9.84 – 5 Ws 2/84, NStZ 1985 130; so auch vom VG Arnsberg [Rn. 132] vermerkt: „Eine Tötung von Tieren aus wirtschaftlichen Gründen sieht das Tierschutzgesetz indes grundsätzlich nicht als vernünftigen Grund an“). Vor diesem Hintergrund scheint es äußerst fraglich, ob wirtschaftliche Sachzwänge wirklich zum Rechtfertigungsgrund für einen derart schwerwiegenden Eingriff in den Tierschutz avancieren können bzw. – unter Berücksichtigung des „Hennen-Urteils“ – dürfen. Dies gilt umso mehr, als diese „Zwangslage“ erst durch gezielte Zuchtmaßnahmen entstanden ist und somit durch die Geflügelindustrie selbst verursacht wurde. In diese Richtung lehnte etwa das OLG Naumburg einen „vernünftigen Grund“ für die Tötung von im Zoo geborenen, für die Erhaltungszucht ungeeigneten Jungtigern ab und hielt u.a. als entscheidungserheblich fest:
„Die Tiger waren Ergebnis des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms. Ihre mischgenetische Konstitution spricht für einen Fehler im Programm selbst, wofür die Organisation und letztendlich der Mensch verantwortlich zeichnet. Es ist nicht angemessen, sich dieser Verantwortung kurzfristig durch Euthanasie der uneingeschränkt lebensfähigen, gesunden und zunächst in ihrer Existenz gesicherten ‚Produkte‘ zu entledigen“ (OLG Naumburg, Beschluss vom 28.6.11 – 2 Ss 82/11, Rn. 16).
Zuletzt ist die Argumentation des OVG Münster auch deshalb zweifelhaft, weil sie die Grenzen zwischen Faktizität und Normativität zu verwischen und damit die normativ-gestaltende Funktion des Tierschutzrechts zu verkennen droht. Dass das Gericht (vgl. OVG Münster I & II, Rn. 156) und die Bundesregierung das TierSchG erst dann dazu befähigt sehen, eine von breiten Kreisen als rechtlich und moralisch fragwürdig angesehene, wirtschaftlich indes etablierte Tötungspraxis zu verbieten, wenn sie faktisch ohnehin obsolet wird (nämlich dann, wenn marktfähige Alternativen vorhanden sind), ist m.E. jedenfalls als schwaches Zeugnis für die Wirkmöglichkeiten des rechtlichen Tierschutzes zu lesen. Der vorliegende Anwendungsfall zeugt damit in exemplarischer Weise von einer das Tierschutzrecht im Allgemeinen kennzeichnenden Schwierigkeit, tierschutzwidrige Zustände gerade auch gegen eingefleischte wirtschaftliche Interessen einzudämmen und der zweckrationalen Nutzung von Tieren so – der gesetzlich angedachten Funktion entsprechend – normative Grenzen zu setzen (zu dieser grundlegenderen Problemdimension ausführlich an anderer Stelle).